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Zu seinen diagnostischen Erwägungen über die Ursache des Todes im Wasser gehörte auch die Prüfung eines charakteristischen Geruchs an der Leiche, beispielsweise nach Alkohol. Nachdem er an Mund- und Nasenöffnung geschnuppert hatte, wiederholte er diese Prozedur, wobei er kräftig auf den Brustkorb drückte – doch auch dabei war nichts Auffälliges zu riechen. Es traten jedoch kleine weißliche Schaumblasen aus Mund und Nase heraus, die Prof. Schwarz als »Schaumpilz vorhanden« zusammenfasste. Bei seiner abschließenden Inspektion von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen fand er doch noch eine Besonderheit: zirkuläre Hautrötungen oberhalb der Fußknöchel. Sie waren drei bis fünf Zentimeter breit, unscharf begrenzt und von annähernd gleichmäßiger Farbintensität. Bei Lupenbetrachtung waren auch feine Hautabschürfungen zu erkennen, die kopf- wie fußwärts mehrere Zentimeter über die Rötungen hinausreichten.
Schwarz richtete sich auf, um den Kommissaren seine erste Einschätzung vorzutragen. »Wo ist denn Ihr großer Chef?«, fragte er die Marotzke. Doch da erblickte er Granow schon, wie der über den kleinen Strandabschnitt geeilt kam.
Die beiden begrüßten sich herzlich. »Grüß dich, alter Mordermittler!«, rief Schwarz. »Grüß dich, alter Leichenzerteiler!«, rief Granow zurück. Der Rechtsmediziner und der Kommissar waren etwa derselbe Jahrgang. Sie hatten sich trotz unterschiedlicher Biographie schnell verstanden, wozu sicherlich ihre preußische Pflichtauffassung, gepaart mit Berliner Direktheit und einem Hang zu schwarzem Humor, beigetragen hatte.
»Schön, dass du gleich gekommen bist! Jetzt muss ich nicht doppelt predigen«, meinte Schwarz. »Also, eines ist schon jetzt klar: Der Mann ist ertrunken. Der Tod dürfte unter Berücksichtigung einer Wassertemperatur von etwa 20 Grad und der Lufttemperatur von ungefähr 25 Grad vor etwa vier Stunden eingetreten sein.«
»Das deckt sich mit den Angaben unseres Ohrenzeugen Reinhalter«, sagte Granow.
»Prima«, stellte Schwarz fest, »dann bleibt nur noch die Kleinigkeit zu klären, warum dieser offenbar kräftige und sportliche Mann ertrunken ist. Ich sehe da Befunde an den Unterschenkeln, die mir gar nicht gefallen. Der Mann wird doch nicht gefesselt gewesen sein? Oder wurde bei der Bergung ein Seil um die Füße geschlungen? Die Hautrötungen imponieren allerdings durchaus als vital, also zu Lebzeiten beigebracht.«
»Den Ablauf der Bergung werden wir nochmals prüfen«, meinte Granow. »Aber was machen wir mit Reinhalter und dem angeblichen Hilferuf des Opfers? Wir sind uns doch einig, dass wir mit der Obduktion nicht warten sollten.« Als Schwarz dazu nickte, fuhr Granow fort: »Ich kläre das gleich mit der Staatsanwältin. Wann wollen wir uns treffen?«
Schwarz packte seinen Einsatzkoffer zusammen. »Ich rufe unseren Leichenwagen und alarmiere das Obduktionsteam. Wir sehen uns um 21 Uhr im Sektionssaal!«
Frisch gestärkt durch einen schnellen Imbiss an einer Currywurstbude erreichte Prof. Schwarz das Rechtsmedizinische Institut gegen 20.45 Uhr. Der Sektionsassistent Peter Schulz hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, und Frau Dr. Schöneberg stand bereits eingekleidet im Sektionssaal. Mit einer kurzen Begrüßung eröffnete der Professor seine Spätschicht. Die Assistentin legte die Schnitte, der Sektionsassistent half dabei, und Schwarz diktierte akribisch alle Befunde. Wie jedes Sektionsprotokoll bestand auch dieses aus den Abschnitten »A. Äußere Besichtigung«, »B. Innere Besichtigung« und »C. Vorläufiges Gutachten«.
Gegen 22.30 Uhr – Prof. Schwarz diktierte gerade den Zustand der Bauchorgane – trafen die Kommissare Granow und Marotzke ein.
»Ich soll dir einen schönen Gruß von der Staatsanwältin bestellen«, richtete Granow aus. »Sie wird nicht kommen. Ich soll ihr stattdessen das Wesentliche telefonisch übermitteln.«
»Das soll mir recht sein. Kommt näher, ihr habt auch noch nicht viel versäumt«, erwiderte Schwarz.
Kurz nach 23 Uhr war die Sektion beendet, und Prof. Schwarz begann mit dem Diktat des »Vorläufigen Gutachtens«. Zuvor rief er den Kriminalisten zu: »Achtung, ihr könnt jetzt gleich das zusammenfassende Resultat unserer Bemühungen hören!«
I. Sektionsergebnis Leichnam eines unbekannten, ca. 50 Jahre alten, 182 cm großen und 83 kg schweren Mannes. Zeichen des Ertrinkens: hochgradige Überblähung des Lungengewebes (Emphysema aquosum). Schaumige Flüssigkeit in Mund, Nase und Luftröhre. Ertrinkungsflüssigkeit in der Keilbeinhöhle. Dreischichtung des wässrigen Mageninhalts (Wydler’sches Zeichen). Zeichen des Aufenthalts im Wasser: beginnende Waschhautbildung an Finger- und Zehenspitzen. Näher beschriebene zirkuläre Hautrötungen und -abschürfungen beider Unterschenkel, jeweils kräftig unterblutet. Hinweise zur Identifizierung: Zustand nach länger zurückliegender operativer Blinddarmentfernung (Appendektomie). Lückenhaftes Gebiss mit einzelnen Metallkronen (siehe Schema Zahnstatus). Buntgestreifte Badehose der Marke Aquos (siehe Fotomappe). Leichte allgemeine Arteriosklerose mit teils mittelgradiger Sklerose der Herzkranz- und Hirngrundschlagadern. Leichte Leberverfettung.
II. Todesursache: Ertrinken.
III. Ergebnis der Alkoholbestimmung aus Schenkelvenenblut und Urin nach zwei Methoden: Venenblut 0,0 mg/g Ethanol, Urin 0,0 mg/g Ethanol.
IV. Als Todesursache ist eindeutig Ertrinken festzustellen. Eine alkoholische Beeinflussung zum Zeitpunkt des Todes konnte ausgeschlossen werden. Es fanden sich keine wesentlichen vorbestehenden krankhaften Veränderungen, die unmittelbar mit dem Todeseintritt in Zusammenhang stehen könnten. Die näher beschriebenen Hautabschürfungen und -unterblutungen an den Unterschenkeln sind durch eine grobe komprimierende Gewalt zu Lebzeiten entstanden. Zur Verursachung erscheinen sowohl feste Griffe als auch eine Fesselung mit relativ glattem Material geeignet.
V. Die Obduzenten behalten sich ein endgültiges Gutachten ausdrücklich vor.
VI. Prof. Dr. med. Robert Schwarz, Dr. med. Lisa Schöneberg
»Morgen bekommt ihr unser Gutachten schriftlich«, versprach Schwarz. »Aber lasst mich noch etwas hinzufügen: Ich glaube nicht, dass ein Tier den Mann in die Tiefe gerissen hat. Den Angriff eines großen Wels, der sein Revier verteidigt, kann man zwar in unseren Gewässern nicht grundsätzlich ausschließen, aber das würde anders aussehen.«
»Ich bin der Überzeugung, dass hier am ehesten Menschenhand im Spiel war – und das meine ich wörtlich«, entgegnete Kommissar Granow. »Es sieht ja fast so aus, als hätte ihn jemand gepackt und unter Wasser gezogen.«
»Die Hautabschürfungen und vor allem die kräftigen Weichteilunterblutungen oberhalb der Fußknöchel sprechen für einen heftigen Todeskampf«, pflichtete ihm Schwarz bei.
»Das muss fürchterlich gewesen sein«, sagte Theresa Marotzke. »Vielleicht treibt hier ja tatsächlich ein irrer Kampfschwimmer oder Taucher sein Unwesen.«
***
Mit den Erkenntnissen, die das detaillierte Gutachten von Prof. Schwarz geliefert hatte, schwärmten Granow und seine Leute am nächsten Tag aus, um den Täter zu finden. »Nach Lage der Dinge kann es nur ein Taucher gewesen sein, der die Schwimmerinnen und Schwimmer in die Tiefe gerissen hat«, erklärte Granow den angerückten Polizeireportern. »Kann es nicht auch ein Einmann-U-Boot gewesen sein?«, fragte Charly Packebusch, einer der Journalisten und ein stadtbekannter Scherzbold zudem, und verwies darauf, dass in Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkrieges über dreihundert solcher Kleinst-U-Boote gebaut worden waren. »Vielleicht hat jemand so ’n Ding über all die Jahre heimlich aufbewahrt und versetzt jetzt die Schwimmer damit in Angst und Schrecken.« »Ein Einmann-U-Boot ist wohl eher unwahrscheinlich«, sagte Granow, als das Gelächter verklungen war. »Aber ein ehemaliger Kampfschwimmer ist durchaus nicht auszuschließen. Der Spur werden wir auf alle Fälle nachgehen.« Theresa Marotzke erzählte, dass die DDR-Volksmarine ein Kampfschwimmerkommando unterhalten hatte. Ein Freund ihrer Eltern hatte als ganz normaler Berufstaucher angefangen und war dort gelandet. »Da passt ja alles«, kam es aus den hinteren Reihen der Presseleute. »Das letzte Opfer war ja auch ein typischer imperialistischer Klassenfeind.« Der Mann, den es in der Nähe der Landzunge 44 erwischt hatte, war der 67-jährige Journalist Herbert Heidereuter, der beim RIAS gearbeitet und unaufhörlich über die Missstände in der DDR berichtet hatte.
»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Granow. »Aber die ungewöhnliche Mordmethode spricht eher dafür, dass es sich bei Heidereuter um ein reines Zufallsopfer handelt.«
»Das ist am wahrscheinlichsten, wenn es stimmen sollte, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben«, fügte Theresa Marotzke hinzu.
In der Tat gab es in den Biographien der fünf im Umkreis von Schmöckwitz ertrunkenen Menschen keinerlei Parallelen. Leider waren die Toten alle eingeäschert worden, so dass sich keine Obduktion mehr vornehmen ließ und nicht auszuschließen war, dass es sich doch um Unfälle gehandelt hatte.
»Ein irrer Taucher schwimmt also los und sucht sich wahllos ein Opfer aus.« Granow – und bald auch die ganze Mordkommission – war sich da sicher. »Was benötigt ein Taucher eigentlich?«, fragte Granow in die Runde.
»Außer Anzug, Maske, Sauerstoffflasche, Flossen und Bleigürtel braucht er vor allem eine Basis«, erwiderte Theresa Marotzke schnell. »Kein Taucher ohne Basis.«
Sofort war einer der Kollegen am Computer. »Mist, die nächstgelegene Tauchschule haben wir in Karlshorst. Rings um Schmöckwitz gibt es nichts.«
»Dann müssen wir unseren Suchradius eben erweitern«, sagte Granow bestimmt und verteilte die Aufgaben. »Es gilt jetzt, bei allen Tauchschulen, Tauchsportvereinen und allen Geschäften für Taucherbedarf nachzufragen und zu sehen, ob sich ein Anhaltspunkt ergibt. Auf zu den Dive-Centern! Theresa und ich besorgen uns ein Motorboot und befragen alle, die wir an den Ufern von Großer Krampe, Langem und Seddinsee antreffen.«
»Und an den Einsatz von Lockvögeln … ich meine, an Lockschwimmern ist nicht gedacht?«, fragte einer.
»Doch, ich stoße Theresa ins Wasser und rase dann davon«, scherzte Granow.
»Wehe!«, rief Theresa Marotzke.
Granow und Theresa Marotzke machten sich nun mit professionellem Können und höchstem Eifer an die Arbeit, schipperten über die besagten Gewässer und befragten alle Uferbewohner, Camper und Badegäste – doch zwei Tage lang blieben sie ohne Erfolg.
»Buchen wir die zwei Tage als außerordentlichen Urlaub ab«, sagte Granow schließlich.
»Wenn de recht hast, haste recht. Is ja ooch ’ne herrliche Jegend hier!«
Granow war schon dabei, einen Schlussstrich unter ihre Ermittlungen zu ziehen, da sahen sie, dass drüben am westlichen Ufer der Großen Krampe jemand am Ufer stand und ihnen zuwinkte. Es war einer der Männer, die in der kleinen Bucht hinter Krampenburg auf einem Hausboot lebten. Er sah aus wie einer der Autonomen, die bei den Kreuzberger Festspielen am 1. Mai immer Brandsätze auf ihre Kollegen warfen, und konnte sich daher grundsätzlich keiner großen Sympathie bei ihnen erfreuen.
»Sie sind doch sicher von der Kripo und ermitteln in diesem mysteriösen Badeunfall?«
»Warum fragen Sie?«
Der Mann beugte sich verschwörerisch zu ihnen hinunter. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass hier auf dem Hausboot nebenan ein Assistent der Humboldt-Uni wohnt, und der scheint mir nicht ganz sauber zu ticken. Manchmal sehe ich ihn nachts seine Taucherausrüstung anziehen und stundenlang tauchen gehen. Und tagsüber sitzt er oft grimmig am Ufer und starrt die Leute, die hier baden gehen, äußerst merkwürdig an. Sein Name ist Arnulf Affinghausen. Aber ich will nichts gesagt haben …«
Granow bedankte sich für diese Auskunft. Die beiden Kommissare maßen dem Ganzen keine besondere Bedeutung bei.
»Das wird ein Student gewesen sein, der sich für eine schlechte Note rächen will«, befand Theresa Marotzke.
»Das würde ich auch sagen«, stimmte Granow zu.
Aber sicher war sicher, sie mussten allen möglichen Spuren nachgehen, bevor es ein nächstes Opfer gab. Als sie wieder im Büro waren, setzte sich Granow an den Computer. Und da das, was die Kolleginnen und Kollegen im Falle des ertrunkenen Ex-RIAS-Journalisten Herbert Heidereuter zusammengetragen hatten, auch auf seiner Festplatte zu finden war, rief Granow den betreffenden Ordner auf und ließ das Programm nach Arnulf Affinghausen suchen. Plötzlich schrie er auf. »Mensch, das gibt’s doch nicht!«
Theresa Marotzke erschrak und schnellte von ihrem Bürosessel hoch. »Was ist denn?«
»Der gute Affinghausen hat sich in Karlshorst eine Taucherausrüstung gekauft – und er lebt tatsächlich auf einem Hausboot, das in Krampenburg vor Anker liegt …«
»Mit seinem Jagdrevier sozusagen direkt von dem Fenster«, ergänzte Theresa Marotzke.
»Und nun?« Granow war unentschlossen.
Seine junge Kollegin ergriff die Initiative. »Wir verschaffen uns einen Durchsuchungsbefehl und sehen, ob wir was finden. Aufzeichnungen oder so …«
»Und wenn nicht? Ohne etwas Handfestes gegen ihn wird er kein Geständnis ablegen. Und wir stehen dann als Idioten da.«
»Wenn wir bei ihm auftauchen, kommt das einem Warnschuss gleich. Er würde sich sicherlich hüten, wieder zuzuschlagen.«
»Weiß man’s, ob nicht doch dunkle Triebkräfte im Spiele sind?« Granow überlegte. »Mir wäre schon lieber, wir sorgen dafür, dass dieser Mann, der sich wahllos irgendwelche Opfer aussucht, im Knast oder meinetwegen in der Psychiatrie landet – jedenfalls sicher verwahrt. Doch dafür brauchen wir sein Geständnis. Oder aber wir müssen ihn auf frischer Tat ertappen.«
Theresa Marotzke hatte eine Idee. »Wir besorgen uns Kampfschwimmer der Bundeswehr und setzen sie als Lockvögel ein.«
So exotisch dieser Vorschlag anfangs auch schien, die Vorgesetzten stimmten schließlich zu. Die Aktion endete jedoch ohne Erfolg. Keiner der eingesetzten Männer wurde angegriffen, so dass man sich am Ende der Badesaison doch entschloss, Affinghausens Hausboot zu durchsuchen.
Mit der Staatsanwältin Dr. Monique Müller-Linthe an der Spitze und einem Durchsuchungsbefehl in der Tasche rückte man in Krampenburg an. Affinghausen war nicht auf seinem Hausboot, aber die Türen ließen sich leicht öffnen. Und die Kommissare hatten Glück! Sie fanden nicht nur eine komplette Taucherausrüstung, sondern auch Affinghausens Tagebuch. Das enthielt wirre Sätze und Zeichnungen, die alles bewiesen. Unter anderem war zu lesen:
Im Brunnen sitzt der Hakenmann. Was macht er in dem Wasser drin? Er lauert mit der Hakenstange, auf dass er kleine Kinder fängt.
Dieses Greuelmärchen hat mir meine Großmutter auf dem Bauernhof in der Prignitz oft erzählt, damit ich um den Brunnen einen großen Bogen machte und ja nicht hineinfiel. Ich gehe die Sache jetzt wissenschaftlich an. Die langen Vorbereitungen haben sich gelohnt, niemand ist mir auf die Schliche gekommen. Wie meine Opfer gestrampelt haben, herrlich! Nun bin ich selbst ein Hakenmann.
Die Kommissare machten sich sofort zur Humboldt-Universität auf, um den verrückten Arnulf Affinghausen festzunehmen. Doch als sie in den Hörsaal stürmten, stürzte der Assistent ans Fenster und versuchte, sich mit einem Sprung auf die Straße in Sicherheit bringen.
Im nächsten Sommer sollte es um Schmöckwitz herum keine Badeunfälle mehr geben. Denn Arnulf Affinghausen überlebte den Sturz aus dem Fenster seines Hörsaals nicht.
***
Schon auf der Heimfahrt von der Sektion der Wasserleiche aus der Dahme dachte Schwarz über seine Fälle nach, bei denen in den vergangenen Jahrzehnten Wasser ein Rolle gespielt hatte.
Wasser – im Sinne von Gewässer – war, kriminalistisch betrachtet, höchst vielseitig: Es konnte Tötungsmittel, Tatort, Transportmittel und Versteck sein. Wurde ein Toter aus dem Wasser geborgen, so war die Frage zu klären, ob es Tötung, Selbsttötung oder ein Unfall war, wobei die Unfälle statistisch deutlich überwogen. Zur Klärung, die schwierig und gelegentlich sogar unmöglich sein konnte, mussten alle Ermittlungsergebnisse, Beobachtungen von Zeugen sowie mitunter Gutachten verschiedener Experten herangezogen werden. Das konnten neben Kriminalisten und Rechtsmedizinern unter Umständen auch Tauchexperten, Meereskundler oder Schifffahrtsexperten sein.
Der Mensch war eben kein Fisch. Wenn die Sauerstoffzufuhr drei bis fünf Minuten unterbrochen wurde, trat der Tod ein. Im Wasser war dies also ein Erstickungstod. Der Begriff »Ertrinken« war irreführend und historisch begründet. Er ging wohl auf den griechisch-römischen Arzt Galen zurück. Zwar schluckt der Ertrinkende in der Regel auch Flüssigkeit, aber er stirbt nicht durch Magenüberfüllung, sondern durch Eindringen der Ertrinkungsflüssigkeit in die Luftwege mit Verhinderung des Sauerstoffaustauschs in der Lunge.
Ja, wenn wir unsere Kiemen noch hätten, um den Sauerstoffgehalt des Wassers zu nutzen!, sagte sich Schwarz. Wie viele Menschen wissen wohl, dass wir in unserem Hals-Nasen-Ohren-Bereich noch Reste von Kiemenbögen und -spalten besitzen? Die stammen aus unserer Embryonalperiode und sind damit Zeugen unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung aus Meeresbewohnern. Der Zoologe Ernst Haeckel hatte dies genial in seinem biogenetischen Grundgesetz formuliert: Die Ontogenese ist eine kurze Wiederholung der Phylogenese.
Schwarz erinnerte sich an junge Männer, gute Schwimmer, die ihre Kräfte überschätzt hatten und überhitzt ins Wasser gesprungen waren. Eine besonders üble Rolle spielte immer wieder die Alkoholisierung. Schwarz wurde bei privaten Gesprächen wie in seinen Vorlesungen nicht müde, auf die Unvereinbarkeit von Trunkenheit und Badefreuden hinzuweisen. Die Erfahrungswerte waren klar, die pathophysiologischen Mechanismen beim lautlosen Untergehen Betrunkener hingegen weithin unerforscht, und die Einsicht seiner Zuhörer erschien ihm auch meist begrenzt.
In Gerichtsprozessen war bei Todesfällen im Hallen- oder Strandbad die Pflichtverletzung von Aufsichtspersonen verhandelt worden, häufig ohne oder mit widersprüchlichen Zeugenbeobachtungen. Die Todesursache war rechtsmedizinisch meist zu klären, nicht immer aber der Hergang des Geschehens. Denn dem finalen Ertrinken konnten unterschiedlichste pathophysiologische Vorgänge vorausgegangen sein. Und es gab auch Todesfälle im Wasser ohne Ertrinken, die durch natürliche Todesursachen eintraten und im Sammelbegriff »Badetod« zusammengefasst wurden.
Auch die schrecklichen Querschnittslähmungen mit oder ohne Todesfolge fielen Prof. Schwarz ein. Sie waren durch einen Sprung in zu flache, meist unbekannte Gewässer entstanden und betrafen in der Regel junge, sportliche Schwimmer. Auch hierzu erinnerte Schwarz sich an schwierige Gerichtsverfahren. So war ein junger Mann nach einem Sprung vom Startblock eines öffentlichen Strandbades mit einer hohen Querschnittslähmung bewusstlos geborgen worden. Er überlebte die Halswirbelfraktur, war aber an den Rollstuhl gebunden, berufsunfähig geworden und hatte den Betreiber des Bades auf Schadenersatz verklagt. Als Gutachter hatte Schwarz die Weltliteratur zu dem Thema »Wassertiefe und Halswirbelsäulenverletzung« studiert. Der Beklagte verwies darauf, dass die Wassertiefe bei dem betreffenden fließenden Gewässer schwankte. Letztlich war das Faktum der Wirbelfraktur infolge Stauchung und Überstreckung der Halswirbelsäule im konkreten Fall bei geringer Sprunghöhe nur durch Bodenkontakt und damit durch unzureichende Wassertiefe zu erklären.
In einem weiteren Fall von Querschnittslähmung in einem Strandbad war die Entstehung einzig durch Kopfsprung mit Auftreffen des Verletzten auf einen anderen Badenden möglich. Der bei der Obduktion anwesende Staatsanwalt einer brandenburgischen Kreisstadt hatte große Behälter mitgebracht, um Wasser aus dem Strandbad auf tödliche Gifte untersuchen zu lassen. Nachdem Schwarz und seine Kollegen geklärt hatten, dass die weiteren rund zweihundert Badegäste wohlauf waren und der Tote an einer hohen Querschnittslähmung gestorben war, konnte auf die toxikologische Analyse verzichtet werden.
Der Rechtsmediziner wusste, dass neben der Temperatur auch die Zusammensetzung der Ertrinkungsflüssigkeit – beispielsweise der Salzgehalt (Süß- oder Salzwasser) – für die Ausbildung der Leichenbefunde bedeutsam waren. Mit Salzwasserleichen hatte man als Rechtsmediziner in Berlin-Brandenburg naturgemäß wenig praktische Erfahrung.
Ein besonders unschönes Kapitel waren die Wasserleichen im Sommer. Schwarz konnte sich noch gut an die zurückliegenden Jahre im Sektionssaal ohne Klimaanlage erinnern – doch mittlerweile gehörte das glücklicherweise der Vergangenheit an. Bei langer Liegezeit im Wasser, speziell bei hohen Temperaturen, konnten die Fäulnisveränderungen so hochgradig sein, dass Körperoberfläche wie innere Organe kaum noch zu beurteilen waren. Meist war auch eine Identifizierung durch Inaugenscheinnahme des Leichnams unmöglich, da Gesicht, Rumpf und Gliedmaßen verfärbt und aufgetrieben waren. Dazu kam der penetrante Geruch. Weitere Erschwerungen entstanden durch sogenannte Algen- oder Schlammrasen auf der Leichenhaut. Einige Male hatte Schwarz erlebt, dass sich Hinterbliebene auch durch deutlich formulierte Warnungen nicht von einer Besichtigung des vermutlichen Angehörigen abhalten ließen – und das erstaunlich gut bewältigt hatten.
Die Gasproduktion in dem verfaulenden Leichnam führte zu einem starken Auftrieb im Wasser, was den versunkenen Leichnam nach einiger Zeit wieder an die Oberfläche brachte. Schwarz hatte in den vergangenen Jahren mehrfach Beschwerungen an Wasserleichen vorgefunden, die einen Auftrieb nicht verhindert hatten. Solche Gewichte verschiedenster Art aus Stein oder Metall wurden sowohl bei Selbsttötung als auch bei Mord angebracht. Sie mussten wie auch Fesselungen sorgfältig geprüft werden, um Hinweise für Selbst- oder Fremdanbringung zu gewinnen. Nur bei der Teil- oder sogar Ganz-Betonierung des Körpers, früher in amerikanischen Gangsterkreisen zur Beseitigung von Mordopfern in Gewässern beliebt, konnten kaum Zweifel aufkommen.
Da Wasserleichen auf dem Bauch liegen, wenn sie frei treiben, Kopf und Gliedmaßen nach unten hängend, waren Aufdunsung und Verfärbung im Gesicht besonders ausgeprägt. In den filmischen Darstellungen von Wasserleichen, zum Beispiel bei großen Schiffskatastrophen, sah Schwarz häufig falsche Rekonstruktionen: Wasserleichen, die auf dem Rücken trieben. Dann konnte er sich nicht verkneifen zu kommentieren: »So haben wir als Kinder im Wasser Toter Mann gespielt, doch das entspricht leider nicht der Realität.«
Als sein Haus in Sichtweite war, verdrängte Schwarz die unschönen Gedanken an den Tod im Wasser, welche der ungewöhnliche Mordfall ausgelöst hatte. »Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps!« Eigentlich liebte er das Wasser und schaute gerne aus seinem Häuschen auf die nahe Dahme. Doch noch mehr mochte er es, selbst in die Fluten zu springen – am liebsten war ihm die Ostseeküste. Wenn hier immer warme Sommertemperaturen herrschen würden, könnte er auf die beliebten Ferienziele am Mittelmeer, Atlantik oder Pazifik glatt verzichten! Aber so weit war die Klimaerwärmung noch nicht vorangeschritten.
Wie vom Blitz getroffen
Es war zu einem Ritual geworden: Regelmäßig wanderten sie durch die Mark Brandenburg, immer an die zwanzig Kilometer und zumeist im Dutzend. Diesmal aber waren wegen der unerträglichen Hitze, unter der Berlin nun schon seit einer Woche zu leiden hatte, nur vier Gruppenmitglieder am Ausgangspunkt, dem Bahnhof Potsdam Park Sanssouci, erschienen: die Kulturjournalistin Medea Meier-Ebersbach, der Schauspieler Bo Rommerskirchen, der Architekt Ludger Krügelstein und seine Frau, die Grundschullehrerin Katharina Krügelstein.
Katharina Krügelstein blickte misstrauisch zum Himmel hinauf. »Von Westen her scheint ein Gewitter heraufzuziehen.«
Medea Meier-Ebersbach winkte ab. »Solange es nicht das Jünger’sche Stahlgewitter ist, kann ich damit leben.«
Bo Rommerskirchen schaltete sich ein und rezitierte einige Zeilen aus Gottfried Kellers Gedicht Gewitter im Mai: »In Blüten schwamm das Frühlingsland, / Es wogte weiss in schwüler Ruh; / Der dunkle feuchte Himmel band / Mir schwer die feuchten Augen zu.«
Ludger Krügelstein war währenddessen vollauf damit beschäftigt, sein GPS-Gerät in Gang zu setzen. Als ihm das nach einigen vergeblichen Versuchen endlich gelungen war, gab er das Kommando zum Abmarsch. »Wir wandern durch den Park Sanssouci, dann den Ruinenberg hinauf und durch die russische Kolonie zum Schloss Cecilienhof. Von dort geht es an der Havel entlang über die Glienicker Brücke zum Wirtshaus Moorlake, wo wir einkehren und zu Mittag essen können.«