- -
- 100%
- +
Sofort setzte sich die Gruppe in Bewegung, mit Ludger Krügelstein an der Tete, wie Medea Meier-Ebersbach es lachend ausdrückte. Er achtete anhand seines GPS-Gerätes streng darauf, dass die Gruppe die Geschwindigkeit von 4,5 Stundenkilometern nicht unterschritt. Tat sie das doch einmal, rief er den anderen zu, dass man eine Wandergruppe und keine Seniorengruppe sei, die vor ihrem Heim spazieren ging. »Ihr schiebt doch noch keinen Rollator vor euch her!«
Die erste Verzögerung gab es, als Medea Meier-Ebersbach mit großer Geste eine mitgebrachte Kartoffel auf die Grabplatte Friedrichs des Großen legte und dabei aus seinen Randverfügungen zitierte.
Für eine zweite Verzögerung sorgte Bo Rommerskirchen, der eigentlich Boris mit Vornamen hieß, aber nicht an Boris Becker erinnert werden wollte und deshalb die zweite Silbe wegließ. Da Bo ein schwedischer Vorname war, dachten viele, er käme aus dem Pippi-Langstrumpf-Land, was er gern mit dem Kalauer »Ich komme nicht aus Schweden, sondern aus Schwedt« kommentierte. Da er recht beleibt war, empfand er die Wanderung im Gegensatz zu den anderen als beschwerlich. Keuchend warf er sich, endlich oben auf dem Ruinenberg angekommen, ins Gras und verlangte eine Pause.
Doch kurze Zeit später drängte der ruhelose Ludger Krügelstein zum Weitergehen. »Kinder, unsere Durchschnittsgeschwindigkeit ist schon auf 3,3 Stundenkilometer abgesunken! Manche Schildkröte ist schneller als ihr.«
»Soll ich dich nun erschlagen«, brummte Bo Rommerskirchen, »oder reicht es, wenn ich dein blödes Gerät zertrete?«
Trotz des Gejammers ging die Gruppe zunehmend schneller, denn die Gewitterfront rückte näher und näher. Ohne weiteren Zwischenhalt kamen sie bei der Glienicker Brücke an, und für Ludger Krügelstein, der jede Wanderung genauestens protokollierte, gab es diesmal nichts Bedeutendes zu notieren. Dann aber ereignete sich doch noch ein merkwürdiger Zwischenfall.
Vor ihnen lief eine Joggerin mit auffallend knapp geschnittener Kleidung, als plötzlich ein Radfahrer neben ihr hielt, absprang und sie festhalten wollte.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie die Joggerin, stieß den Mann zur Seite und lief weiter Richtung Moorlake.
Der Mann schwang sich wieder auf sein Rad, kehrte um und radelte an ihnen vorbei zurück zur Glienicker Brücke.
Sie hätten das Ganze wohl noch des Längeren diskutiert, wäre nicht in diesem Moment ein Sturm losgebrochen, der sie, als seien sie trockene Blätter, das Havelufer entlangwehte. Und schon setzte ein Platzregen ein, der Donner rollte derart, dass ihnen das Trommelfell zu platzen drohte, und kurz hinter ihnen fuhren schon die ersten Blitze nieder. Mit Müh und Not und schon ein wenig durchnässt, erreichten sie das Wirtshaus Moorlake und waren erst einmal in Sicherheit. Wie die Medien später berichten sollten, waren sie in eines der schwersten Gewitter geraten, die Berlin seit Jahren erlebt hatte.
Hungrig von der Wanderung, bestellten sie sich rasch etwas zu essen und zu trinken. Die beiden Männer entschieden sich für Bollenfleisch.
Katharina Krügelstein fragte, ob denn alle wüssten, was im Berlinischen Bollen seien.
»Na, Bollen sind Zwiebeln«, war die Antwort von Medea Meier-Ebersbach. »Und so nennt man auch die Löcher in den Strümpfen.«
»Das stimmt, aber Bollen bedeuten auch noch Hoden. In Zilles Hurengesprächen etwa tritt eine Frau namens Bollenjuste auf.«
»Ah«, rief Bo Rommerskirchen, »daher also kommt der Ausdruck ›Du kannst mir mal die Bollen lecken‹.«
Medea Meier-Ebersbach verzog angewidert die Nase, worauf Bo Rommerskirchen herzlich lachte.
Während sie aßen, zog das Gewitter langsam ab, und als Ludger Krügelstein nach dem letzten Bissen auf sein GPS-Gerät blickte, schrie er erschrocken auf. »Unser Gesamtschnitt ist auf 2,9 Kilometer pro Stunde abgesunken. Nun aber los!«
»Aber bitte mit ’ner Taxe!«, erwiderte seine Frau. »So quatschnass, wie ich noch immer bin, wandere ich nicht gern.«
»Das kommt nicht in Frage!«, rief Bo Rommerskirchen, der sich wegen seines Geizes bei den anderen schon öfter unbeliebt gemacht hatte. Aber es war nur seine Erfolglosigkeit als Schauspieler, die ihn zur Sparsamkeit zwang.
»Ich habe ebenfalls keine Lust, bis zum S-Bahnhof Wannsee zu laufen«, maulte jetzt auch Medea Meier-Ebersbach.
Katharina Krügelstein suchte nach einem Kompromiss. »Was hieltet ihr davon, wenn wir quer durch den Wald zur Königstraße gehen? Da fährt ein Bus zum Bahnhof Wannsee.«
Der Vorschlag wurde mit einer Gegenstimme angenommen, nur Ludger Krügelstein hatte missmutig dagegen gestimmt, denn er hätte zu gern auch heute seine zwanzig Kilometer geschafft. Sie zahlten und machten sich sogleich auf den Weg Richtung Süden. Ludger Krügelstein hatte eine Karte bei sich, und so lag die Wahrscheinlichkeit, sich zu verlaufen, nur bei 27, 23 Prozent, wie seine Frau einmal anhand seiner bisherigen diesbezüglichen Heldentaten ausgerechnet hatte.
Als sie den Punkt erreicht hatten, wo es rechts hinter dem Schneewittchenweg etwas aufsteigend zum Finkenberg ging, hielt Bo Rommerskirchen plötzlich inne. »Da liegt doch jemand!«, rief er den anderen zu.
Jetzt erkannten auch sie den leblosen Frauenkörper, der gekrümmt am Fuße einer mächtigen Buche lag. Der Sportkleidung nach musste es sich um eine Joggerin handeln.
Da sich den gesamten Stamm der Buche eine schwarze Furche hinunterzog, schien offensichtlich, was sich hier ereignet hatte: Die Frau hatte Schutz vor dem gewaltigen Gewitter gesucht und war vom Blitz erschlagen worden.
»Buchen sollst du suchen …«, murmelte Medea Meier-Ebersbach.
Katharina Krügelstein, die einen Kurs in Erster Hilfe mitgemacht hatte, zog einen kleinen Spiegel aus dem Rucksack und hielt ihn der Joggerin vor den Mund. »Nichts. Die dürfte es erwischt haben.«
Trotzdem forderte ihr Mann per Handy Feuerwehr und Notarzt an.
Die morgendliche Zeitungslektüre gehörte für Gunnar Granow zu seinen dienstlichen Pflichten, denn als Mitglied einer Mordkommission konnte man auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn man ganz genau wusste, was in Berlin Tag für Tag geschah. Sein Anspruch, zu den gebildeten Ständen zu zählen, verbot ihm eigentlich die Lektüre aller Boulevardzeitungen, doch da bei einer von ihnen sein junger Freund Charly Packebusch tätig war, las er sie dennoch – schon wegen der literarisch so wertvollen Überschriften. Eine der heutigen besagte: 42-jährige Dichterin Verena Löwe aus Wannsee in der Nähe des Schäferbergs vom Blitz erschlagen.
Dies hätte ihn nun nicht weiter interessieren müssen, denn Unfälle fielen nicht in sein Ressort, und den Herrgott konnte man schwerlich wegen fahrlässiger Tötung eines Menschen vor Gericht stellen. Doch in der darauffolgenden halben Stunde gab es zwei Anrufe, die dies änderten.
Der erste kam von einem Architekten namens Krügelstein und schien im ersten Augenblick nicht weiter von Bedeutung zu sein.
»Ich war gestern mit meiner Wandergruppe unterwegs«, berichtete ihm Herr Krügelstein, »und wir haben die Frau gefunden, die womöglich vom Blitz erschlagen worden ist.«
»Sie meinen wohl den Unfall in der Nähe des Schäferbergs«, murmelte Granow.
»Es sah tatsächlich alles nach einem Blitzschlag aus«, fuhr Krügelstein fort. »Allerdings ist mir heute früh eingefallen, dass wir auf dem Weg zwischen der Glienicker Brücke und dem Wirtshaus Moorlake eine kleine Szene beobachtet haben. Da hat ganz offensichtlich ein Radfahrer eine Joggerin belästigt. Das war kurz vor dem Gewitter.«
»Und – ist er ihr gefolgt?«
»Nein, er ist dann in die andere Richtung gefahren.«
Granow überlegte einen Augenblick. »Haben Sie denn in der Toten unter der Buche vielleicht die Joggerin wiedererkannt, die belästigt worden ist?«
»Nein, wir hatten sie nur von hinten und aus einiger Entfernung gesehen. Aber von der Kleidung her könnte sie es durchaus gewesen sein. Sie trug eine dunkle Jacke und eine blaue Hose, mit Regenbogenfarben abgesetzt.«
»Vielen Dank, Herr Krügelstein, wir werden der Sache nachgehen.«
Damit wäre der Fall für Granow möglicherweise bereits erledigt gewesen, wenn die Kriminalassistentin Theresa Marotzke, die ihm gegenüber den Sportteil seiner Zeitung las, nicht mitgehört hätte. »Sag mal, das müsste dich doch an etwas erinnern …«
»Dass ich mal mit dem Rad hinter einer Joggerin hergefahren bin?« Er lachte. »Aber das war meine Frau. Und die hatte damals Angst, dass sie auch …« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief: »Mensch, die ermordete Joggerin im Spandauer Forst!« Am 20. Juni 2009 war eine 39-jährige Psychologin von einem Mann ermordet worden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einem roten Fahrrad unterwegs gewesen war. Bis heute hatte man den Mann nicht finden können.
Während sie noch über diesen Mordfall und mögliche Parallelen diskutierten, kam der zweite Anruf.
»Mein Name ist Jocelyn Naumann«, sagte die Frau am Apparat. »Ich bin die Schwester von Verena Löwe, die vom Blitz erschlagen worden sein soll. Ich möchte zu der Angelegenheit eine wichtige Aussage machen.«
»Bitte, ich höre …«
»Verstehen Sie, ich möchte nichts sagen, wenn jemand mithören kann. Kommen Sie doch bitte zu mir nach Hause!« Sie nannte noch ihre Adresse, dann legte sie auf.
Granow rang eine Weile mit sich. Was ging ihn die Sache eigentlich an? Das roch doch alles nur nach Wichtigtuerei. Aber auf der anderen Seite sagte ihm sein Gefühl, dass da womöglich doch nicht alles mit rechten Dingen zuging. Er sah seine junge Assistentin an. »Komm, fahren wir mal schnell zum Ku’damm!«
Theresa Marotzke verzog das Gesicht. »Wenn’s unbedingt sein muss …« Als geborene Neuköllnerin fühlte sie sich am Kurfürstendamm nicht sonderlich wohl. Hier wohnten Menschen, die ein Vielfaches mehr verdienten als sie und sich oft für etwas Besseres zu halten schienen.
Beide trugen sie der Armut des Landes Berlin Rechnung, indem sie auf ein dienstliches Fahrzeug verzichteten und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Tatorten und Vernehmungen fuhren. Früher hatten sie sich noch Freifahrscheine geben lassen, jetzt nutzten sie ihre privaten Monatskarten. So stiegen sie am S-Bahnhof Halensee aus, um von dort über die Westfälische Straße zur Joachim-Friedrich-Straße zu gelangen, wo nahe dem Kurfürstendamm die Schwester der Löwe wohnen sollte.
Der Hauseingang wirkte so feudal, dass sich Granow an das alte Berliner Stadtschloss erinnert fühlte. Sie stiegen die vornehme Treppe hinauf und klingelten bei Jocelyn Naumann.
Eine verhutzelt aussehende Frau öffnete ihnen sogleich die Tür. Frau Naumann wirkte recht verbittert – warum, sickerte in dem Gespräch mit den Beamten bald durch: Sie hatte stets im Schatten ihrer erfolgreichen Schwester gestanden. Ihre Gedichtbände waren weithin unbeachtet geblieben, den letzten hatte sie sogar selbst finanzieren müssen.
Granow brachte das Gespräch auf ihre verstorbene Schwester und deren Ehemann. »Leonhard Löwe ist Makler?«
»Ja, und er hat mit seiner Firma eine Menge Geld gemacht. Aber in letzter Zeit ist sein Geschäft nicht mehr gut gelaufen, doch er hatte eine Menge Ausgaben – für seine Yacht, für seine teuren Autos, für seine noch teureren Geliebten.«
»Und Ihre Schwester?«, fragte Theresa Marotzke.
»Sie wusste davon. Deshalb wollte sie sich auch scheiden lassen und hat Unterhaltszahlungen gefordert, die Leonhard in die Insolvenz getrieben hätten. Ich glaube, für ihn ist der Blitzschlag gerade zur rechten Zeit gekommen.«
Granow fixierte die Schwester der Toten. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht ausschließen, dass Leonhard Löwe ein wenig nachgeholfen hat?«
»Das ist Ihre Interpretation meiner Worte«, entgegnete Frau Naumann ausweichend. »Aber ich weiß, was Leonhard so treibt, und will deshalb Ihrem Gedanken nicht widersprechen.«
Als die Kommissare wieder auf der Straße standen, war für Granow klar, was jetzt zu tun war. »Wir müssen Professor Schwarz zu Rate ziehen, der soll sich die Leiche der Löwe mal genauer ansehen.«
***
Als die Mordkommission im Rechtsmedizinischen Institut anrief, stand Prof. Robert Schwarz gerade im Hörsaal. Die Vorlesung »Rechtsmedizin für Studierende der Rechtswissenschaft« gehörte zu seinen Lieblingsaufgaben. Die Studenten kamen gerne zu der fakultativen Vorlesung und waren entsprechend interessiert und diszipliniert. Auch das weibliche Dreigestirn war anwesend, und so ging ihm der Unterricht besonders leicht von der Hand. »Die drei Grazien«, wie er sie für sich nannte, saßen immer auf denselben Plätzen in der zweiten Reihe, waren auffallend hübsch und strahlten ihn an.
Eigentlich duldete Schwarz während seiner Vorlesung keinerlei Störung. Kriminalhauptkommissar Granow hatte aber die Sekretärin wohl so barsch angewiesen, dass sie seinem Drängen nachgab und in den Hörsaal lief. Dort legte sie ihrem Chef mit aufgeregten Gesten einen Zettel auf das Pult.
Schwarz unterbrach kurz die Vorlesung und studierte die Mitteilung. »Liebe Studentinnen und Studenten«, sagte er dann, »ich muss die Vorlesung leider vorzeitig abbrechen, denn ich habe hier eine dringende Anforderung von der Mordkommission. Jetzt gäbe es die praktische Anwendung des Gehörten, nur kann ich Sie leider zu der Untersuchung nicht mitnehmen. Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Doktor Krell wird ihnen noch die restlichen Folien zur Leichenschau zeigen. In der nächsten Woche fahren wir dann mit dem Thema Scheintod, lateinisch vita minima, fort. Bis dann!«
Schwarz schlürfte in der Kantine noch schnell eine Tasse Kaffee, griff seinen »Tatortkoffer« und fuhr dann mit seinem Wagen zum Krematorium Baumschulenweg. Er kannte es gut, hatte er doch dort in früheren Jahren die gesetzlich vorgeschriebene zweite Leichenschau vor der Kremation durchgeführt. Die Leiterin des Hauses hatte sein Institut vor einiger Zeit zu einer Besichtigung eingeladen, nachdem das Krematorium mit großem Aufwand neu erbaut worden war. Die Rechtsmediziner hatten damals ganz schön gestaunt und das alte Krematorium nach dem Einzug moderner Architektur kaum wiedererkannt. Auch die neueste Technik mit dem elektronischen Lager- und Transportsystem hatte die Mediziner beeindruckt.
Nun war er also wieder hier, um sich die Leiche eines Blitzschlagopfers anzuschauen. Ein Mitarbeiter des Krematoriums wartete bereits auf ihn und hatte den Leichnam der Verena Löwe bereitgestellt. Schwarz wunderte sich, warum die Leiche hier gelandet war, obwohl sie in der Nähe von Potsdam gefunden worden war. Aber vielleicht gibt es bei den Krematorien ja Preisunterschiede, die bei der Entscheidung eine Rolle spielen, dachte er belustigt. Dann wandte er sich seiner Arbeit zu.
Die Tote lag in einem schlichten Holzsarg, wie es bei Feuerbestattungen üblich war. Sie war bereits entkleidet, ihre Kleidung lag zu einem Bündel zusammengepackt am Fußende des Sargs.
Prof. Schwarz zog rasch Kittel und Handschuhe an. Vor der Inspektion des Leichnams prüfte er die Identität. Die Beschriftung an Sarg und Zehenkarte lautete Löwe, Verena, Geburts- und Todestag stimmten mit dem Totenschein und seinen Angaben überein. Auf dem Totenschein war als Todesursache Blitzunfall vermerkt, und bei der Todesart war Natürlicher Tod angekreuzt. Da haben wir es wieder!, dachte Schwarz. Seit wann war ein Blitztod ein natürlicher Tod? Sicherlich stammte der Blitz aus der natürlichen Umwelt – »natürlich« aber war nur der Tod aus innerer krankhafter Ursache. Aus seinen langjährigen Lehrerfahrungen wusste Schwarz, dass dies eher Kriminalisten und Juristen klarzumachen war als Medizinern. Darüber hatte es auch mit Kollegen aus Kliniken wie aus Pathologischen Instituten schon manche Debatte gegeben. Bei der Einordnung eines Todesfalls als natürlicher Tod war von dem Leichenschauarzt keine Meldung an die Polizei erforderlich, und so war die Tote von dem Bestatter abgeholt und ins Krematorium gebracht worden.
»So«, murmelte Schwarz, »wo sind denn nun die Spuren des Blitzschlags?« Als Erstes nahm er sich die Kleidung und die Joggingschuhe vor und suchte nach Zerreißungen, Verbrennungen oder Durchlöcherungen – doch er fand nichts Auffälliges. Er vermerkte auch, dass die Kleidung nicht durchfeuchtet war. Sorgfältig inspizierte er Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, wobei ihm der Krematoriumsmitarbeiter beim Umwenden der Toten half. Das Kopfhaar war blutig durchtränkt und das gesamte Gesicht stark blutverschmiert. An der rechten Hinterkopfseite fand sich eine grobe, blutige Platzwunde. Darunter ertastete Schwarz Knochenbruchstücke, die zum Teil tief in das Gehirn hineingetrieben waren. »Hier haben wir wohl die Todesursache«, schlussfolgerte Schwarz.
Dann untersuchte er weiter Haut und Schleimhäute des Gesichts, besonders gründlich den Hals, danach Rumpf, Arme und Beine. Nachdem er keine blitztypischen Hautrötungen oder Hautverbrennungen gefunden hatte, griff er zu seiner Lupe. Akribisch suchte er nach Zeichen von Hitzeeinwirkung an den Kopfhaaren, danach an den Körperhaaren. Auch hier war nichts Auffälliges festzustellen. Schwarz wandte sich an den Krematoriumsangestellten. »Herr Schulz, die Leiche darf auf keinen Fall verbrannt werden. Sie kommt in unser Institut – das wird eine gerichtliche Obduktion. Ich verständige sofort die Mordkommission. Meine Leute werden die Frau Löwe noch heute abholen.« Dann notierte Schwarz auf seinem Befundblock:
Offene Schädel-Hirn-Verletzung am Hinterkopf mit großer Platzwunde und Impressionsfraktur. Sonst keine äußeren Verletzungen, insbesondere keine Kampf- oder Abwehrspuren, keine Würge- bzw. Drosselmarken, vor allem keine Zeichen elektrischer Energie.
Anschließend rief Schwarz die Mordkommission an. Als sich sein alter Freund Granow meldete, sagte er: »Hallo, Gunnar, ich bin gerade im Krematorium bei Frau Verena Löwe, eurem angeblichen Blitzschlagopfer. Den Blitzunfall könnt Ihr vergessen. Beantragt gleich mal eine Obduktion beim Staatsanwalt! Die Frau hat eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung, und es sieht ganz nach einem Schlag auf den Kopf aus. Mich würde ja schon interessieren, wie die Theorie vom Blitzschlag zustande gekommen ist und wie die Frau unter den getroffenen Baum kam. Meine Sekretärin ruft euch an, wenn wir mit der Sektion beginnen.«
Granow wollte jedoch rasch Ergebnisse sehen und drängte auf eine Sofortobduktion.
»Also gut«, gab Schwarz nach, »wenn ihr von der ›M‹ ruft, sind wir selbstverständlich immer zur Stelle. Na, dann fangen wir heute Nachmittag um halb drei an.«
Inzwischen war es dreizehn Uhr, und Schwarz knurrte der Magen. Geistige Nahrung reicht eben doch nicht, dachte er schmunzelnd. Wenn ihm seine belastende Tätigkeit mit Verletzten oder Getöteten den Appetit verderben würde, wäre er längst verhungert. Also auf zur nächsten Bäckerei! Natürlich hätte er auch in der Mensa des Uniklinikums essen können, doch dahin ging er immer seltener. Das lag nicht etwa an der Qualität des Mittagstisches, sondern daran, dass er dort kaum in Ruhe essen konnte. Alle Störenfriede, ob Kollegen, Mitarbeiter oder Studenten, nutzten die Gelegenheit zu einem Gespräch.
Prof. Schwarz erreichte gegen vierzehn Uhr sein Institut. Der Leichnam von Frau Löwe war noch nicht eingetroffen, und so blieb ihm noch etwas Zeit. Schwarz ging in sein Dienstzimmer, fragte seine Sekretärin nach wichtigen Anrufen und sah den Posteingang durch.
Gut zehn Minuten später rief der Sektionsassistent Walter Mann an und meldete die Ankunft der Leiche. Als Schwarz in den Sektionssaal kam, erwartete ihn Dr. Krell, der zweite Obduzent, bereits in voller Montur. »KHK Granow ist auch soeben eingetroffen«, sagte Krell. »Er trinkt im Sektionssekretariat noch einen Kaffee.«
»Prima, dann können wir ja anfangen«, meinte Schwarz, und das eingespielte Team begann mit der Obduktion.
Zuerst diktierte Prof. Schwarz die »Äußere Besichtigung« in sein Diktaphon. Als er sich der Schädelverletzung zuwandte, erschien Kommissar Granow mit dem Staatsanwalt Wolf. Nach kurzer Begrüßung setzte Schwarz sein Diktat fort. Detailliert wurden alle Körperregionen beschrieben, insbesondere der Kopf. Die Verletzung am Hinterkopf wurde vermessen, danach aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit angelegtem Maßstab fotografiert. Mit dem Auflichtmikroskop suchten die Rechtsmediziner auffällige Wundbestandteile, die von einem Hiebwerkzeug hätten stammen können. Aber es gab weder Partikelchen noch Abrieb etwa von Farbe, Kunststoff, Metall oder Holz zu sehen.
Dann legte der Assistenzarzt die Sektionsschnitte unter Hilfestellung des Sektionsassistenten. Schwarz diktierte detailliert alle inneren Befunde, die Teil B des Sektionsprotokolls darstellten. Nach dem Ablösen der Kopfschwarte wurde eine länglich geformte und zur Scheitelhöhe hin rundlich begrenzte Fraktur im rechten Hinterhaupts- und Scheitelbein beschrieben, vermessen und fotografiert.
»Sehen Sie sich hier diese längliche und terrassenförmige Impressionsfraktur im rechten Hinterhaupt an!«, sagte Schwarz und zeigte den Gästen den wesentlichen Befund. »Diese Bruchform spricht für einen groben Hieb mit einem länglichen und relativ schweren Gegenstand. Mal abwarten, wie es darunter aussieht, dann können wir uns über mögliche Tatwerkzeuge unterhalten.«
Gegen achtzehn Uhr war die Leichenöffnung beendet, und Prof. Schwarz diktierte das »Vorläufige Gutachten«.
I. Sektionsergebnis Leichnam einer bekannten, 42 Jahre alten, 165 cm großen und 72 kg schweren Frau. Schweres Schädel-Hirn-Trauma: 7 × 3 cm messende ausgedehnt unterblutete Platzwunde der Kopfschwarte am rechten Hinterkopf. Längliche terrassenförmige Impressionsfraktur von 8 × 3 cm Ausdehnung im rechten Hinterhaupts- und Scheitelbein. Berstungsbruchausläufer nach rechts unten bis in die Schädelbasis. Ausgedehnte Hirnprellung und -quetschung im rechten Hinterhaupts- und Scheitellappen. Hirnschwellung. Blutiges Hirnwasser in den Hirnkammern. Schaumige, blutige Flüssigkeit in der Luftröhre und ihren Ästen. Kleinfleckige Bluteinatmungsherde beiderseits. Leichte allgemeine Arteriosklerose. Zustand nach länger zurückliegender operativer Entfernung von Gallenblase und Wurmfortsatz.
II. Todesursache: Schädelbruch mit Hirnverletzung.
III. Ergebnis der Alkoholbestimmung aus Schenkelblut und Urin nach zwei Methoden: Venenblut 0,0 mg/g Ethanol, Urin 0,0 mg/g Ethanol.
IV. Als Todesursache ist die schwere Schädel-Hirn-Verletzung festzustellen. Zum Zeitpunkt des Todes bestand keine alkoholische Beeinflussung. Es fanden sich keine wesentlichen vorbestehenden krankhaften Veränderungen, die unmittelbar mit dem Todeseintritt in Zusammenhang stehen könnten. Die näher beschriebene Schädelverletzung ist durch einen Hieb mit einem länglichen Gegenstand zu erklären, wobei der Hieb mit großer Kraft und / oder mit einem schweren Werkzeug ausgeführt worden sein muss.
V. Für die Einwirkung elektrischer Energie, wie hier vermutet durch Blitzschlag, gab es keinerlei Hinweise, weder am Körper der Toten noch an ihrer Kleidung. Die Tötung durch eine Blitzeinwirkung kann ausgeschlossen werden.
VI. Die Obduzenten behalten sich ein endgültiges Gutachten ausdrücklich vor.
VII. Prof. Dr. med. Robert Schwarz, Dr. med. Hans Krell
»Ich will noch einmal betonen«, sagte Schwarz ergänzend zu seinen Ausführungen, »dass es sich hier nicht um einen Blitzschlag handelt, denn es sind weder typische Beschädigungen von Bekleidung und Haut des Opfers vorhanden, noch gibt es irgendwelche Verbrennungsspuren oder gar die schönen Blitzfiguren.« Sogleich erklärte er den Begriff: »So heißen arborisierte Erytheme – farnkrautartige oder astförmig verzweigte Hautrötungen –, die ein Fachmann sofort erkennt. Vielmehr haben wir es eindeutig mit einer Tötung von fremder Hand zu tun. Wir vermuten einen kräftigen und gezielten Hieb mit einem länglichen Werkzeug von rundem Querschnitt, beispielsweise mit einem Metallrohr oder einem Baseballschläger. Charakteristische Spuren von einem Werkzeug fanden sich in der Wunde nicht. Der Schlag ist offenbar von hinten geführt worden. Für den Hergang ist außerdem noch von Interesse, dass die Frau nach dem Hieb mit größter Wahrscheinlichkeit sofort kampfunfähig war.«
Kriminalhauptkommissar Granow sah Staatsanwalt Wolf an. »Dann müssen wir jetzt abklären, wie die Frau unter den vom Blitz getroffenen Baum gekommen ist«, resümierte er.