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Da die Beschäftigung mit der Photographie – im Gegensatz zu den künstlerischen Tätigkeiten, die, wie die Malerei oder die Musik, etwas ganz und gar Weihevolles an sich haben – technisch wie ökonomisch jedermann zugänglich erscheint, und da diejenigen, die sich ihr widmen, von sich selbst nicht das Gefühl haben, an einem System expliziter und kodifizierter Normen gemessen zu werden, das die legitime Praxis im Hinblick auf ihren Gegenstand, ihre Anlässe und ihre Modalität festlegte, ist die Analyse der subjektiven oder objektiven Bedeutung, die die Subjekte der Photographie als Praxis oder als kultureller Tätigkeit beimessen, besonders geeignet, an deren authentischer Ausdrucksform jene Ästhetiken (und Ethiken) zu ermitteln, die für unterschiedliche Gruppen oder Klassen kennzeichnend sind, vor allem die »Ästhetik« des »einfachen Volkes«, die sich hier in Ausnahmefällen offenbaren kann.
Obwohl diese Tätigkeit ohne Traditionen und ohne Ansprüche, gänzlich anarchisch, individuelle Improvisation zu sein scheint, sieht es zugleich so aus, als sei nichts stärker der Reglementierung und der Konvention unterworfen als die Amateurphotographie und deren Produkte: Die Anlässe ebenso wie die aufgenommenen Gegenstände, Orte und Personen, ja sogar die Komposition der Bilder scheinen impliziten gebieterischen Regeln zu gehorchen, die die versierten Amateure oder die Ästheten auch als solche wahrnehmen, allerdings nur, um sie als geschmacklos oder technisch unbeholfen zu denunzieren. Daß man es nicht verstanden hat, in diesen erstarrten, gestellten, »unnatürlichen« und gekünstelten Photographien und in den von den Photographen von Familienfesten und »Urlaubserinnerungen« produzierten Normen einer gesellschaftlichen Etikette diesen Kodex impliziter oder expliziter Regeln, die die Ästhetiken definieren, ausfindig zu machen, liegt fraglos daran, daß man mit einer viel zu engen (und gesellschaftlich konditionierten) Definition der kulturellen Legitimität operiert. Noch in den banalsten Beschäftigungen ist Raum für Handlungen, die nicht vor allem dem Effizienzstreben folgen. Auch die direkt auf praktische Zwecke gerichteten Tätigkeiten können ästhetische Urteile auf sich ziehen, und die Art und Weise, wie die verfolgten Zwecke erreicht werden, kann jederzeit zum Gegenstand einer spezifischen »Annäherung« werden: Es gibt schöne Weisen, zu pflügen oder eine Hecke zu beschneiden, so wie es auch schöne Lösungen in der Mathematik oder schöne Doppelpässe beim Fußball gibt. Kurz, es ist möglich, daß der größte Teil der Gesellschaft aus dem Universum der legitimen Kultur ausgeschlossen bleibt, ohne deshalb aus dem Universum des Ästhetischen verbannt zu sein.
Wenngleich sie nicht der spezifischen Logik einer autonomen Ästhetik gehorchen, so organisieren sich die ästhetischen Urteile und Verhaltensweisen doch keineswegs weniger systematisch. Allerdings ist ihr Ausgangsprinzip ein ganz anderes, wobei in diesem Fall die Ästhetik lediglich eine Dimension innerhalb eines Systems impliziter Werte, d.h. innerhalb des klassenspezifischen Ethos, bildet. Die Besonderheit jeder Volkskunst besteht darin, daß sie die künstlerische Tätigkeit gesellschaftlich normierten Funktionen unterordnet, während für die Ausgestaltung »reiner« Formen, die allgemein als die sublimen gelten, die Abwesenheit funktionaler Merkmale und praktischer oder ethischer Zwecke vorausgesetzt ist. Ästheten, die sich darum bemühen, die photographische Praxis der gesellschaftlichen Funktionen zu entkleiden, in deren Dienst sie von der großen Mehrheit gestellt wird, nämlich das Erfassen und Sammeln von »Erinnerungen« an Gegenstände, Personen oder Ereignisse, die sozial als wichtig etikettiert sind, versuchen, die Photographie einer Transformation zu unterziehen, die derjenigen ähnelt, welche die Volkstänze Bourré, Sarabande, Allemande oder Courante erfahren haben, als man sie in die Kunstform der Suite einband.8 Sobald die Photographie einmal zum soziologischen Forschungsgegenstand geworden war, galt es zunächst zu untersuchen, in welcher Weise jede Gruppe oder Klasse die individuelle Praxis regelt und organisiert, indem sie dieser Funktionen überträgt, die auf ihre spezifischen Interessen zugeschnitten sind. Freilich war es nicht möglich, die einzelnen Individuen und ihr Verhältnis zur Photographie als Praxis oder als Konsumobjekt unmittelbar zum Forschungsgegenstand zu machen, ohne Gefahr zu laufen, der Abstraktion anheimzufallen. Erst die methodologische Entscheidung, reale Gruppen zu untersuchen9, rückte ins Blickfeld (oder erinnerte wieder daran), daß die der Photographie zugeschriebene Bedeutung und Funktion unmittelbar an die Struktur der Gruppe, an deren mehr oder weniger ausgeprägte Differenzierung und insbesondere an deren Stellung in der gesamtgesellschaftlichen Struktur gebunden sind. So ist in letzter Instanz das Verhältnis, das etwa der Bauer zur Photographie hat, lediglich ein Aspekt seiner Beziehung zum Leben in der Stadt, d. h. zum modernen Leben, die sich wiederum in der gelebten Beziehung zum Bewohner des nächstgelegenen Marktfleckens und zum »Feriengast« aktualisiert: Wenn er sich in und mit seiner Einstellung zur Photographie auf jene Werte beruft, die den Bauern schlechthin leiten, dann deshalb, weil diese »städtische Tätigkeit«, die Apanage des Bourgeois und Städters, mit einer Lebensweise verknüpft ist, welche die des Bauern in Frage stellt und ihn dadurch zwingt, sich explizit zu definieren.10
Neben den jeweils klassenspezifischen Interessen sind es die objektiven, undeutlich erfahrenen Beziehungen zwischen der »Klasse als solcher« und den anderen Klassen, die sich mittelbar in der Haltung der Individuen gegenüber der Photographie ausdrücken. So wie der Bauer in seiner Ablehnung der Amateurphotographie seine Beziehung zum Modus des Stadtlebens zum Ausdruck bringt, eine Beziehung, in der und durch die er die Besonderheit seiner Lage erfährt, so übersetzt oder verrät die Bedeutung, die die Kleinbürger mit der photographischen Praxis verbinden, sowohl das Verhältnis der Mittelklassen zur »Kultur«, d.h. zu den höheren Klassen, denen das Privileg jener kulturellen Handlungen zusteht, die ganz und gar erhaben erscheinen, als auch ihr Verhältnis zum einfachen Volk, von dem sie sich um jeden Preis abheben wollen, indem sie in den ihnen zugänglichen Praktiken ihren guten Willen zur Kultur zeigen. So wollen die Mitglieder der Photoklubs sich kulturell nobilitieren, indem sie die Photographie zu adeln suchen, ein Ersatz für die noblen Künste, der ihrem Vermögen und ihrem Maß gerecht wird, und zugleich in den Ordnungen der Sekte diesen Kodex technischer und ästhetischer Regeln wiederfinden, deren sie sich entschlagen haben, da sie jene Normen als vulgär, weil der Praxis der »einfachen Leute« unterworfen ablehnen. Das Verhältnis der Individuen zur photographischen Praxis ist seinem Wesen nach ein mittelbares; es schließt den Widerschein des Verhältnisses der Angehörigen der übrigen Klassen zur Photographie und daher zur gesamten Struktur der Beziehungen zwischen den Klassen mit ein.
Gerade wer die Abstraktionen eines fälschlich rigorosen Objektivismus zu überwinden wünscht, um die Beziehungssysteme wiederzugewinnen, die sich hinter den präkonstruierten Totalitäten verbergen, widersteht den Verlockungen eines Intuitionismus, der die angeblich blendende Klarheit unziemlicher Vertrautheiten favorisiert und der, in unserem Fall, nichts als Banalitäten über die Zeitlichkeit, die Erotik und den Tod zu sogenannten Wesensanalysen verklärt. Da sich die Photographie, jedenfalls dem Anschein nach, der soziologischen Erkundung im strengen Verstande nur sehr bedingt öffnet, ist sie eine ideale Gelegenheit, den Beweis dafür anzutreten, daß der Soziologe, um eine Entschlüsselung des immer schon gesellschaftlichen Sinnes bemüht, über das Bild sprechen kann, ohne darüber zum Seher zu werden. Und wie könnte man denen, die von der Soziologie »Visionen« erwarten, besser antworten als mit dem Rat Max Webers, sie sollten ins Kino gehen?
TEIL I
1. Kapitel
Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede
»In einer großen Familie weiß jeder, daß selbst ein gutes gegenseitiges Einvernehmen nicht verhindern kann, daß es zwischen Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten gelegentlich zu heftigen oder auch langweiligen Gesprächen kommt. Wenn ich merke, daß der Ton gereizter wird, hole ich das Album mit den Familienphotos aus dem Schrank. Alle stürzen sie sich darauf, sind überrascht, finden sich wieder, hier als Säugling, später als Heranwachsender; nichts nimmt ihre Aufmerksamkeit stärker gefangen, und alles kommt ganz schnell wieder in Ordnung.«
Fräulein B.C. aus Grenoble, in Elle vom 14. Januar 1965, »Leserinnen erzählen«
»Als Feng seinen Tod nahen fühlte, [...] sprach er: ›Ich selbst habe die Meister liegend oder sitzend, doch niemals aufrecht stehend sterben sehen. Habt ihr je von Meistern vernommen, die stehend entschlafen wären?‹ Die Mönche erwiderten, einzelne derartige Fälle seien überliefert. ›Und wißt ihr von einem, der auf dem Kopfe stehend die Erde verlassen hätte?‹ ›Bis zum heutigen Tage nicht‹, lautete die Antwort. Daraufhin stellte Feng sich auf seinen Kopf und verschied.«
D.T. Suzuki, Über Zen-Buddhismus
Woran liegt es, daß die Beschäftigung mit der Photographie so überaus verbreitet ist, daß es jedenfalls in den Städten nur wenige Haushalte ohne Kamera gibt? Genügt es, zur Erklärung auf den leichten Zugang zu den Instrumenten dieser Praxis und zum Gebrauch dieser Instrumente hinzuweisen? Sicherlich sind Photoapparate preiswert. Und im Unterschied zu relativ anspruchsvollen Tätigkeiten, z.B. dem Musizieren, erfordert das Photographieren nur eine schmale oder gar keine Ausbildung. Es stehen ihm also weder ökonomische noch technische Hemmnisse entgegen. Das erklärt seine Verbreitung aber nur dann hinreichend, wenn man unterstellt, daß der photographische Konsum auf ein Bedürfnis antwortet, das in den Grenzen der jeweiligen wirtschaftlichen Kapazitäten befriedigt werden kann. Doch läuft das nicht darauf hinaus, das soziologische Problem zum Verschwinden zu bringen, indem man als Erklärung ausgibt, was die Soziologie erst noch zu erklären hätte? Die psychologische Erklärung durch »Motivationen« bezieht ihr hauptsächliches Argument aus dem Umstand, daß es eine starke Korrelation zwischen dem Besitz eines Photoapparates und dem Einkommen gibt.1 Daraus folgert man, die Kamera sei ein Haushaltsgut, vergleichbar dem Auto oder dem Fernsehgerät, und ihr Besitz sei ein Indikator des Lebensstandards.2 Wenn ein Einkommensanstieg quasi automatisch die Verbreitung des Photoapparats und die Zahl der Photographen erhöht, dann macht es in der Tat einen Sinn anzunehmen, es gebe eine »natürliche« Neigung zur Beschäftigung mit der Photographie, eine Neigung, die unabhängig von Milieu und individueller Lage konstant gedacht werden könne, da sie, gespeist von universellen »Motivationen«, keinen gesellschaftlichen Bedingungen unterliege. Nach dieser Hypothese ist das – positive oder negative – Verhalten lediglich die Resultante zweier Kräfte: der mehr oder weniger starken »Motivationen« einerseits, die den Anreiz zum Handeln liefern, und der »Bremsen« andererseits, die im Einzelfall die Handlung verhindern.
Daraus ergibt sich ein Modell der Motivationen für die Beschäftigung mit der Photographie.3 Der Akt, Photos aufzunehmen, sie aufzubewahren oder sie anzuschauen, kann in fünffacher Weise als befriedigend erlebt werden: »als Schutz gegen die Zeit, als Kommunikation mit anderen und Ausdruck von Empfindungen, im Sinne von Selbstverwirklichung, unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Prestiges sowie als Zerstreuung oder Flucht aus dem Alltag«. Demnach bestünden die Funktionen der Photographie darin, erstens die Angst zu mindern, die Vergänglichkeit und Zeitlichkeit der Existenz in uns wecken, indem sie entweder einen magischen Ersatz für das bietet, was die Zeit zerstört hat, oder indem sie der Schwäche unseres Gedächtnisses abhilft und uns erlaubt, die mit den Bildern verbundenen Erinnerungen heraufzubeschwören, kurz, indem sie uns glauben macht, uns der Zeit als zerstörerischer Macht entwinden zu können; zweitens darin, die Kommunikation mit anderen zu erleichtern, gemeinschaftlich vergangene Situationen zu rekonstruieren oder anderen unser Interesse oder unsere Zuneigung zu bekunden; drittens darin, dem Photographen ein Mittel zur Verfügung zu stellen, »sich zu verwirklichen«, indem sie ihn in der magischen Aneignung oder der faszinierten oder karikierenden »Neuschaffung« des abgebildeten Gegenstandes seine eigene »Macht« erfahren läßt oder indem sie ihm die Möglichkeit gibt, »seine Gefühle intensiver zu empfinden«, einen künstlerischen Vorsatz auszudrücken oder seine technische Meisterschaft zu offenbaren; viertens darin, mittels technischer Leistungen, der Dokumentation einer persönlichen Anstrengung, einer Reise oder eines Vorkommnisses oder durch demonstratives Konsumverhalten bestimmte Prestigebedürfnisse zu befriedigen; und schließlich fünftens darin, den Anforderungen der Realität für eine Weile zu entkommen, oder sich einfach zu zerstreuen, wie bei einem Spiel. Gemessen an diesen fünf Funktionen oder Möglichkeiten bildeten »das schmale Portemonnaie, die Angst, zu versagen oder sich lächerlich zu machen, und der Wunsch, Schwierigkeiten zu vermeiden«, die hauptsächlichen Schranken für eine Beschäftigung mit der Photographie.
Mit dieser Erklärungsmethode, die »auf dem Prinzip beruht, das Verhalten der Einzelnen erklären und verstehen zu wollen, ohne [...] sich mit den Gründen zufriedenzugeben, die die Individuen selbst dafür benennen«, kommt man am Ende freilich nicht zu mehr als einem zusammenhanglosen Katalog von Gründen oder Rationalisierungen, auf die sich jedermann berufen kann, um seine Aktivität oder seine Abstinenz zu rechtfertigen. Diese »Vulgata«, eine Denkfigur, die auf halbem Wege zwischen alltäglicher Plauderei und wissenschaftlichem Diskurs angesiedelt ist, erfüllt ihre Rolle perfekt: Es gelingt ihr, die Illusion zu erzeugen, Wahrheiten zu enthüllen, wo sie im Grunde nur Gemeinplätze mobilisiert und sie in eine Sprache kleidet, die sich für wissenschaftlich ausgibt. Und soweit sie, immerhin, die Bedeutungen und Werte, denen sich die Photographen bei ihrer Tätigkeit verpflichten oder zu verpflichten glauben, zu beschreiben beansprucht, operiert diese Art Psychologie, die angeblich der Erforschung der Tiefenschichten der Person dienen soll, mit Kategorien, in denen die dünnen Reflexe der Freudschen Konzepte des Voyeurismus, des Narzißmus und des Exhibitionismus aufscheinen.
Tatsächlich ist es gerade die Absicht, die Erklärung der Photographie in Motivationen (d.h. in letzten Ursachen) zu suchen, die den Psychologen dazu verdammt, sich auf die psychischen Ausdruckselemente zu beschränken, und zwar in der Gestalt, in der sie erfahren werden, d. h. auf die »Befriedigungen« und »Gründe«, statt die gesellschaftlichen Funktionen aufzuspüren, die sich hinter den »Gründen« verbergen, und deren Erfüllung obendrein die unmittelbar genossenen »Befriedigungen« herbeiführt.4 Kurz, wer die Wirkung für die Ursache nimmt, der erklärt die photographische Praxis, die gesellschaftlichen Regeln unterworfen ist, gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt und innerhalb dieses Rahmens als »Bedürfnis« erlebt wird, durch deren Resultat, nämlich durch die psychischen Befriedigungen, die sie verschafft.5
Es ist mehr als augenfällig, daß es nicht genügt, beispielsweise die photographische Praxis der Volksklassen als die Resultante eines Bedürfnisses zu beschreiben, das sich aus allgemeinen Motivationen und finanziellen Beschränkungen zusammensetzt, wobei das Konkrete nur noch in der algebraischen Summe zweier Abstraktionen erscheint. Die Analyse verharrt so lange bei der abstrakten Universalität von Bedürfnissen oder Motivationen, als man die Wünsche von der konkreten Situation loslöst, in der sie entstehen und mit der sie untrennbar verbunden sind, einer Situation übrigens, die objektiv durch ökonomische Zwänge und soziale Normen determiniert ist.6 Anders ausgedrückt: Individuelle Wünsche und Ansprüche werden in Form und Inhalt durch objektive Bedingungen bestimmt, die die Möglichkeit ausschließen, sich das Unmögliche zu wünschen.
Zu verstehen, was es für die Arbeiter bedeutet, gelegentlich, bei traditionell vorgezeichneten Anlässen und nach den Regeln einer traditionellen »Ästhetik« zu photographieren, kurz, die Bedeutung und die Funktion zu verstehen, welche die Arbeiter der Photographie zuschreiben, heißt, das Verhältnis der Arbeiter zu ihrer Lage zu verstehen: Ihre Beziehung zu einem beliebigen Gut umschließt die stillschweigende Berufung auf das System des objektiv Möglichen und Unmöglichen, das sowohl diese Lage als auch die Verhaltensweisen definiert, die mit dem objektiv Gegebenen, an dem sie sich gemessen fühlen, verträglich oder unverträglich sind. Daher rührt es, daß in unserem Fall des Engagement für eine selten und rudimentär betriebene Praxis und das geringe Interesse an deren Intensivierung die Verinnerlichung der Grenzen zur Voraussetzung haben, die die ökonomischen Barrieren und zugleich das Bewußtsein davon bestimmen, daß als abstrakte und unmögliche Möglichkeit eine andere Form der Praxis existiert, die für andere möglich ist. Nur so wird der Stil der Antworten von Arbeitern verständlich, die über ihre photographische Praxis befragt wurden. Die Unterstellungen, die Frage- oder Konditionalform der Sätze, die Anspielung auf die virtuosesten Photographen, die man kennt, und das oft Träumerische und Spielerische der Antworten signalisieren dieses Bewußtsein von einer abstrakten und weit entfernten Möglichkeit: »Wenn ich einen guten Apparat hätte, würde ich einem Photoklub beitreten.« »Wenn ich freie Zeit hätte ...« »Wenn ich photographieren würde, dann überall, wo ich hingehe: in den Bergen, am Strand oder in der Stadt.« All dies ist einbeschlossen in der Bemerkung, mit der man seinen Verzicht begründet: »Das ist nichts für uns«, d.h. wir sind nicht die, für die dieses Objekt oder diese Aktivität als objektive Möglichkeit existiert, ja, dieses Objekt oder diese Tätigkeit wäre für uns nur dann eine »sinnvolle« Möglichkeit, wenn wir, wenn unsere Lebensverhältnisse andere wären. Hier wird deutlich, daß das Verhältnis zu einem Gut, gleichgültig welcher Art, stets und verdeckt den Schatten der Besonderheit der objektiven Lage enthält, die dieses Gut als erreichbar oder als unerreichbar qualifiziert. Mit den Worten: »Das ist nichts für uns« sagt man mehr als: »Das ist zu teuer« (für uns). Ausdruck der verinnerlichten Notwendigkeit, steht diese Formel sozusagen im Indikativ-Imperativ, da sie zugleich eine Unmöglichkeit und ein Verbot anzeigt, eine Erinnerung an die Ordnung, aber auch eine Mahnung an diese. Im übrigen verknüpft sich das Bewußtsein vom Unmöglichen und Verbotenen – da es sich unter Berufung auf die Lage in ihrer Besonderheit konstituiert – mit der Wiedererkennung des konditionalen Charakters dieses Unmöglichen und Verbotenen, soll heißen, mit dem Bewußtsein von den Bedingungen, die, wollte man sie aufheben, zunächst einmal zusammengedacht werden müßten. Das heißt, diese Einstellung zur Photographie bildet sich angesichts eines Systems von Ansprüchen, die einen ambitionierteren und folglich kostspieligen Typus der photographischen Praxis definieren. Zur Erläuterung zitiere ich die Äußerungen eines fünfundvierzig jährigen Arbeiters:
»Ich photographiere natürlich vor allem meine Kinder, aber auch meine Kumpel. [...] Das sind hauptsächlich Erinnerungsphotos, ich photographiere nämlich Personen nicht so gern. Ich mag lieber Landschaftsaufnahmen, es sei denn, es handelt sich um Photos, die aus dem Leben gegriffen sind, die Bewegung zeigen. [...] In diesem Bereich würde ich lieber Innenaufnahmen machen, aber dazu muß man die richtige Ausrüstung haben, man braucht Wandschirme und spezielle Lampen und muß lange belichten.«
Kurz, eine andere Praxis hätte eine andere Ausrüstung zur Bedingung, aber dies setzte wiederum eine andere Einstellung gegenüber der Photographie, also andere Lebensverhältnisse voraus:
»Nein, mit den Photos, die ich mache, bin ich nicht zufrieden, mit diesem Apparat werde ich wohl kaum bessere machen können; ich brauchte eine bessere Kamera. [...] Man muß eben in der Lage sein, einen ganzen Film zu opfern, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Aber ich hätte gern, daß meine Photos gleich beim ersten Mal gut werden, damit nicht unnütz Geld ausgegeben wird.«
Aus diesem Grund, dem Gefühl, daß eine anspruchsvolle Praxis unmöglich und verboten ist, verbietet man sich selbst, daran Geschmack zu finden, und versagt es sich, sie zu schätzen:
»Wer Innenaufnahmen machen will, muß die Photographie lieben; wenn ich welche machen wollte, oder auch Großaufnahmen, würde ich sie gern selbst entwickeln. Dazu habe ich weder die Zeit noch die Möglichkeit, noch die Mittel.«
Diese Logik offenbart die ganze Bedeutung des Verhältnisses zum technischen Objekt, und das Verhältnis zum Photoapparat ist davon bloß ein Sonderfall. Wenn Arbeiter, die ein besonderes Interesse an der Photographie haben, häufig mit einem gewissen Stolz auf die Einfachheit ihrer Ausrüstung hinweisen und als verständige Wahl ausgeben, was nicht zuletzt eine Auswirkung ökonomischer Zwänge ist, dann deshalb, weil sie in der Verfeinerung technischer Manipulationen eine Chance sehen, ihr Interesse für das ausgereifte (und deshalb teuerste) technische Objekt mit ihrem Vorsatz in Übereinstimmung zu bringen, den Kauf eines solchen Objektes zu meiden, das für sie ohnehin unerschwinglich ist:
»Mit den Photoapparaten ist es wie mit allem anderen auch, die teuersten sind nicht unbedingt die besten.« »Eine gute Verarbeitung ist wichtiger als eine komplizierte Mechanik.« »Hören Sie, ich kenne alle Fabrikate ziemlich gut, also, da gibt es welche, die nach nichts aussehen, mit denen kann man aber mehr anfangen als mit anderen, wenn man sich wirklich auskennt. Wer nicht gerade sehr auf Draht ist, der braucht meinetwegen viel Technik. Nehmen Sie nur mal die ›automatischen‹, ein guter Photograph wird damit nie das machen können, was mit einer ›manuellen‹ möglich ist. Außerdem will er das wahrscheinlich gar nicht. Das ist wie mit den Autos.«
Die »Bastelei« widersteht der Verführung des technischen Objektes im gleichen Maße, wie sie ihr erliegt. Im Unterschied zu der Vorliebe für »Spielereien« oder sogenannte »gadgets«, die die Manipulationen durch die Multiplikation der zu manipulierenden Objekte vervielfacht, hilft sich die Selbstbeschränkung durch die Geschicklichkeit, einfallsreiche Lösungen zu erfinden, die es erlauben, dasselbe Ergebnis mit sparsamsten Mitteln zu erzielen. Die Raffinesse der technischen Gegenstände im Namen der Raffinesse des Technikers vorgeblich geringzuschätzen – das ist eine höchst realistische Weise, die Unerreichbarkeit der Objekte anzuerkennen, ohne auf Perfektion zu verzichten.
Als Fiktion einer Erklärung und Erklärung von Fiktionen läßt somit die Motivationspsychologie die Frage offen, wie es kommt, daß die Photographie so weit verbreitet ist, obwohl sie kein primäres, d.h. »natürliches«, und erst recht kein sekundäres Bedürfnis befriedigt, das durch die Erziehung hervorgebracht und genährt worden wäre, wie etwa das Interesse an Museen oder Konzerten.
Die Photographie als Ausdruck und Mittel der Integration
Um die Unzulänglichkeit einer rein psychologischen Erklärung der photographischen Praxis und deren Verbreitung endgültig zu bekräftigen, bedarf es des Nachweises, daß eine soziologische Erklärung diese Praxis vollständig zu begründen vermag, und zwar nicht allein diese selbst, sondern obendrein ihre Instrumente, ihre bevorzugten Gegenstände, ihre Rhythmen, ihre Anlässe, ihre implizite Ästhetik, ja selbst die Erfahrung, die die Subjekte mit ihr machen, die Bedeutungen, die sie ihr verleihen, und die psychischen Gratifikationen, die sie aus ihr ziehen. Was dem Betrachter sogleich auffällt, sind die zahlreichen Regelmäßigkeiten, nach denen sich die allgemeine Praxis organisiert7: Nur wenige andere Tätigkeiten sind gleich stereotyp und der Anarchie individueller Absichten weniger überlassen. Mehr als zwei Drittel der Photoamateure sind Saisonkonformisten, die ihre Aufnahmen bei Familienfesten oder Freundestreffen oder in den Sommerferien machen.8 Wenn man bedenkt, daß eine sehr enge Korrelation besteht zwischen dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« und dem Besitz eines Photoapparats, und daß dieser oft das Eigentum der ganzen Familie ist, dann wird klar, daß die photographische Praxis meist einzig ihrer Funktion für die Familie wegen lebendig bleibt, genauer: durch die Funktion, die ihr die Familie zuweist, nämlich die großen Augenblicke des Familiendaseins zu feiern und zu überliefern, kurz, die Integration der Familiengruppe zu verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat.9 In dem Maße, wie die Familienphotographie als Ritus des Hauskultes dient – wobei die Familie Subjekt und Objekt zugleich ist –, wie sie das Gefühl des Festes, das die Familie sich gibt, zum Ausdruck bringt und dadurch verstärkt, werden das Bedürfnis nach Photographien und das Bedürfnis zu photographieren (die Verinnerlichung der sozialen Rolle dieser Praxis) um so lebhafter empfunden, je integrierter die Gruppe und je höher die Integrationskraft des Augenblicks ist.10 Es ist also kein Zufall, wenn die soziale Bedeutung und die Funktion der Photographie nirgendwo deutlicher zutage treten als in einer ländlichen Gemeinde, die stark integriert und nachhaltig ihren bäuerlichen Traditionen verhaftet ist.11 Daß das photographische Bildnis, diese ungewöhnliche Erfindung, die Verwirrung oder Unruhe hätte stiften können, sich rasch einbürgert und durchsetzt (zwischen 1905 und 1914), hat seinen Grund darin, daß es alte, ihm vorausliegende Funktionen wahrnimmt, nämlich die hohen Zeitpunkte des kollektiven Lebens einzufangen und auf Dauerhaftigkeit zu stellen. Die Hochzeitsphotographie wurde deshalb so schnell und allgemein akzeptiert, weil sie den Zusammenhang mit ihren gesellschaftlichen Existenzbedingungen offen einbekannte – die Verschwendung als Verhaltensbestandteil bei Festlichkeiten, der Erwerb des Gruppenbildes, der demonstrative Aufwand, dem sich niemand entziehen konnte, ohne gegen den Ehrenkodex zu verstoßen, all dies wird als obligatorisch empfunden, als Element einer Huldigung, die den Jungverheirateten erwiesen wird.