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Durch diese Umstände ist der Name Wildenbruch für mich zu einem Engramm geworden, und immer wieder zieht es mich in die Ortschaft Wildenbruch und damit an den Rand des Naturparks Nuthe-Nieplitz. Die wuchtige Feldsteinkirche ist ein wahres Highlight, und im Restaurant »Zur Linde« kann man ausgezeichnet speisen. Beim Lesen der Ortschronik stößt man auf die für die brandenburgische Geschichte wichtigen Adelsnamen Quitzow und Rochow. Auch mit einem Golfklub wird geworben, aber ich bin nur Minigolfer. Und eine schöne Badestelle gibt es auch.
Ist vom Großen Seddiner See die Rede, bin ich zunächst immer etwas irritiert, weil es auch den Schmöckwitzer Seddinsee gibt. Sein Bruder bei Wildenbruch hat aber mit Sicherheit das größere Anrecht auf den Namen, denn an seinem einen Ende liegt die Ortschaft Seddin. Und am Westufer des Großen Seddiner Sees kann man wunderschön von Seddin nach Wildenbruch wandern.
Wildenbruch und der Große Seddiner See sind mir so ans Herz gewachsen, dass ich in meinem Roman Kartoffelsuppe oder Das Karussell des Lebens einen an Selbstüberhöhung leidenden Hochschullehrer und naiven Amateurmaler namens Blücher in dieser Region einen Bauernhof kaufen lasse. Die alte Scheune verwandelt er in eine Gemäldegalerie und stellt dort seine eigenen Werke aus. Bei einer Vernissage malt schließlich ein humoristisch begabter Kollege auf das von Prof. Blücher selbst hochgelobte Ölgemälde Sonnenaufgang mit Haubentaucher mit schwarzem Filzstift die Ziffern 1 bis 14 …
Kyritz und Kampehl
Auf meinem Schreibtisch steht ein Bierkrug mit dem Aufdruck Mord und Totschlag – Kyritz an der Knatter. Das köstliche Schwarzbier ist längst ausgetrunken, und zwei Dutzend bunte Filzstifte füllen das Glas. Leider hat Kyritz seinen Namen nicht mir, -ky, zu verdanken, dennoch ist diese Stadt für mich so wichtig, dass sie mir immer wieder in den Sinn kommt – zumal ich dort auch zwei Lesungen halten durfte. Der Beiname »an der Knatter« ist auf die vielen knatternden Wassermühlen zurückzuführen, die es hier früher an einem Nebenarm der Jäglitz gegeben hat. Manche sagen auch, die nach dem Waschen im Fluss aufgehängten Bettlaken hätten ein lautes Knattern verursacht. Wie auch immer, ich habe in Kyritz nie etwas anderes als den Auspuff eines alten Mofas knattern hören.
Das Rathaus, der Marktplatz, die Stadtpfarrkirche St. Marien und die alte Stadtmauer sind allemal einen Besuch wert. Und mit der Geschichte der Stadt ist der Name Kurt von Bassewitz eng verbunden. Der Raubritter aus dem Mecklenburgischen ist 1381 brandschatzend in die Prignitz eingefallen, hat aber Kyritz nicht erobern können, weil die Bürger ihre Stadt überaus tapfer verteidigten. Dieses Ereignis wird von den Bewohnern noch heute jedes Jahr gefeiert. 1411 hat Bassewitz dann noch einmal versucht, Kyritz einzunehmen. Er wollte durch einen unterirdischen Gang bis ins Innere der Marienkirche vordringen und von dort aus den Kyritzer Bürgern in den Rücken fallen, während seine Mannschaft einen Sturmangriff auf die Stadtmauern unternehmen sollte. Der Plan wurde jedoch verraten, und als Bassewitz mit dem Schwert in der Hand im unterirdischen Stadtgang auftauchte, überschüttete man ihn mit heißem Brei und nahm ihn gefangen, um ihn mit seinem eigenen Schwert hinzurichten.
»Horst, warst du schon einmal am Salzsee?«, werde ich bei einer Wanderung von unserem Leithammel gefragt, als wir am Bahnhof Kyritz aus einem Zug der RB73 steigen.
»Nein«, antworte ich und zähle einige der Salzseen auf, über die ich in der zwölften Klasse einmal ein Referat gehalten habe, »weder in Salt Lake City am Großen Salzsee noch am Toten Meer, am Salar de Uyuni in Bolivien oder an dem in der Atacamawüste.«
»Aber in den nächsten Stunden wirst du einen sehen.«
Ich tippe mir kurz an die Stirn, doch als wir an der Kyritzer Seenkette entlangwandern, erreichen wir nach dem Klempow-, dem Unter- und dem Obersee tatsächlich einen Salzsee. Und nicht nur das, bei Kyritz gibt es auch eine Talsperre, vor der sich das Wasser der Dosse staut. Als ich das Wort Dosse höre, denke ich sofort an Neustadt (Dosse) und schlage spontan vor, diese Stadt auch noch zu besuchen.
»Erst wandern wir nach Kampehl!«, befiehlt unser Wanderführer.
Von Kyritz nach Kampehl braucht man mit dem Auto keine Viertelstunde. Kampehl ist ein märkisches Muss, denn hier ist die Mumie des Ritters Kahlebutz zu besichtigen. Christian Friedrich von Kahlebutz (1651–1702) zeichnete sich in der Schlacht bei Fehrbellin besonders aus und erhielt deshalb vom Großen Kurfürsten das Gut Kampehl bei Neustadt an der Dosse als Erblehen. 1690 wurde er angeklagt, den Schäfer Pickert aus dem Nachbarort Bückwitz ermordet zu haben, weil der ihm bei seinem Versuch im Wege gestanden habe, bei einer Magd zum »Recht der ersten Nacht« zu gelangen, also mit ihr vor ihrem künftigen Bräutigam zu schlafen. Kahlbutz musste vor Gericht, wurde aber freigesprochen. Schließlich soll er geschworen haben: »Wenn ich doch der Mörder bin gewesen, dann wolle Gott, soll mein Leichnam nie verwesen.« Und das tut er tatsächlich nicht. Ärzte und Naturwissenschaftler der Charité, darunter Koryphäen wie Rudolf Virchow und Ferdinand Sauerbruch, haben bis heute keine Erklärung dafür. War Kahlebutz doch der Mörder von Bückwitz?
»Horst, warum willst du denn unbedingt noch nach Neustadt (Dosse)?«, fragt mich mein Wanderführer irgendwann.
»Weil ich hier 1945/46 bei Hamsterfahrten nach Groß Pankow mit meiner Mutter oft gestrandet bin, immer auf der Rückreise. Einmal konnten wir in einem kleinen Hotel gleich am Bahnhof übernachten, ein anderes Mal aber mussten wir die Nacht im Wartesaal verbringen, und da wurden wir immer wieder von Ratten belästigt. Sie wollten sich an den Lebensmitteln in unserem Rucksack zu schaffen machen.«
Bald darauf erreichen wir die Stadt, und ich kaufe mir eine Dose Pils. »Schließlich sind wir in Neustadt an der Dose«, lautet mein Kommentar.
Potsdam und Sanssouci
Bei der Suche nach einem rechten Beginn für dieses Kapitel bin ich fast am Verzweifeln, denn wenn ich an Potsdam und sein berühmtes Schloss denke, kann ich nur Karl Valentins epochaler Erkenntnis zustimmen: »Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.« Zum Glück kommt mir doch noch etwas in den Sinn, das noch nicht gesagt worden ist: Potsdam ist eigentlich gar keine Landeshauptstadt, sondern nur der 13. Berliner Bezirk. Denn wenn es eine Landeshauptstadt wäre, hätte es wenigstens einen Verein in der Fußballbundesliga. Dann fällt mir aber ein, dass nur zwei von 13 Flächenstaaten mit einem Verein in der Saison 2016/17 vertreten sind, nämlich Bayern und Rheinland-Pfalz, und außerdem gibt es den Frauenfußballklub Turbine Potsdam.
Wie die meisten Kinder habe auch ich den Städtenamen Potsdam ungewöhnlich früh kennengelernt, nämlich mit den ersten Zungenbrechern: Der Potsdamer Postkutscher putzt den Potsdamer Postkutschkasten. Den Potsdamer Postkutschkasten putzt der Potsdamer Postkutscher.
Reist man nicht mit der Postkutsche, sondern mit der S- oder Regionalbahn nach Potsdam, kann man am dortigen Hauptbahnhof das fast großstädtische Treiben beobachten. Im Minutentakt kommen Busse und Straßenbahnen an oder fahren wieder ab. Steigt man in ein solches grüngestrichenes Gefährt ein, freut man sich im ersten Moment, dass man als VIP begrüßt wird. Doch dann merkt man sehr schnell, dass ViP nur die Abkürzung für »Verkehrsbetriebe in Potsdam« ist.
Sightseeing ist in Potsdam weithin mit der Straßenbahn möglich, obwohl die Magistrale, die Brandenburger Straße, Fußgängerzone ist.
Daz gantze eyland muß ein paradeys werden, hatte 1664 der Fürst Moritz von Nassau dem Großen Kurfürsten angeraten, und Voltaire hatte ein wenig später den Charakter Potsdams wie folgt auf den Punkt zu bringen versucht: Athen und Sparta, Feldlager und Garten Epikurs, Trompeten und Violinen, Krieg und Philosophie.
Alle Sehenswürdigkeiten aufzuzählen, die Potsdam ausmachen, ist in diesem Rahmen unmöglich, also beschränke ich mich auf die, zu denen ich eine besondere Verbindung habe. Auf der Langen Brücke, die zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt gelegen ist, stehe ich gerne am Geländer und sehe zu, wie die Dampfer anlegen und abfahren. Die gewaltige Architektur des »Mercure Hotels«, ehemals das »Interhotel Potsdam«, empfinde ich als störend, viele Potsdamer wollen aber nicht, dass man ihr Denkmal an die DDR-Zeit abreißt. Jubeln lässt mich dagegen der Anblick des neuerrichteten Stadtschlosses, heute Sitz des Landtages.
Früher sind wir oft und gern vom Bahnhof durch die Stadt zum Schloss Sanssouci gegangen. Und ich habe mich immer gefreut, wenn jemand keine Blumen, sondern eine Kartoffel auf das Grab Friedrichs des Großen gelegt hat, der in der DDR nur »Friedrich II. von Preußen« genannt wurde.
Blicke ich die Schlossfassade hinauf und lese in großen Lettern Sans, souci, muss ich sofort an das Buch Das Komma von Sans, Souci von Heinz Dieter Kittsteiner denken, in dem er die Inschrift mit »Ohne Rütchen sorgenfrei« übersetzt und als eine Anspielung auf eine venerische Erkrankung Friedrichs versteht, die der sich kurz vor seiner Vermählung zugezogen hatte. Sie soll zur Kastration geführt haben, ohne die der König unweigerlich gestorben wäre. Ein Hinweis auf diese Geschichte fände sich auch in einem Bericht des Leibarztes Johann Georg Zimmermann, in dem von einem grausamen Schnitt die Rede sei.
Nicht der Alte Fritz, sondern Friedrich Wilhelm IV. hat August Borsig beauftragt, die Wasserspiele und den Springbrunnen in Sanssouci wieder instand zu setzen. 1842 lieferte der König vom Feuerland, so der Titel einer meiner Romane, eine Dampfmaschine mit achtzig Pferdestärken für das neue Pumpwerk in Potsdam, das im Stil türkischer Moscheen erbaut wurde.
Manchmal sind wir auch am Bahnhof Potsdam Park Sanssouci aus der Bahn gestiegen und haben uns dem Schloss vom Neuen Palais her genähert. Die Wanderung ging dann weiter zum Ruinenberg, die Pappelallee hinunter, durch die russische Kolonie Alexandrowka hindurch zum Schloss Cecilienhof und schließlich am Ufer des Jungfernsees entlang bis zur Glienicker Brücke.
Einmal kamen wir am Fontane-Archiv vorbei, das in der Villa Quandt auf dem Pfingstberg untergebracht ist, und ich stolperte über einen Stein. »Heb den bloß nicht auf und …«, warnte mich ein guter Freund, der wusste, was mir hier vor Jahren widerfahren war. Da hatte man mich erst zu einer Lesung aus meinem Buch Mord und Totschlag bei Fontane ein-, dann aber wieder ausgeladen, weil meine Literatur dem hohen Niveau des Hauses doch nicht entspreche.
Später habe ich aber doch noch mehrere Lesungen in Potsdam gehalten, einmal sogar bei einer Open-Air-Veranstaltung in einem Park hinter der Viereckremise.
Gern steige ich auch am Bahnhof Babelsberg aus der S-Bahn, schlendere durch den Park, bewundere das Schloss sowie die alte Berliner Gerichtslaube und gehe dann zur Glienicker Brücke.
Das Filmmuseum Potsdam und der Filmpark Babelsbergs dürfen natürlich nicht vergessen werden, ebenso wenig das Holländische Viertel.
Beenden möchte ich dieses Kapitel mit dem Hinweis, dass schon in der frühen Bronzezeit an der Einmündung der Nuthe in die Havel Menschen gesiedelt haben und die slawischen Heveller hier später eine Burganlage errichteten. Am 3. Juli 993 und damit rund fünfzig Jahre vor Berlin wurde der Ort als Poztupimi zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Von wegen, Potsdam sei nur ein Anhängsel Berlins!
Brandenburg an der Havel und der Beetzsee
Viele verstehen nicht, warum Brandenburg an der Havel als Wiege und Keimzelle der Mark nicht deren Landeshauptstadt ist und warum Brandenburg an der Havel so einen umständlichen Namen hat und nicht einfach Brandenburg-Stadt genannt wird wie etwa Mexiko-Stadt.
Früher, als ich in Hannover meine Ausbildung zum Industriekaufmann absolvierte, fuhren die Interzonenzüge nach Berlin noch über Magdeburg und Brandenburg an der Havel. Vom Zugfenster aus bekam ich einen guten Eindruck von der Stadt, und da beschloss ich, sie einmal zu besichtigen.
Ich habe Brandenburg an der Havel dann sogar öfter besucht, mal mit der Familie, mal mit der Wandergruppe, mal allein zu einer Lesung. Vom Berliner Bahnhof Zoologischer Garten braucht man mit dem RE1 nur um die fünfzig Minuten bis nach Brandenburg. Ich habe dagegen fünfzig Tage gebraucht, um in Otto mit dem Pfeil im Kopf zu erzählen, wie im Jahr 1150 nach dem Tod des Hevellerfürsten Pribislaw-Heinrich das Land durch einen Erbvertrag an den Markgrafen Albrecht der Bär gefallen ist, der den aufmüpfigen Slawenfürsten Jaxa von Köpenick besiegte und 1157 die Mark Brandenburg begründete.
Alle Baudenkmäler der Stadt zu beschreiben – die Domkirche St. Peter und Paul, die Domklausur, die St.-Katharinen- und übrigen Kirchen, die mittelalterliche Stadtmauer der Alt- und der Neustadt, die vier erhaltenen Stadttortürme und das Altstädtische Rathaus – ist Sache der Reiseführer. Ich möchte jedoch erwähnen, dass es seit 1474 einen Roland in Brandenburg an der Havel gibt, so wie ja auch in Perleburg einer steht. Das versetzt mich als zeitweiligen Bremer natürlich in Entzücken.
Als ich Brandenburg an der Havel wieder einmal mit meinem Freund Volker bereise, mahnt er mich: »Von dir als Schriftsteller erwartet man, dass du bei allen Orten, von denen du in deinen Streifzügen berichtest, auf die Kollegen eingehst, die dort gewirkt haben.«
Ich mache mich kundig und stoße auf Namen wie Hans von Held, Julius von Voß, Heinrich Ludwig Bolze, Elisabeth Goedicke und Jean Wiersch, von denen ich noch nie zuvor etwas gehört habe. Nur Friedrich de la Motte Fouqué kenne ich. Selbstverständlich sind mir auch berühmte Söhne der Stadt wie Theodor Hosemann (1807–1875), der Maler, Illustrator und Karikaturist, nach dem eine Straße im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg benannt worden ist, der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik Kurt von Schleicher (1882–1934) und unser geliebter Loriot bekannt. Eine Größe der deutschen Geschichte, die in Brandenburg an der Havel lebte, ist jedoch vielleicht noch viel legendärer als sie alle zusammen: der Barbier Johann Friedrich Andreas Bollmann (1852–1901), genannt Fritze Bollmann. Bollmann hatte insgesamt elf Kinder, von denen jedoch viele starben. Da er in eine finanzielle Notlage geriet, flüchtete er sich in den Alkohol. Lief er betrunken in der Stadt umher, wurde er häufig von Kindern geärgert und verspottet. Beim Angeln nahe der Dominsel – und nicht auf dem Beetzsee – stürzte er aus seinem Kahn, worauf die Kinder der Stadt das berühmte Spottlied auf ihn dichteten:
Zu Brandenburg uff ’m Beetzsee
Ja da liegt een Äppelkahn,
Und darin sitzt Fritze Bollmann
Mit seinem Angelkram.
Fritze Bollmann wollte angeln,
Doch die Angel fiel ihm rin,
Fritze wollt se wieder langen,
Doch da fiel er selber rin.
Fritze Bollmann schrie um Hilfe,
Liebe Leute, rettet mir,
Denn ick bin doch der Fritze Bollmann
Aus der Altstadt der Barbier.
Und die Angel ward jerettet,
Fritze Bollmann, der ersoff …
Tatsächlich ist Fritz Bollmann aber nicht beim Angeln ertrunken, sondern verarmt im Städtischen Krankenhaus verstorben.
Den Breitlingsee konnte ich bei meinen Fahrten vom D-Zug aus ebenfalls sehen, und vom Beetzsee habe ich durch die Fritze-Bollmann-Lieder erfahren. Der Obere Beetzsee und der Riewendsee waren mir dagegen lange Zeit unbekannt. Beide liegen nordöstlich von Brandenburg und sind durch ein sich dahinschlängelndes Fließ, genannt der Sträng, miteinander verbunden. Auf dem Beetzsee habe ich einmal eine Dampferfahrt unternommen, und im Hotel »Bollmannsruh« am Oberen Beetzsee haben wir gut gespeist. Westlich der Stadt sind noch der Plauer und der Mösersche See zu finden.
Sehr lobenswert finde ich, dass es in Brandenburg an der Havel noch eine Straßenbahn gibt. Auf dem meterspurigen Netz verkehren drei Linien mit einer Streckenlänge von fast 18 Kilometern. Leider ist im Herbst 2002 die an die sechs Kilometer lange Strecke nach Kirchmöser wegen Brückenschäden eingestellt worden.
Auch für mich West-Berliner war Kirchmöser schon immer ein Begriff, zum einen wegen des Reichsbahnausbesserungswerks Brandenburg-West und zum anderen, weil hier viele erfolgreiche Ruderer zu Hause waren. Nicht zu vergessen ist auch der Fußballverein BSV Stahl Brandenburg, der in der Tabelle der DDR-Fußball-Oberliga auf dem 22. Platz zu finden war.
»Wir müssen zurück nach Berlin!«, ruft die Gefährtin meines Lebens. »Wir sind um 18 Uhr am Brandenburger Tor verabredet.«
Also zurück nach »Berlin an der Spree, an der Havel, an der Dahme, an der Panke, an der Wuhle, am Tegeler Fließ und am Neuenhagener Mühlenfließ«. Hoffentlich beschließt der Senat endlich, Berlin den ihm gebührenden Städtenamen zu verleihen.
Neuruppin und Fehrbellin
Es ist ein Skandal, dass sich Neuruppin nicht Fontanestadt nennt, hat doch Heinrich Theodor Fontane hier am 30. Dezember 1819 das Licht der Welt erblickt. Beide Eltern, der Apotheker Louis Henry Fontane und seine Ehefrau Emilie, waren hugenottischer Herkunft. Aufgewachsen ist der kleine Theodor in der Karl-Marx-Straße, Haus Nummer 84, das heute nach ihm benannt ist und noch immer eine Apotheke beherbergt. Ist man zu Gast in Neuruppin, sollte man deshalb zunächst die Löwen-Apotheke aufsuchen.
Ich war so oft in Neuruppin, ob zu Wanderungen, Familienausflügen oder Lesungen, dass ich es nicht mehr aufzuzählen vermag. Im Winter 1994, als mein Buch Mord und Totschlag bei Fontane erschien, saß ich sogar auf dem Fontane-Denkmal und schaute ehrfurchtsvoll zu meinem Vorbild hinauf.
Neuruppin hat aber nicht nur Theodor Fontane hervorgebracht, die Liste seiner berühmten Söhne und Töchter ist lang. An dieser Stelle seien nur diejenigen genannt, die für mich selbst von großer Bedeutung sind:
- Mit Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) wird man in Berlin und Brandenburg überall konfrontiert. Nicht nur seine eigenen Bauwerke erinnern an ihn, sondern auch die unzähligen Fassaden, die seinem Stil nachempfunden wurden.
- Gustav Kühn (1794–1868), Buchdrucker und Herausgeber von Bilderbogen, hat mich schon als Kind mit seinen Vorläufern des Comics erfreut.
- Paul Carl Beiersdorf (1836–1896), Apotheker und Firmengründer der Beiersdorf AG, erfreut mich heute noch mit seiner Nivea-Creme.
- Carl Großmann (1863–1922), Serienmörder, hat mich angeregt, Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof zu schreiben.
- Klaus Schwarzkopf (1922–1991), Schauspieler, spielte den Professor Kolczyk in der Verfilmung meines Romans Einer von uns beiden.
- Eva Strittmatter (1930–2011) war eine der Großen in der Schriftstellerzunft und insbesondere in der DDR hochgeehrt.
- Uwe Hohn (* 1962) ist nicht nur ein herausragender Speerwerfer (Weltrekord mit 104,80 Metern), in der Fernsehreihe Außenseiter Spitzenreiter ist es ihm auch gelungen, ein Streichholz 30,68 Meter weit zu werfen.
Vergessen sollten wir auch nicht, dass Friedrich der Große (1712–1786) von 1732 bis 1740 als Kronprinz Friedrich Kommandeur der Neuruppiner Garnison gewesen ist und Georg Heym (1887–1912) in Neuruppin das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besucht und hier seine ersten Gedichte geschrieben hat. Möglicherweise war auch Abend am See unter ihnen:
Leis kommt die Nacht auf Dämmerwegen.
Du fühlst im Waldsee ein heimliches Regen.
Der Abendwind rauscht durch das Rohr so eigen
In des Sternengeflimmers tanzenden Reigen.
Still ruhn die Wogen in dem Silberschein
Des Monds, der sich erhebet wolkenrein.
Es öffnen die Seerosen ihren Silberkranz.
Ein nie geahnet Glück sie erfüllet ganz.
Damit haben wir eine wunderbare Überleitung zum Ruppiner See, den ich mit meiner Wandergruppe unzählige Male umrundet habe. Als Ausgangspunkt diente uns dabei immer sein südliches Ende, in dessen Nähe Wustrau gelegen ist. Im altem Wustrauer Gutshaus ist Hans Joachim von Zieten 1699 geboren worden, dem Fontane 1847 das Gedicht Der alte Zieten gewidmet hat. Die erste Strophe beschreibt den General anschaulich:
Joachim Hans von Zieten,
Husarengeneral,
Dem Feind die Stirne bieten,
Er tat’s wohl hundertmal;
Sie haben’s all erfahren,
Wie er die Pelze wusch
Mit seinen Leibhusaren
Der Zieten aus dem Busch.
Zu Beginn von Zietens Karriere deutete nichts darauf hin, dass der Mann aus Wustrau neben Seydlitz einmal der berühmteste General Preußens werden sollte. Bei Beförderungen wurde er übergangen, und der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. urteilte über ihn: … ist gar klein und von schwacher Stimme für das Commandiren. Zieten nahm daraufhin erst einmal einen zeitweiligen Abschied vom Militär. Wieder zurück, scheiterte er ein zweites Mal, aber im Siebenjährigen Krieg kam seine große Zeit. Er starb schließlich nicht auf dem Schlachtfeld, sondern 1786 in Berlin, wo er sich in der Kochstraße 61/62 ein Haus gekauft hatte.
Ich habe von Hans Joachim von Zieten zum ersten Mal erfahren, als ich ein Bild von ihm im Zigarettenbilderalbum meines Vaters entdeckte. Das zeigte ihn in Sanssouci an der Tafel Friedrichs des Großen. Angeblich soll er bei diesem Besuch im Schloss eingeschlafen sein. Friedrich der Große verhinderte jedoch, dass man ihn aufweckte: Lasst ihn schlafen, er hat lange genug für uns gewacht.
In meiner Jugend bin ich oft durch die Neuköllner Zietenstraße gegangen, heute Werbellinstraße.
Einmal fuhren wir mit der RE6 von Spandau eine knappe Stunde bis Wustrau-Radensleben, liefen nach Wustrau, bestaunten dort das Zieten-Schloss, besuchten das Brandenburg-Preußen Museum und marschierten dann am östlichen Ufer des Ruppiner Sees entlang, wobei wir die Ortschaften Karwe, Gnewikow und Wuthenow passierten. Ob hier Fontanes Schach von Wuthenow zu Hause war? Auf dem Seedamm überquerten wir den Ruppiner See und nahmen Kurs auf den Bahnhof Rheinsberger Tor, nicht ohne vorher den herrlichen Seeblick an der Klosterkirche Sankt Trinitatis genossen zu haben. Ich dachte an Lisa, meine ältere Tochter, und stieß einen Seufzer aus, denn sie hatte einmal beim Erlernen der deutschen Sprache statt Seeufer laut Seufer gelesen.
Ein anderes Mal sind wir von Neuruppin nach Norden gewandert und am Molchow-, Tetzen- und vorbei am Zermützel- zum Tornowsee gelaufen. Sofort fühlte ich mich an den Zermützel-, den Schermützel- und den Scharmützelsee erinnert, diese bringt der Berliner gerne durcheinander.
Neben Neuruppin gibt es auch ein Alt Ruppin, ein Ortsteil von Neuruppin, und zudem die Ruppiner Schweiz, deren Name auf das leicht Hügelige der Landschaft anspielt.
Was ist noch erwähnenswert? Die Fontane Therme vielleicht oder der Hinweis, dass man vor dem Besuch der Stadt das Buch Der Pate von Mario Puzo lesen sollte, denn seit 2004 macht Neuruppin Schlagzeilen durch Korruption und Vetternwirtschaft und hat bereits Spitznamen wie »Märkisches Palermo«, »Klein Palermo« und »Korruppin« verliehen bekommen. Nur beim Fußball macht Neuruppin mit seinem MSV immer wieder positive Schlagzeilen. Sollte die Mannschaft einmal gegen Hertha BSC spielen, werde ich mir das nicht entgehen lassen.
Südlich an das Neuruppiner Gebiet grenzt Fehrbellin, das ich auf keinen Fall unerwähnt lassen darf, kennt doch ein jeder die Schlacht bei Fehrbellin und Kleists Prinz von Homburg sowie den Ausruf des Titelhelden: Träum ich? Wach ich? Leb ich? Bin ich bei Sinnen? Die Brandenburger besiegten die Schweden am 28. Juni 1675 am Hakenberg, und viele Historiker deuten dieses Ereignis als den Ausgangspunkt für den Aufstieg Brandenburg-Preußens zur europäischen Großmacht. Auf dem Hakenberg steht deshalb auch ein Denkmal, eine Siegessäule, 1875 bis 1879 erbaut, 36 Meter hoch und gekrönt von einer Bronzeviktoria.