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»Ich muss noch hinzufügen«, meinte Schwarz, »dass es keinerlei Schleifspuren oder andere Hinweise auf einen Transport der Verletzten oder Getöteten gibt. Die Frau hatte auch keine Kampf- oder Abwehrspuren. Sie sollten überprüfen, welche Wohnhäuser in der Nähe der Einschlagstelle stehen. Womöglich konnte von dort jemand den Blitzschlag beobachten.«
Gunnar Granow legte die Hand grübelnd ans Kinn. »Ist die Frau Löwe dort unter dem Baum getötet worden – oder ist sie als Leiche dorthin transportiert worden? Und war das vor oder nach dem Unwetter beziehungsweise dem Blitzeinschlag in die Buche?«
»Wenn wir nur eine halbwegs zuverlässige Todeszeit hätten!«, entgegnete Schwarz. »Leider gibt es die nicht, denn beim Auffinden der Frau gingen alle von einem Blitzschlag aus, und dessen Zeitpunkt war ziemlich genau bekannt. Jetzt, nach dem abgelaufenen Zeitraum und längerer Kühlraumlagerung, ist eine nähere Bestimmung leider nicht mehr möglich. Außerdem gibt es bei einem natürlichen Tod auch keine kriminalistische oder rechtsmedizinische Untersuchung des Fundortes und seiner Umgebung. Bei einer Alarmierung vor Ort hätten wir selbstverständlich nach Blutspuren oder einem in Frage kommenden Werkzeug gesucht. Der oder die Täter waren auf jeden Fall ganz schön clever …«
Der Staatsanwalt nickte und sagte zum Kommissar: »Herr Granow, Sie wissen, was nun zu tun ist. Ich hoffe, dass Ihre Kommission die Sache bald aufklären kann. Es wird nicht lange dauern, dann haben wir die Medien am Hals.«
***
Gunnar Granow und Theresa Marotzke hatten sich zusammengesetzt, um die Lage zu besprechen. Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war klar: Jemand hatte vor oder während des schweren Gewitters Verena Löwe erschlagen und dann einen Unfalltod durch Blitzschlag vorgetäuscht. Granow überlegte. »Um weiterzukommen, müssen wir erst mal die Frage klären, ob die Löwe am Fundort ihres Leichnams oder woanders erschlagen worden ist.« »Fahren wir doch mit den Kollegen von der Spurensicherung noch einmal nach Moorlake raus!«, schlug Theresa Marotzke sogleich vor. Das taten sie dann auch. Doch als es Mittag geworden war, konnte Granow nur seufzend mit dem Kopf schütteln, denn man hatte nicht die geringste Spur eines vorangegangenen Kampfes gefunden.
»Na juti, dann klappern wa ma alle ab, die et jewesen sein könnten«, sagte Theresa Marotzke.
»Am besten fangen wir mit diesem Radfahrer an.«
Den hatte man inzwischen aufgrund verschiedener Zeugenaussagen ermitteln können, und die Kollegen hatten auch schon eine Menge Material zusammengetragen: Moritz Massanz, so hieß der Radfahrer, hatte mehrere Vorstrafen vorzuweisen, vor allem Rohheitsdelikte und Betäubungsmittelmissbrauch, war alleinstehend und gelegentlich auch als Fahrradkurier oder Türsteher in Nachtclubs tätig. Er war wohnhaft in Friedrichshain-Kreuzberg, in der Ebertystraße.
Granow und Marotzke fuhren zu Massanz, und als sie an dessen Wohnungstür klingelten, kam ihnen ein junger Mann entgegen, den Schädel kahl rasiert und das linke Ohrläppchen mehrfach gepierct. Beinahe hätte der Kommissar ausgerufen: »Mensch, das ist er!« Er hatte viele Feindbilder, und Leute wie Massanz gehörten definitiv zu ihnen.
Die Kriminalkommissare wiesen sich aus, und Granow erklärte dem Verdächtigen, dass sie in der Mordsache Verena Löwe ermittelten. »Dürfen wir mal zu einer kleinen Unterredung eintreten?«, fragte er.
Massanz musterte erst Granow feindselig, schaute dann aber wohlwollend zu der jungen Kriminalassistentin und sagte: »Na jut, komm Se rin!«
An der einen Wand seines Wohnzimmers hingen ein gutes Dutzend Gotcha-Gewehre, davor stand ein weißes Rennrad.
»Wir wissen, dass Sie mit diesem Rad auch zur Zeit des großen Gewitters letzten Sonnabend unterwegs waren, unten an der Glienicker Brücke.« Granow wollte schnell zur Sache kommen. »Sie haben dabei eine Joggerin angesprochen und …«
»Klar, das war Verena. Warum sollte ick nich? Wir sind mal zusammen in eene Klasse jejangen, und da war ick vaknallt in sie. Dann musste ick ’ne Ehrenrunde drehen, und da hab ick sie aus’n Augen verloren.«
»Und nun haben Sie sie beim Joggen bedrängt und wollten ein Treffen mit ihr erzwingen?«, wollte Theresa Marotzke wissen.
»Ich habe sie überhaupt nicht bedrängt!«, gab Massanz leicht verärgert zurück. »Und nach einem Date zu fragen ist ja wohl nicht verboten, oder?«
»Sind Sie abgewiesen worden?«, hakte Granow nach.
»Ja und? Da bin ick denn weita.«
Theresa Marotzke sah ihn scharf an. »Haben Sie dafür Zeugen?«
»Weeß ick nich. Ick bin nach Potsdam und hab ma da in eem Hausflur untajastellt.«
Mehr war aus ihm nicht herauszuholen, und Granow war sich sicher, dass sie bei ihm auch auf Granit beißen würden, wenn sie ihn in die Keithstraße holten und die ganze Nacht über verhörten.
»Knöpfen wir uns also den Ehemann der Löwe vor!«, sagte Theresa Marotzke.
Sie fuhren quer durch die Stadt nach Wannsee, wo an der Straße Am Heidesaum Löwes Villa stand.
Granow fielen einige Zeilen eines Gedichtes von Theodor Fontane ein, das er einmal als junger Schüler hatte auswendig lernen müssen. »Am Waldessaume träumt die Föhre, / Am Himmel weiße Wölkchen nur …«
Theresa Marotzke klatschte in die Hände. »Jut, du! Wenn se dich bei der Kripo mal rausschmeißen, kannste ooch zu Deutschlandradio Kultur gehen. Ick kenne keinen Heidesaum, dafür aber den Heidesand …«
»Was ist denn das?«
»Das sind wunderbare Plätzchen. Kann ick aba nich backen, det macht allet meine Frau.«
»Meine leider nicht«, sagte Granow. »Die sitzt lieber in der Oper, als dass sie am Backofen steht.«
Der Makler Löwe hatte nun so gar nichts an sich, was an den König der Tiere denken ließ. Vielmehr erinnerte sein Gesicht Granow an ein Pferd. Allerdings wirkte er ebenso charmant wie redegewandt.
Es war schwülwarm an diesem Sommertag, und Granow hätte sich gern auf die Terrasse gesetzt, doch Löwe versperrte ihm den Weg nach draußen und führte ihn und seine Kollegin ins Wohnzimmer. »Bitte haben Sie Verständnis … Das nächste Gewitter liegt in der Luft, und nach dem, was meiner armen Frau passiert ist, ertrage ich es nicht mehr, die Blitze zu sehen.« Er zeigte auf seine Sitzecke. »Wenn Sie bitte hier Platz nehmen würden … Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Und schon holte er aus der Küche drei Gläser und eine Flasche Mineralwasser. »So ganz genau habe ich nicht verstanden, was Sie zu mir führt …«
Granow zögerte, direkt zu werden. »Nun … Sagen Sie, Herr Löwe, war Ihre Frau allein, als sie zum Joggen in den Wald gegangen ist?«
»Ja, warum?«
»Wir haben jetzt das rechtsmedizinische Gutachten vorliegen, und danach ist Ihre Frau nicht von einem Blitz getroffen worden.« Granow suchte nach den passenden Worten. »Es tut mir leid, Ihnen dies sagen zu müssen, aber Ihre Frau ist wohl von einem Unbekannten mit einem länglichen Gegenstand erschlagen worden. Jedenfalls hat sie schwere Schädel-Hirn-Verletzungen erlitten, die zu ihrem Tod geführt haben.«
Löwe sprang auf. »Das darf doch nicht wahr sein!«
Theresa Marotzke fixierte ihn. »Nachdem Ihre Frau erschlagen worden ist, hat sie jemand in den Wald bei Moorlake geschafft, um einen Unfalltod durch Blitzschlag vorzutäuschen.«
»Und Sie meinen wohl, dass ich es war, hab ich recht?«, rief Löwe aufbrausend. »Fragen Sie lieber mal meine liebe Schwägerin, die hat Verena fürchterlich gehasst. Immerzu war sie neidisch auf meine Frau. Sie muss es gewesen sein!«
Granow sagte bestimmt: »Herr Löwe, Ihre liebe Schwägerin hat ein hieb- und stichfestes Alibi für letzten Sonnabend. Wie sieht es bei Ihnen aus?«
»Ohne meinen Anwalt sage ich kein Wort mehr!«, rief Löwe mit hochrotem Kopf.
Gunnar Granow und Theresa Marotzke veranlassten kurz darauf, dass Leonhard Löwe vorläufig festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht wurde.
In der Keithstraße angekommen, war sich Kriminalhauptkommissar Granow ziemlich sicher, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit fast unmöglich war, Löwe die Tat nachzuweisen. »Der Untersuchungsrichter wird gewiss seine Bedenken haben, den Verdächtigen länger festzuhalten, und sein Verteidiger wird behaupten, dass Verena Löwe von einem unbekannten Dritten – oder eben dem Radfahrer Moritz Massanz – erschlagen worden ist«, vermutete Granow. »Und wie ich unsere Gerichte kenne, wird er damit durchkommen.«
So schnell wollte Theresa Marotzke nicht aufgeben. »Wir sollten unsere Leute losschicken, damit sie Löwes Wagen – und meinetwegen auch den von Jocelyn Naumann – genau unter die Lupe nehmen. Da müssten sich doch entsprechende Spuren finden lassen.«
Granow lachte. »Natürlich können wir das in die Wege leiten – doch was soll das bringen? Verena Löwe dürfte wiederholt im Wagen ihres Mannes gesessen haben, und in dem ihrer Schwester auch. Selbstverständlich werden wir da Spuren finden.«
»Aber sie wird nicht wiederholt im Kofferraum gelegen haben«, erwiderte Theresa Marotzke mit einem spitzbübischen Lächeln. »Ihre Kopfwunde muss doch heftig geblutet haben. Und da soll nichts zu finden sein?«
Doch Granow behielt recht, sie konnten beim besten Willen nichts finden.
Als der Kommissar spätabends im Bett lag, ging er in Gedanken noch einmal den mysteriösen Fall durch, und da kam ihm die Idee, dass Löwe genauso gut auch ein geliehenes Fahrzeug benutzt haben konnte.
Am nächsten Morgen telefonierten Granow und seine Leute alle Unternehmen ab, die Mietwagen anboten. Doch auch hier kamen sie zu keinem Ergebnis. Aber vielleicht hatte sich Löwe auch bei Freunden oder Bekannten einen Wagen geliehen?
Und siehe da: Ihre Recherchen ergaben, dass einer seiner Nachbarn drei Wochen verreist gewesen war und Löwe auf dessen Haus nebenan im Schuchardtweg aufgepasst hatte. Der Verdächtige hatte alle Schlüssel in Verwahrung gehabt – auch die Autoschlüssel.
Was nun folgte, war für Kriminalhauptkommissar Granow und seine Assistentin Theresa Marotzke reine Routine. Im Wagen des Nachbarn wurden in der Tat DNS-Spuren gefunden, die eindeutig Verena Löwe zuzurechnen waren. Und der Nachbar schwor, Frau Löwe nie in seinem Wagen mitgenommen zu haben.
Insgesamt zehn Stunden dauerten die Vernehmungen des Tatverdächtigen Leonhard Löwe, dann hatte der ein umfassendes Geständnis abgelegt. Schlussendlich kam heraus, dass seine Motive genau die waren, die ihm seine Schwägerin unterstellt hatte.
***
Prof. Robert Schwarz wollte gerade seinen Kittel gegen das Sakko tauschen, als das Telefon klingelte. Es war bereits gegen zwanzig Uhr – also längst Zeit für einen gemütlichen Feierabend. Doch weil er auf dem Display die Nummer der Mordkommission erkannte, hob er ab. Am anderen Ende meldete sich gut gelaunt der Kriminalhauptkommissar Gunnar Granow. »Hallo, Robert, hier ist Gunnar! Wir haben den Ehemann von Verena Löwe festgenagelt. Und zwar haben wir ihm die rechtsmedizinischen Befunde so lange unter die Nase gerieben, bis er aufgegeben hat. Ich wollte dich gleich informieren. Das haben wir doch wieder einmal prima hingekriegt, mein Lieber! Eines wollte ich dich bei der Gelegenheit noch fragen: Warst du nicht etwas mutig mit deiner Annahme, Frau Löwe sei erschlagen worden? Sie hätte doch auch gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen sein können.«
»Nein, das hätte sie nicht«, erwiderte Schwarz fachkundig. »Dagegen sprachen nämlich drei Umstände: Erstens lag die Kopfverletzung zu hoch für einen Sturz zu ebener Erde, und am Fundort gab es weder einen nennenswerten Höhenunterschied noch eine Treppe. Das besagt die sogenannte Hutkrempenregel. Zweitens war die Schädelfraktur auffallend gut geformt, da hätte es schon ein entsprechendes Widerlager vor Ort geben müssen. Drittens unterscheiden sich die Hirnverletzungen nach einem Schlag auf den Kopf von denen nach einem Aufschlag des bewegten Schädels, wie beispielsweise bei einem Sturz. Das ist als Contrecoup-Phänomen bekannt. Du siehst, ich konnte mir ziemlich sicher sein.« Und nach einer kurzen Pause fügte Schwarz lachend an: »Vielleicht solltest du wieder einmal in meine Vorlesung kommen!«
Granow erwiderte trocken: »Wenn wir von der Kripo das alles wüssten, wärt ihr Rechtsmediziner doch überflüssig.«
Nachdem die beiden das Gespräch beendet hatten, ging Schwarz zu seinem Wagen. Nun war es schon so spät, dass er den Berufsverkehr nicht mehr fürchten musste. Bei der ruhigen Fahrt nach Köpenick hatte er Zeit zum Nachdenken. Über die Hutkrempenregel hatte er früher wissenschaftlich gearbeitet. Sie wurde in der Fachliteratur meist dem deutschen Gerichtsmediziner Kurt Walcher zugeschrieben, der dazu in den dreißiger Jahren publiziert hatte. Schwarz hatte dann bei seinen Recherchen die Erkenntnis bei dem Österreicher Julius Kratter gefunden, der schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts darüber berichtet hatte. Und was käme wohl heraus, wenn man weitersuchte? So war das oft mit dem Ruhm durch Namensgebungen – nicht immer traf es den Richtigen. Aber die Regel war sehr nützlich.
Oft konnte man in seinem Fach durch simple Erfahrungsregeln bei richtiger Anwendung wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Die hochtechnisierte Glitzerwelt der forensischen Laboratorien in amerikanischen TV-Krimiserien war zwar hübsch anzusehen, hatte aber mit der Realität wenig gemein.
Die Hutkrempenregel besagte, dass beim Sturz zu ebener Erde entstehende Kopfverletzungen nicht oberhalb der gedachten Hutkrempenlinie lagen. Der Sachverhalt war aber nicht so einfach, wie sich die Regel anhörte. Die war sogar in einigen Lehrbüchern falsch dargestellt. Und was er in Staatsexamensprüfungen alles zu hören bekam! So lautete eine häufige Fehlinterpretation: »Schlagverletzungen liegen oberhalb, Sturzverletzungen unterhalb der Hutkrempenlinie.« Oft vergaßen die Prüflinge, dass die Regel nur für den Sturz zu ebener Erde anwendbar war – denn beim Fahrradsturz, Treppensturz oder Sturz aus der Höhe konnten die Verletzungen auch auf der Scheitelhöhe liegen. Wenn er die Studierenden fragte, ob die Verletzungen unterhalb der gedachten Linie immer Sturzverletzungen seien, sah er sich häufig ratlosen Gesichtern gegenüber und musste ärgerlich einwerfen: »Haben Sie noch nie von einem Veilchen oder einer Backpfeife gehört … oder einer gebrochenen Nase beim Boxkampf?«
Als eine weitere Besonderheit galt, dass Sturzverletzungen häufig durch charakteristische Hautabschürfungen an hervorstehenden Gesichtsteilen wie Augenbrauenwülsten, Nasenrücken, Jochbeinregion und Kinn zu erkennen waren.
Schwarz musste grinsen, denn in dem Zusammenhang erinnerte er sich an den Fall eines prominenten Lokalpolitikers, den Schwarz vor Jahren zu untersuchen hatte. Der hatte angegeben, bei einem Überfall geschlagen und sowohl seiner Brieftasche wie auch wichtiger Schriftstücke beraubt worden zu sein. Die rechtsmedizinische Untersuchung ließ aber ausschließlich sturztypische Gesichtsverletzungen erkennen. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen ergaben dann, dass der Mann nach einem Alkoholexzess sturzbetrunken auf dem Nachhauseweg mehrfach zu Boden gegangen war und dabei seine Habseligkeiten verloren hatte, die übrigens bald darauf von einem ehrlichen Finder abgegeben wurden. Der Verletzte gestand schließlich, den Überfall aus Angst vor Vorwürfen der Ehefrau und aus Scham vor seinen Parteikollegen erfunden zu haben.
Noch interessanter fand Schwarz das Contrecoup-Phänomen, das bei der Unterscheidung zwischen Sturz und Schlag nutzbringend einsetzbar war. Schon früh war Ärzten aufgefallen, dass beim Aufschlag mit dem Hinterkopf die stärksten Hirnschäden in Form sogenannter Rindenprellungsherde an der Gegenseite, also am Stirnhirn, auftraten. Die Académie Royale de Chirurgie in Paris hatte schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einen Preis für die Klärung dieser Schädel-Hirn-Verletzung ausgeschrieben. Seitdem wurden dazu zahlreiche biophysikalische Theorien entwickelt. Aber erst seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wusste man, dass der entscheidende Mechanismus ein am Gegenpol des Aufschlagpunktes auftretender Unterdruck war, der die Hirngewebsschäden durch eine Zugbeanspruchung oder Sogwirkung verursachte. Diese Erkenntnisse wurden sowohl empirisch, also durch Fallauswertungen, als auch experimentell gewonnen. An verkehrsmedizinischen Forschungsprojekten rechtsmedizinischer Institute arbeiteten neben Medizinern zunehmend auch Physiker. Und in der Fahrzeugindustrie untersuchten interdisziplinäre Forscherteams aus Ingenieuren, Physikern und Medizinern die Verletzlichkeit respektive Belastbarkeit des menschlichen Körpers. Dabei konnten lebende Menschen (Freiwillige) natürlich nur begrenzten Belastungen ausgesetzt werden. Für Experimente mit höheren Energien war man auf Leichen oder Modelle (Dummies) angewiesen, was beides nicht unproblematisch war. Neben rechtlichen und ethischen Fragen bei der Verwendung von Leichen mussten auch Probleme der Übertragbarkeit so gewonnener Ergebnisse auf Lebende beachtet werden.
Als Rechtsmediziner wusste Schwarz: Der Kopf war unbedingt zu schützen! Wenn er die Radfahrer ohne Helm durchs Gelände rasen sah oder mitansehen musste, wie sie in der Stadt zwischen Autokolonnen und über rote Ampelkreuzungen manövrierten, konnte er nur den Kopf schütteln. Er kannte sogar Fachkollegen, die einen Schutzhelm beim Radfahren leichtsinnig ablehnten. »Wie das aussieht! Und außerdem schwitzt man darunter!«, argumentierten sie. Dabei wusste doch heute jedes Kind, wie verletzlich das menschliche Gehirn war. Ein einfacher Sturz mit dem Rad reichte für schwere, mitunter tödliche Hirnverletzungen. Das galt auch für den Sturz von Fußgängern etwa bei Glatteis. Bei Gewalttaten, die mit bleibenden oder tödlichen Hirnschäden endeten, reichte das Spektrum von Raubüberfällen mit Umstoßen von alten Damen bis zu Attacken mit Baseballschlägern oder den ungeheuerlichen Tritten auf den Kopf eines am Boden liegenden Opfers. Vor allem die letztgenannten Taten hatte er in den siebziger und achtziger Jahren noch nicht gesehen.
Schwarz war sich mit vielen Fachkollegen einig, dass die Schwelle zur Anwendung brutalster Gewalt in den letzten Jahren deutlich gesunken war. Ebenso beobachtete er mit Sorge, dass die Gewalttaten häufig grundlos oder aus nichtigem Anlass entstanden. Und das gezielte Treten oder Springen auf den Kopf eines wehrlosen Opfers, dazu noch mit harten und schweren Stiefeln, war eine ganz neue Art der Gewalt. Mit anderen Rechtsmedizinern hatte Schwarz seit Jahren in Wort und Schrift diese Entwicklung angeprangert. Inzwischen war die Erkenntnis auch bei den tolerantesten Gutmenschen in der Justiz und Politik angekommen.
Als Schwarz mit dem Wagen in seine Grundstücksauffahrt einbog, musste er schmunzeln. Er würde bei der nächsten Radtour wie jedes Mal den Schutzhelm tragen, und seine Enkeltochter würde wie immer ausrufen: »Opa, wie siehst du denn aus!«
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