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Hertha verzog mürrisch die Mundwinkel. Dann gab sie nach und holte die Fotos mitsamt ihren Händen hervor.
„Bitte sehr“, sagte sie schnippisch und reichte Herrn Bergmann die Bilder. Herr Griesbach beugte sich zu Bergmann und stellte ihm seine Familie vor:
„Das da, das ist Fabian, unser Ältester, mit seiner Frau Hannelore. Und das hier ist unsere Silke, mit ihrem Mann Florian und den beiden Kindern. Süß die beiden, nicht wahr? Wir sind schon Großeltern, müssen Sie wissen ... hihi.“
Herr Griesbach erfüllte es ganz offensichtlich mit Stolz, Herrn Bergmann seine geliebten Kinder auf diese Weise vorzustellen. Der wiederum zeigte die Bilder nun auch Herrn Meier.
„Sieh doch nur, wie glücklich diese Enkelkinder aussehen. Und ... oh ... das sind ja ...“
Er hielt inne, hob seinen Blick und schaute Hertha an.
„Diese Augen. Ihre Tochter hat ja Ihre Augen. Die gleiche furchtlose Entschlossenheit und diese, lassen Sie es mich ruhig so unverblümt sagen, diese ... anmutige Autorität. Das ist wirklich fabelhaft!“
Hertha ließ sich nun dazu herab, wenigstens einmal zu Herrn Bergmann rüberzusehen. Der schaute ihr jetzt noch etwas tiefer in die Augen.
„Sie haben herrliche Augen, Frau Griesbach. Man kann darin direkt sehen, wie viel Humor und wilde Lebenslust in Ihnen steckt ... und da ist noch etwas ...“
Bergmann kniff nun beim genauen Betrachten von Herthas Augen konzentriert seine Lider zusammen, so als würde es ihm die Möglichkeit bieten, tatsächlich noch etwas anderes als die Wut und die Zickigkeit darin zu entdecken, die alle anderen Anwesenden auch sehen konnten.
Hertha schaffte es nicht, ihren Blick abzuwenden. Sie verstand nicht warum, aber irgendwie war sie gerade auf faszinierende, nicht unangenehme Weise wie gelähmt.
„Was denn?“, sagte sie plötzlich, ungewohnt mild und leise.
Bergmann betrachtete weiter ganz ergriffen ihre Augen. Bis Herr Meier ihn ansprach und ihn aus seiner offensichtlichen Ehrerbietungsstarre weckte.
„ Ja, das ist es ... das ist das richtige Wort ... danke ...“, lobte er seinen unsichtbaren Mitreisenden.
Hertha schaute ihn weiter an und wartete gespannt auf das Wort, das Herr Meier soeben souffliert hatte.
„Vergebung“, sagte Bergmann und schüttelte dabei staunend den Kopf. „Das ist ja wirklich ganz erstaunlich“, fuhr er leise und ergriffen fort.
Hertha konnte nicht antworten. Allen anderen war ebenfalls kurzzeitig nicht nur die Lust zu reden, sondern sogar das gedankliche Mitkommen vergangen. Was meinte Bergmann denn damit? Vergebung?
Er führte den Gedanken sogleich aus.
„Wissen Sie, Frau Griesbach ... es ist etwas so Erbauliches und Wundervolles, wenn man jemanden trifft, der die innere Stärke aufgebracht hat, seinem eigenen Leben zu vergeben. Sich selbst, den anderen ... es ist wirklich ... ach, wundervoll ... ja, natürlich, das Leben ist ja so verdammt schwierig und man muss auch viel einstecken ... aber über den stacheligen Weg der inneren Vergebung schließlich die Gefahr der eigenen Hartherzigkeit abzuwenden und so mit Liebe und Verständnis auf alles reagieren zu können, auch auf die Schwächen der Menschen, die einen umgeben ... das ist wirklich fabelhaft ... das ist wahre Stärke. Und es ist immer wie ein wirkliches Wunder, so einen Menschen zu treffen, dem das gelungen ist ... Frau Griesbach ... und Sie sind so ein Mensch ... Sie haben ein so gutes Herz ... man kann es regelrecht sehen, wenn man nur in Ihre Augen schaut ... was für ein Lebenswerk Sie da vollbracht haben ... es ist bewundernswert ...“
Bergmann stoppte seinen Satz recht abrupt und wandte sich wieder an Herrn Meier.
„ Ja, du hast ganz recht gehabt. Du bist wirklich ein guter Beobachter, also: alle Achtung!“
Nun schien wieder Herr Meier zu sprechen, denn Herr Bergmann hörte offensichtlich sehr interessiert zu und nickte heftig.
„ Ja, natürlich. Nein, wir fahren ja bis Mainz. Nein, Mainz. Ja, Köln kommt vorher, knapp zwei Stunden. Ja, nein, jetzt kommt Dortmund, wieso? Ach so, nein, darüber mach dir mal keine Sorgen. Nein, überhaupt nicht. Erst in Mainz.“
Die anderen Reisenden vermieden es dabei, sich gegenseitig anzusehen, so wie sie es vorher getan hatten. Jeder schaute irgendwohin, wo ihm keine durch eigene Blicke signalisierte Stellungnahme abzuringen war.
Daniela schaute mit gespielter Teilnahmslosigkeit auf den Gang hinaus, Jasmin starrte unverdrossen in ihr Modemagazin und Herr und Frau Griesbach blickten zum Fenster hinaus, wo die vorbeifliegenden Felder und Wiesen der letzten Stunden gerade von einem unwirtlichen, graubraunen Industriegebiet abgelöst wurden.
Herr Bergmann wandte sich nun wieder an Hertha. Er lächelte.
„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Ihre Augen. Wunderschön. Sie haben auch so eine herrliche Farbe. Wie würden Sie sie nennen? Vielleicht ... smaragdfarben?“
„Ähm ... graugrün steht in meinem Personalausweis“, sagte Hertha, längst spürbar entwaffnet. Sogar der Anflug eines Lächelns huschte ihr über das Gesicht.
„Smaragdfarben trifft es aber viel, viel besser“, sagte Bergmann, nun wieder mit diesem Charme, der von seinen Stimmbändern perlte und von dort direkt in Herthas Herz tropfte.
Sie bewegte den Kopf leicht verlegen und schenkte Bergmann einen kurzen, leicht verliebten Blick.
„Sie Schmeichler, Sie ...!“
Herr Griesbach nahm in diesem Moment Herthas Hand. Teils, weil er sich aufrichtig freute, dass sie wohl doch noch menschliche Züge besaß, und teils, weil er einen Weg suchte, um auszudrücken, dass er sich auch mal wieder wünschte, von ihr auf diese Weise angesehen zu werden.
„Eine tolle Frau haben Sie, Herr Griesbach“, sagte Bergmann zu ihm und brachte so die Situation auf diese Weise sofort wieder ins Gleichgewicht. „Herzlichen Glückwunsch ... also, wirklich ...“
Der EC 306 kam quietschend am Dortmunder Hauptbahnhof zum Stehen. Daniela stand kurz auf, schaute sich im Gang um, ob vielleicht ein Kollege in der Nähe war, und nahm dann wieder Platz. Alle schauten sie an.
„Ich ... na ja, ich wollte nur mal schauen, ob alles seine Ordnung hat ...“
„Machen Sie ruhig noch ein bisschen weiter Pause, Frau Kurtz“, sagte Herr Bergmann mit dem beruhigenden Tonfall eines väterlichen Freundes. „Sie haben es sich wirklich verdient. Und es wird heute schon kein betrügerischer Schwarzfahrer dabei sein ...“
Daniela lehnte sich zurück und entspannte sich. Sie wollte tatsächlich nichts lieber, als auf diesem Platz zu bleiben. Eine so schöne Fahrt hatte sie schon lange nicht erlebt. Sie genoss es einfach. Normalerweise hätte sie natürlich ein ganz schlechtes Gewissen gehabt, aber heute war das alles irgendwie anders.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Herr Bergmann wandte sich wieder Herrn Meier zu. Er hatte jetzt für einen Moment etwas Spitzbübisches.
„Siehst du, genau, wie ich gesagt habe. Gar nichts passiert!“
Dann lehnte er sich zufrieden lächelnd in seinen Sitz zurück und reckte die Arme in die Höhe.
„Ach, herrlich so eine Zugfahrt, finden Sie nicht?“
Er schaute Hertha an, die für ihre Verhältnisse nun geradezu lieblich zurücklächelte und nickte.
Nun schien sich Herr Meier abermals zu Wort zu melden. Bergmann drehte seinen Kopf wieder zu ihm und hörte ihm aufmerksam zu.
„ Ja, ich weiß, dass du möchtest, dass ich Fräulein de la Roché das sage, aber das kann ich doch nicht einfach so tun. Nein, verzeih mir, dass ich dir da so vehement widerspreche, aber du musst doch zugeben, dass das, na, sagen wir mal, etwas delikat ist, oder?“ Bergmann begann zu flüstern. Natürlich konnten trotzdem alle hören, was er sagte: „ Ja, das denkst du vielleicht! Nein, und wenn du dich auf den Kopf stellst, das tue ich nicht!“
Alle schwiegen. Bergmann schaute nun etwas verlegen an die Decke des Abteils und ließ seinen Blick über die Gepäcknetze schweifen. Dabei summte er unbeholfen.
Jasmin de la Roché schaute ihm dabei zu. Sie schaute ihn nämlich schon seit seinem kleinen Zwiegespräch mit Herrn Meier herausfordernd an und wusste genau, dass er wusste, dass sie es tat. Schließlich trafen sich ihre Blicke. Herr Bergmann war das Ganze offensichtlich sehr peinlich.
„Entschuldigen Sie bitte Herrn Meier, verehrtes Fräulein de la Roché“, sagte er leise.
Sie allerdings nahm den herausfordernden Blick nicht von ihm und entließ ihn so nicht aus seinem Erklärungsnotstand.
Bergmann versuchte ein Ablenkungsmanöver.
„Sagen Sie, ist das eigentlich Ihr richtiger Name?“
„ Ja“, presste Jasmin mit beinahe komplett zusammengedrückten Lippen heraus. Und immerhin war das ja auch nur halb gelogen, denn sie hieß tatsächlich Jasmin. De la Roché war natürlich ein Künstlername. Das klang einfach besser als Wiedemann.
Und sie wollte es schließlich zu etwas bringen.
Jasmins Tonfall verriet indes, dass sie nicht auf Small Talk aus war. Sie wollte jetzt endlich wissen, was Herr Meier so dringend zu wissen begehrte.
„Es ist ... recht schönes Wetter heute ... also draußen ... also jedenfalls ... dann, wenn es nicht dauernd regnet ...“, stotterte Bergmann und versuchte weiter, sich aus der heiklen Situation zu befreien.
Da stupste Herr Griesbach ihn an. Mit dem rechten Zeigefinger, direkt aufs Knie.
„Nun fragen Sie doch ruhig ... so schlimm kann es ja nun auch wieder nicht sein ...“, sagte er ermunternd.
Bergmann schaute sich Hilfe suchend um und wirkte dabei wie ein kleiner Junge, der gerade von seinen Kameraden aufgefordert wird, absichtlich mit einem Fußball eine Schaufensterscheibe zu zerschießen. Jasmin de la Roché starrte ihn von rechts weiter selbstbewusst an.
Daniela Kurtz, Hertha und Herr Griesbach waren längst viel zu neugierig, um auf seiner Seite zu sein. Und von Herrn Meier war in diesem Fall natürlich erst recht keine Hilfe zu erwarten.
Bergmann seufzte.
„Na gut, aber nur, wenn Sie mir versprechen, hinterher nicht mich, sondern Herrn Meier dafür verantwortlich zu machen. Ich möchte betonen, dass ich Sie das nicht gefragt hätte, verehrtes Fräulein.“ Jetzt wurde er noch etwas lauter: „Und zwar nie im Leben!“
„Also bitte“, sagte Jasmin de la Roché mühsam beherrscht. Sie wollte es jetzt endlich hören.
Bergmann sammelte Mut.
„Also schön. Herr Meier möchte gerne wissen ... es sind genau genommen nämlich zwei Dinge ...“
„Und zwar?“, sagte Jasmin ungeduldig, denn sie mochte es nun endgültig nicht länger abwarten.
„Also“, sagte Bergmann. „Das erste ist ... ob es vielleicht möglich sein kann, dass Herr Meier Sie schon mal im Fernsehen gesehen hat?“
Jasmin lächelte erleichtert.
„Das war’s schon?“ Aus ihrem Lächeln wurde ein Lachen. „ Ja, das kann sogar sehr gut sein. Ich bin nämlich Schauspielerin.“
Nun zögerte sie.
Dass sie nur ganz gelegentlich ein paar schlecht bezahlte Nebenrollen in dämlichen Vorabend-Seifenopern und billigen Gerichtsshows hatte, konnte sie natürlich nicht zugeben. Dafür hatte sie viel zu lange gekämpft und zu sehr an ihrer Fassade gearbeitet. Der Tag heute, dieses Casting für den Spielfilm in Köln, ja, der konnte endlich alles verändern. Aber bislang war die beste Rolle, die Jasmin je gehabt hatte, die ihres eigenen Wunschbildes.
Sie überspielte den Moment der inneren Unruhe mit einem selbstsicheren Lachen.
„Und das Zweite? Die wirklich heikle Frage?“, säuselte sie und betonte dabei das Wort heikel bewusst erotisch.
„Also, ich glaube, das kann ich nicht“, sagte Herr Bergmann eingeschüchtert.
„Nun geben Sie sich schon einen Ruck, mein Lieber“, sagte Hertha Griesbach aufmunternd und gab ihm einen koketten Stupser, wieder ans rechte Knie.
„Es ist dieser bezaubernde Duft ...“, kam es Bergmann endlich über die Lippen. Dabei schloss er genießerisch die Augen und atmete tief ein.
„Wir beide ... also Herr Meier und ich haben es gleich bemerkt, als Sie hereinkamen ...“
Alle Mitreisenden lächelten erleichtert und verständnisvoll. Natürlich fand niemand die Frage wirklich schlimm oder zu indiskret. Jedenfalls nicht mehr. Vor zwei Stunden wäre das vielleicht noch etwas anderes gewesen. Auch Jasmin lächelte weiter.
„Sie wollten also die ganze Zeit bloß wissen, welches Parfum ich benutze? Das ist alles?“
Sie ließ sich mit einem übertriebenen Ruck in den Sitz fallen und lachte lauthals. Die anderen ließen sich anstecken und fielen in das Gelächter mit ein. Auch Richard Bergmann lachte nun erleichtert mit.
Nachdem etwa eine Minute des Lachens und Kicherns vergangen war, sammelten sich die Fahrgäste wieder.
„ Jil Sander“, sagte Jasmin.
Es entstand ein ganz kurzer Moment des erwartungsvollen Schweigens.
„ Jil Sander ... oh, ja, das riecht auch wirklich wundervoll ...“, sagte Bergmann, als wäre er nicht recht verstanden worden, „aber ... also ... das ist nicht der Duft, den Herr Meier meinte ...“
Das Lächeln auf den Gesichtern verblasste. Jasmin schaute ihn fragend an.
„Wie bitte?“
„Also, bitte verstehen Sie das nicht falsch ... aber die Frage bezog sich nicht auf Ihr Parfum, obwohl das ja auch ... wirklich ganz wundervoll riecht ...“
Bergmann schaute sich wieder unsicher um, als hätte er bemerkt, dass er aus dieser Bredouille ohne die ganze Wahrheit nun endgültig nicht mehr herauskommen würde.
„Worauf bezog sich die Frage denn dann?“, fragte Jasmin neugierig und etwas unsicher nach.
„Es ist der bezaubernde Duft, der von Ihnen ausgeht. Der Duft, den Ihr Wesen versprüht.“
Jasmin zuckte innerlich zusammen. Niemand sagte etwas.
Bergmann flüsterte Herrn Meier etwas zu und verdrehte dabei die Augen. Dann wandte er sich wieder an die sprachlose Jasmin de la Roché und begann mit milder, aber entschlossener Stimme, die reine Wahrheit zu sagen.
„Sie tragen den Duft der unschuldigen Schönheit in sich, Fräulein Jasmin. Es ist der Duft, den nur die schönsten und wertvollsten Frauen der Welt verströmen, der Duft der Königinnen aus einer anderen, fernen Welt, deren innerer Wohlgeruch nicht durch die Grenze der menschlichen Haut aufgehalten werden kann ... es ist der Duft eines goldenen, eines glänzenden, paradiesischen Elixiers ... auf so wundervolle, himmlische Weise schöner als jedes Parfum der ganzen Welt es je sein könnte ... es ist der Duft der Liebe, der Sie umweht ... und Sie tragen ihn so reich an sich ... als wären Sie mit himmlischem Gold bestäubt ...“
Jasmin schluckte und es gelang ihr nur mit Mühe, die Tränen der tiefen Rührung über Bergmanns Worte zurückzuhalten.
Hertha und Daniela gelang das nicht, obwohl sie sich auch mühten, und sie beide begannen, leise zu weinen. Auch Herr Griesbach spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er nahm Herthas Hand.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Bergmann leise zu Jasmin.
Ein Moment der Stille. Jasmin lief eine einzelne Träne über das Gesicht und verursachte eine Furche in ihrem dicken Make-up. Hertha Griesbach reichte ihr ein Taschentuch und Jasmin tupfte sich die Träne ab.
„Das ist ... das ist schon in Ordnung“, sagte sie und hatte noch mehr Schwierigkeiten, den Fluss der Tränen zurückzuhalten, der nun kräftig gegen den Staudamm ihrer Seele drückte. Sie tupfte erneut.
„Oh, und dann hat Herr Meier noch gesagt“, ergänzte Bergmann noch, „... dass Sie jede Rolle bekommen werden, die Sie zu haben wünschen, wenn Sie sich nur immer daran erinnern, wie wundervoll und lieblich Sie duften, Fräulein de la Roché.“
Ein weiterer Moment des Schweigens erfüllte das Abteil.
Plötzlich ertönte eine blecherne Frauenstimme aus dem Abteil-Lautsprecher: Verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Köln. Wir bedanken uns bei allen aussteigenden Fahrgästen für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn und wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in Köln oder eine angenehme Weiterfahrt. Auf Wiedersehen.
Bis auf Herrn Bergmann standen alle Reisenden im Abteil auf und begannen, wie in einer angenehmen Trance, ihr Gepäck aus den Ablagen zu nehmen, ihre Jacken anzuziehen und sich zum Aussteigen bereit zu machen. Jasmin tupfte dabei weitere einzelne Tränen aus ihrem Gesicht und Hertha konnte irgendwie nicht aufhören, Herrn Bergmann dankbar anzuschauen. Herr Griesbach war derweil damit beschäftigt, nicht unter dem Gewicht des riesigen Koffers seiner Frau zusammenzubrechen. Daniela zupfte ihre Bahnuniformjacke zurecht und hoffte, dass niemand bemerken würde, dass sie schon seit Bremen desertiert war und keinen einzigen Fahrschein mehr gestempelt hatte.
„Na so was“, sagte Herr Bergmann zu Herrn Meier. „Das ist ja mal was ... alle bis auf uns beide steigen hier in Köln aus ... ja, nein, wieso, die Frage verstehe ich nicht ... nein, wie schon gesagt, wir beide fahren ja noch weiter bis Mainz ... nein, nicht ganz zwei Stunden, etwas weniger ... die Strecke soll ganz herrlich sein. Ja, genau, direkt am Rhein entlang! ... ja, sogar die Loreley ... schön, nicht wahr?“
„Leben Sie dort? In Mainz, Herr Bergmann?“, fragte Herr Griesbach im Stehen, während der EC 306 die Rheinbrücke überquerte und man durch das Seitenfenster des Abteils einen ersten Blick auf den Kölner Dom erhaschen konnte.
„Oh, nein“, antwortete Bergmann und lächelte dabei wieder dieses gewinnende Lächeln. „Wir werden dort in der Nähe für ein paar Monate in einer ganz besonderen Klinik wohnen, Herr Meier und ich. Es soll dort sehr schön sein. Meine Familie hat das liebenswerterweise für mich arrangiert. Und Herr Meier begleitet mich natürlich dabei. Nicht wahr, Herr Meier?“
Er lächelte den leeren Sitz an.
Hertha Griesbach richtete sich auf und konnte ihre Mischung aus Neugier und tiefem Mitgefühl für Herrn Bergmann jetzt nicht verhehlen.
„In eine Klinik? Aber mein Lieber, mein Gott ... warum denn? Sind Sie etwa krank?“
„Nein, nein, um Gottes willen, Frau Griesbach ...“, sagte Bergmann. „Ich möchte nur meiner Familie gern den Gefallen tun, weil sie sich doch alle so um mich sorgen, verstehen Sie? Meine Mutter etwa, sie ist wirklich sehr sensibel und grämt sich leicht. Das war schon immer so. Und kürzlich hat ein besonders guter Arzt zu meiner Mutter gesagt, ich und Herr Meier, also, wir seien möglicherweise eine Gefahr für uns selbst und auch andere ...“ Bergmann lachte jetzt und knuffte seinen unsichtbaren Sitznachbarn kräftig in die Seite. „Haha ... gefährlich ... na, ich weiß nicht ... ausgerechnet wir beide? Haha ... nur weil nicht jeder Herrn Meier gleich sehen kann ...“
Nun meldete sich auch Herr Griesbach noch einmal zu Wort.
„Also ... sagen Sie mal, Herr Bergmann ... und bitte entschuldigen Sie, wenn ich das so offen frage ...“
„ Ja, aber natürlich, nur zu, Herr Griesbach“, ermutigte Bergmann ihn, charmant wie immer.
„Würden Sie sagen ...“, stammelte Griesbach zögerlich, „also ... dass ... würden Sie denn sagen, dass Herr Meier ein ganz normaler Mensch ist ...?“
Bergmann lächelte mild und schaute Herrn Meier eine Weile berührt und mit dem Ausdruck tiefster Freundschaft an.
„Ein ganz normaler Mensch? Na ja ... ich weiß gar nicht ... nein, wohl eher nicht, nicht wahr, Herr Meier?“
Der Zug kam zum Stehen. Herr Bergmann stand auf, reichte nacheinander Herrn und Frau Griesbach, dann Daniela Kurtz und schließlich Jasmin de la Roché die Hand, machte trotz der Enge im Abteil einen formvollendeten Diener und verabschiedete sie. Jasmin verharrte einen Moment, schaute ihm in die Augen, dann ließ sie sich für einen sehr kurzen Moment in Bergmanns Arme fallen, bevor sie wortlos und schnell das Abteil verließ.
„Auf Wiedersehen, Herr Bergmann“, sagte Hertha mit einer Herzenswärme, die sie selbst seit mehr als vierzig Jahren nicht in sich gespürt hatte. „Es war wirklich ganz entzückend, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
„Ganz meinerseits, gnädige Frau“, sagte Bergmann und machte erneut einen höflichen Diener.
„Oh, und auf Wiedersehen, Herr Meier“, sagte Hertha und nickte dabei den leeren Sitz am Fenster an.
„ Ja, auf Wiedersehen, meine Herren“, sagte nun auch Herr Griesbach, „eine schöne Reise noch und alles Gute für Sie beide!“
„Für Sie auch, danke“, sagte Bergmann.
Über die Lippen von Daniela Kurtz huschte ein kurzes, bewegtes „Danke“. Sie nickte Bergmann dabei zu und schloss sich dann hastig den Griesbachs an, die soeben das Abteil verließen.
Es stieg niemand zu. Und so fuhren Herr Bergmann und Herr Meier ganz allein weiter am schönen Rhein entlang, die knapp zwei Stunden von Köln nach Mainz, wo sie beide am Gleis von einem überaus schlecht gelaunten Krankenpfleger bereits erwartet wurden. Als sie dann aber schließlich an ihrem Reiseziel ankamen – in dieser schönen Klinik am Fuß des Berges, nach einer kleinen Autofahrt von vielleicht nur 20 Minuten – da war der Krankenpfleger schon gar nicht mehr so schlecht gelaunt.
Warum auch immer, aber irgendetwas hatte sich in ihm während der kurzen Fahrt auf überaus geheimnisvolle Weise verändert.
Seine Kollegen sprechen noch heute davon, dass er hinterher behauptete, an diesem Tag einem echten Engel begegnet zu sein.
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