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Wir wollen die Umkehrung nicht zu weit treiben, doch die Beobachtung lehrt, daß gegenüber der Familienphotographie, Zeichen und Mittel der Integration in einem, die durch die Negation des familialen Gebrauchs definierte Photographie häufig eine geringer ausgeprägte Integration in die Familiengruppe oder den Beruf verrät, während sie andererseits bisweilen diese schwache Integration verstärkt, indem sie sie zum Ausdruck bringt. So ranken sich die kleinen Ehedramen mit wechselseitigen Vorwürfen (bei denen man sich halb scherzhaft, halb ernsthaft gegenseitig neckt) oft um die mit besonderer Hingabe betriebene Photographie:
»Natürlich paßt das meiner Frau überhaupt nicht«, erklärt ein Vorarbeiter, Mitglied eines Photoklubs. »Also heute abend z.B. bin ich bereits zu spät dran und weiß schon jetzt, was ich zu hören kriege: ›Du mit deiner Photographie!‹ Wissen Sie, die meisten Frauen können mit der Photographie nichts anfangen.«
Daß zahlreiche passionierte Amateure kategorisch auf einer Trennung der Geschlechter je nach photographischen Aufgaben und Interessen bestehen, daß sie sich eifersüchtig die anspruchsvollen Anwendungsgebiete vorbehalten und ihren Frauen lediglich die traditionellen überlassen, für die sie ihrer »Weiblichkeit« wegen »prädestiniert« seien, läßt erkennen, wie sehr die als Liebhaberei aufgefaßte Photographie, deren ästhetisches Credo sich, vor allem in den weniger gebildeten Schichten, oft auf die Absage an die Familienphotographie reduziert, aus ebendemselben Grund nach einer Komplementärpraxis verlangt, die der Frau reserviert wird und ausschließlich familialen Zwecken gehorcht.
Tatsächlich findet der ambitionierte Photograph eine – wenn auch noch so eingeschränkte – Definition seines Vorhabens in der Absage an die rituellen Objekte der Alltagsphotographie. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Photoapparat fast immer Gemeinschaftseigentum ist, das unterschiedslos von den Gruppenmitgliedern in gemeinsamem Gebrauch genutzt wird, dann wird deutlich, daß der autonome Gebrauch der Kamera den Sinn eines Bruchs mit dem Gemeineigentum annimmt: Die Negation der Familienphotographie bedeutet wennschon nicht die Leugnung des Wertes der Familie überhaupt, so doch immerhin eines der Familienwerte, indem man sich weigert, dem Familienkult zu huldigen. Und das Verhalten des Fanatikers, der sich lange bitten läßt, bis er endlich eine Aufnahme von den Kindern macht, obwohl er viele Stunden zurückgezogen in der Dunkelkammer verbringt, steht dem Verhalten des Photographen, der feierlich und öffentlich dem Familienkult huldigt, in derselben Weise gegenüber, wie – soziologisch ausgedrückt – die Magie der Religion.
Nach alledem überrascht es nicht, daß die Saisonkonformisten und die passionierten Amateure zwei statistische Gruppen mit gänzlich entgegengesetzten Merkmalen bilden: Engagierte Photographen finden sich häufiger unter den Unverheirateten, in kinderlosen Familien und bei den Jüngeren (vor allem im Alter von 18 bis 20 Jahren), d.h., in den Gruppen und Schichten, in denen die Gelegenheitsphotographen am schwächsten repräsentiert sind, so als ob diese Passion ein um so günstigeres Terrain hätte, je weniger sich der Druck der traditionellen Funktionen bemerkbar macht.41
Zwar liegt der Anteil der Photoamateure bei den Unverheirateten niedriger als bei den Verheirateten, aber dafür nimmt die Praxis bei ihnen in der Regel sehr viel engagiertere Züge an. Sie sind weniger geneigt, die Photographie in den Dienst traditioneller Funktionen zu stellen, und unterscheiden sich im Hinblick auf ästhetische Intentionen von den Verheirateten eklatant in ihrer photographischen Praxis. Beschreibt man unter Rückgriff auf die Terminologie Durkheims zur Charakterisierung unterschiedlicher Typen des Selbstmords die Praxis dieser Photographie als »anomische«, so wird klar, daß es müßig wäre, die Ursachen oder Bedingungen dieser Passion in den immanenten Merkmalen statistischer Gruppen zu suchen, bei denen sie am häufigsten auftritt. Tatsächlich ist die Korrelation gerade negativ, da die ambitionierte Praxis, die Negation der allgemeinen Praxis, überall da (ex negativo) vorgezogen wird, wo der Druck der familialen Funktion nachläßt, und umgekehrt. Während der positive Einfluß der Integration sich in positiven Indikatoren äußert (etwa im Besitz einer Kamera), werden die Determinanten der ambitionierten Praxis erst dann in vergleichbarer Weise sichtbar, wenn ihre Wirkung erlischt: So sinkt der Anteil der Mitglieder von Photoklubs sehr stark mit der Eheschließung. Obwohl die Erfüllung traditioneller Funktionen der Photographie jedermann abgefordert wird (unabhängig von seiner ökonomischen oder sozialen Lage), einzig aufgrund der Integration in die Familie, so bleibt doch wahr, daß die Bedeutung, die der Einzelne der photographischen Praxis beimißt, vom System der impliziten Gruppenwerte abhängt, das die passenden Mittel und Wege bestimmt, um diese Funktionen erfüllen zu können. Wenngleich diese »Normen«42 sich innerhalb der städtischen Gesellschaft minder einschneidend bemerkbar machen als in der ländlichen Umgebung, überläßt die Gruppe die allgemeine Praxis bloß scheinbar der individuellen Phantasie. So kann man zwar die ambitioniertesten Photographen objektiv durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten statistischen Gruppen charakterisieren; aber wenn sie sich als solche verstehen, beziehen sie sich nicht auf diese abstrakten Kategorien, sondern auf ökonomisch und sozial definierte Gruppen. Engagement und Fanatismus können je nach der wirtschaftlichen und sozialen Lage, innerhalb deren oder gegen die sie sich ausbilden, völlig verschiedene subjektive und objektive Bedeutungen annehmen, denn sie binden ihren Stil und ihre Form der Orientierung implizit oder explizit an diese Lage.
Die verschiedenen sozialen Schichten ermutigen zur Beschäftigung mit der Photographie in unterschiedlicher Weise. Das läßt sich z.B. daran ablesen, daß der Anteil derjenigen, die zwar noch keinen Apparat besitzen, aber die Absicht hegen, eine Kamera zu erwerben, in folgender Reihe relativ gleichmäßig ansteigt: Handwerker und Kleinhändler (12,5%), Arbeiter (16,6%), Selbständige und leitende Angestellte (20%) und schließlich mittlere Angestellte und Beamte (25%). Die ausgeprägte Häufigkeit geplanter Käufe bei den mittleren Angestellten ist aufschlußreich, da diese Schicht nicht das höchste Einkommen bezieht und die Kaufabsicht die Resultante aus einem gruppenspezifischen Anspruch einerseits und den finanziellen Möglichkeiten andererseits ist. Tatsächlich werden die Unterschiede noch deutlicher, wenn diese Absicht unbefangener und ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Mittel und deren Kosten zum Ausdruck kommt. Die bewußte und entschiedene Absage an die Photographie findet sich am häufigsten bei den leitenden Angestellten und den freien Berufen, ebenso bei der Gruppe der Handwerker und Kleinhändler, während das photographische Interesse bei den Arbeitern, bei den mittleren und vor allem den niederen Angestellten überaus stark ausgeprägt ist. Auch wenn man den Absichten und Absichtserklärungen einen jeweils spezifischen Sinn unterlegen muß, auch wenn deren Modalität in den einzelnen Schichten erhebliche Abweichungen aufweist, da sie von der verbalen Beteuerung über die unentschlossene Konformität mit der impliziten »Norm« der Gruppe bis zum festen Vorsatz reichen, so verraten diese Antworten doch ziemlich klar den Wert, den jede Gruppe der Photographie zuschreibt: Erst die höfliche Zustimmung erschließt über die vorgebrachten Gründe die Stellung der Photographie innerhalb des Wertesystems, denn sie setzt in gewissem Maße ein dumpfes Bewußtsein von der Notwendigkeit der Zustimmung voraus.
Diese »Norm«, die sich in der modalen Praxis oder Meinung kundtut, ohne daß man sie deswegen mit einer »Mode« vergleichen dürfte – schuldet sie doch ihre Dauerhaftigkeit dem Umstand ihrer Verwurzelung in den Werten der Gruppe –, regelt auch die Einstellungen der Jugendlichen, die in ihrer Mehrzahl der Photographie denselben Platz einräumen wie ihre soziale Gruppe. Da das Ethos das Verhalten zwar anleitet, aber nicht explizit bestimmt, und da die von ihm objektiv auferlegten Regeln als solche nicht ins Bewußtsein der Subjekte treten, selbst wenn diese sich in ihren konformen oder abweichenden Verhaltensweisen objektiv daran orientieren, können sich die diffusen Werte innerhalb einer Gruppe fortpflanzen, ohne daß es nötig wäre, zur Ordnung zu rufen. So läßt sich denn am Beispiel der Photographie gut beobachten, wie die klassengebundenen Werte ohne jede Unterweisung übermittelt werden können. Obwohl die Photographie kein Bestandteil eines institutionalisierten Unterrichtssystems ist und keinerlei prompte und unmittelbare gesellschaftliche Rentabilität verheißt, obgleich sie, im Gegensatz zu subtileren kulturellen Aktivitäten wie dem Spielen eines Musikinstruments oder dem Besuch von Museen, niemals verordnet, ja nicht einmal durch das Beispiel anderer angeregt wird, variiert der Anteil der Kinder, die photographieren, innerhalb der verschiedenen Berufsgruppen in derselben Weise wie der Anteil der erwachsenen Photoamateure, wenn man einmal unberücksichtigt läßt, daß photographische Praxis bei den Kindern leitender Angestellter anscheinend häufiger ist als bei denen der mittleren Angestellten.43 Diese Anomalie ist leicht zu erklären: Abgesehen davon, daß die leitenden Angestellten, die ja über ein relativ hohes Einkommen verfügen, ihren Kindern eher eine aufwendige Ausrüstung sowie jene teuren Freizeitvergnügen bieten können, an die die Photographie häufig gebunden ist (beispielsweise Reisen), hängen sie offenkundig der weitverbreiteten Vorstellung an, daß die Photographie, weit davon entfernt, dem Erlernen erhabener Kunstfertigkeiten Konkurrenz zu machen, die Aufgabe einer künstlerischen Propädeutik übernehmen könne, da sie, alles in allem, in einem Zeitalter der flüchtigen Interessen eine der minder oberflächlichen Zerstreuungen darstelle.
Wenn man in den obersten Einkommensgruppen einen hohen Anteil von Personen feststellt, die zwar nicht photographieren, aber den Wunsch danach äußern und ihre Abstinenz häufig damit erklären, daß sie keine Kamera besitzen; wenn der Anteil derer, die nicht photographieren, weil sie keinen Photoapparat haben oder weil die damit verbundenen Kosten ihnen zu hoch erscheinen, quer durch sämtliche Einkommensgruppen konstant bleibt, dann deshalb, weil eine Erhöhung der Ansprüche sich im Verhalten der Praktiker sowie in den Begründungen ausdrückt, auf die sich die Nicht-Praktiker berufen, um ihre Abstinenz zu rechtfertigen: Die Weigerung zu photographieren, weil man nicht über die notwendigen Mittel verfügt, um den Kriterien einer Praxis zu genügen, die man für angemessen hält (nach dem Motto: »Wenn man schon einmal dabei ist ...«), bestätigt letztlich, daß sich die photographische Praxis jeder gesellschaftlichen Gruppe unter Berufung auf eine Norm organisiert, die Intensität, Qualität und Bedeutung der Praxis bestimmt. Jede Gruppe hat ihre eigene Vorstellung von der unabdingbaren Qualität dieser Praxis, und diese Vorstellung wirkt sich auf die Wahl der Kamera und auf die Einschätzung der Ausrüstung aus. So liegt etwa der Anteil derer, die ihre Abstinenz allein mit dem Fehlen einer Kamera rechtfertigen, bei den mittleren Angestellten ebenso hoch wie bei den Arbeitern und höher als bei den niederen Angestellten, die beide ein deutlich geringeres Durchschnittseinkommen beziehen. Dies erklärt sich daraus, daß die Normen, die die Qualität des Apparats definieren, den Mitgliedern dieser Gruppe den Kauf einer preiswerten Kamera, z.B. einer Box, verbieten, die für sie ökonomisch gesehen leicht zu erwerben wäre. Ebenso ist es die implizite Definition der Qualität der Praxis, die den Typus der Ausrüstung determiniert, die innerhalb jeder Gruppe als unerläßlich erachtet wird: Während bei den Arbeitern die modale Praxis keinerlei Zubehör erfordert, setzt sie bei den leitenden Angestellten eine komplette Ausrüstung voraus.
Indessen sind es fraglos die Verletzungen der »Norm«, die deren Realität und Macht am ehesten enthüllen, zumal dann, wenn sie wirtschaftliche Sanktionen nach sich ziehen: Die Abweichungen, die in den Statistiken nicht zum Vorschein kommen, die die ausgeübte Praxis oder die Art der Ausrüstung in Abhängigkeit vom Einkommen erfassen, werden von den passionierten oder fanatischen Amateuren eingeführt, die – unter Bruch mit der »Norm« ihrer Gruppe – jeden Zusammenhang zwischen dem Einkommen und den für den Kauf einer Ausrüstung akzeptierten Ausgaben zum Verschwinden bringen.44 Allgemeiner ausgedrückt: Wo der Rekurs auf die »Norm« der Einstellung zur Ausrüstung die Richtung weist, die die Praktiker wie die Abstinenten jeder Gruppe mehr oder weniger einhellig für unverzichtbar oder angemessen halten, da liefert er auch das leitende Prinzip der photographischen Tätigkeit jener Individuen, die mit der impliziten Gruppennorm gebrochen haben, beispielsweise das Prinzip eines unbeständigen Enthusiasmus oder das einer anhaltenden Begeisterung, die man beide häufig bei den »Devianten« findet.
Bei den Arbeitern, die insgesamt zu einer nur sporadisch ausgeübten und wenig intensiven Praxis neigen, ist die Gruppe der ambitionierten Amateure besonders klein: Trotz oder gerade wegen der für diese Schicht charakteristischen schwach ausgeprägten Neigung zur Photographie widmet sich die Hälfte der Passionierten ihrer Liebhaberei seit mehr als zehn Jahren. Eine Praxis, die in der Gruppe keinerlei Unterstützung findet, vermag nur dann zu dauern, wenn sie zur Devotion wird oder in wütenden Fanatismus umschlägt. In einer dem Photographieren wenig aufgeschlossenen Umgebung setzt eine intensive Praxis in aller Regel eine Wahl voraus, die zudem entschieden genug sein muß, um nicht an den ökonomischen Hindernissen zu scheitern, d.h. eine Wahl von Dauer. Es genügt nicht, die Intensität der Praxis einzig dem Willen zuzuschreiben, eine Ausrüstung, die (vergleichsweise) teuer war, nicht ungenutzt zu lassen. Bereits die Entscheidung für eine Kamera, die viel kostet, setzt eine Neigung oder Passion voraus, die stark genug ist, um zu überdauern, und schließt launenhaften Wankelmut im allgemeinen aus. Ganz anders liegt der Fall, wenn die teure Ausrüstung eine Art Statusattribut darstellt. Dann kann sie ebensogut ein Engagement ausdrücken wie eine kurzlebige Begeisterung.
Somit sind Form und Dauer des Engagements eine Funktion des Verhältnisses der Subjekte zu dem in ihrer Gruppe am weitesten verbreiteten Typus dieser Praxis. Man kann sich sogar fragen, ob die implizite Berufung auf die modale Praxis nicht das Grundprinzip der Devotion ist: In Ermangelung einer Tradition, die als ein Kodex von Kenntnissen und Regeln übermittelt werden könnte, in Ermangelung eines Dogmas und einer Liturgie, die zur Definition einer Hierarchie von Praktiken beitragen könnten, vermag sich die individuelle Praxis einzig durch Bezugnahme auf die modale Praxis zu bestimmen und zu regeln. Im Gegensatz zur Beschäftigung mit den sanktionierten Künsten, bei der sich der Eifer an einem Ideal messen und objektiv wie subjektiv durch Beachtung einer Anzahl fester Grundsätze ausweisen kann, die den Modalitäten des ästhetischen Handelns ihren festen Platz in einer Hierarchie zuweisen, kann die Devotion nur gelebt werden, indem sie von der üblichen Praxis abrückt und die Norm der Lauen übertritt. So kommt es, daß in einer Gruppe, in der die Voraussetzungen für die Photographie überaus günstig sind, nämlich bei den mittleren Angestellten, der Eifer nur sichtbar werden kann in der Übertrumpfung anderer, durch zusätzliche Riten wie das Entwickeln und Vergrößern der Photos: Das erklärt, daß diejenigen, die ihre Photos selbst entwickeln, in dieser Gruppe ebenso zahlreich sein können wie bei den Arbeitern, obgleich bei diesen die Neigung dazu viel stärker ausgeprägt ist, weil sie Freude an manueller Tätigkeit haben und weil sie vor allem auf Sparsamkeit bedacht sind.45
Es ist dieselbe Logik, die manche Mitgliedschaft in einem Klub von Amateurphotographen erklärt, ein Schritt, mit dem man sich von der Masse der Amateure entfernt, um die kulturelle Initiation zu erlangen. Wenn die Mehrzahl dieser Klubs die meisten ihrer Mitglieder aus sozialen Schichten rekrutiert, die der Photographie besonders aufgeschlossen gegenüberstehen (d. h. vor allem aus den Mittelschichten und hier wiederum aus dem unteren Bereich), dann zweifellos deshalb, weil hier die engagierten Amateure in ihrer Umgebung für ihren Eifer Unterstützung finden; in der Tat geht es ihnen hauptsächlich darum, zu dokumentieren, daß sie sich mit einer, wie sie meinen, allzu platten Praxis nicht zufriedengeben mögen. Im übrigen jedoch sind diese »Ästheten«, deren ästhetische Intentionen sich insbesondere bei den weniger Gebildeten auf die Negation der gängigen Normen beschränken, die die legitimen Gegenstände der Photographie definieren, angetrieben von der Hoffnung auf ein neues Normensystem, das ihnen die beruhigende Sicherheit zurückgeben könnte, deren sie sich durch ihren Bruch mit der gemeinsamen Tradition begeben haben. Es drückt sich in der Mitgliedschaft einer Sekte, die den Initiierten eine neue Geborgenheit und neue Regeln verspricht, wahrscheinlich die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer integrierten Gruppe aus, einer Gruppe, die diese Sehnsucht in ihr Gegenteil verkehrt, indem sie sich über die Negation gemeinsamer Regeln konstituiert.46
Klassenunterschiede und sich bewußt unterscheidende Klasse
Mithin ist das Verhältnis der Photoamateure – vor allem der ambitioniertesten – zur Photographie niemals unabhängig von ihrem Verhältnis zu ihrer Gruppe (oder, wenn man so will, vom Grad ihrer Integration in die Gruppe) und von ihrem Verhältnis zur modalen Praxis ihrer Gruppe (in dem ihre Lage innerhalb der Gruppe zum Ausdruck kommt), die ihrerseits eine Funktion der Bedeutung und des Platzes ist, die der Photographie von der Gruppe zugewiesen werden. Diese Zuordnung hängt einerseits von dem gruppenspezifischen System impliziter Werte sowie der Position der Photographie innerhalb des Systems der schönen Künste ab (die sich mit der Lage der Gruppe gegenüber diesem System ändert), andererseits von der Bedeutung und dem Platz, die die anderen Gruppen aufgrund derselben Logik der Photographie zuschreiben.
Und schließlich ist die – technisch wie ökonomisch – extrem leichte Zugänglichkeit des Mediums zu berücksichtigen. In der Tat unterscheidet sich das Photographieren ebenso von solchen Tätigkeiten, die zwar kostspielig sind, aber keinerlei intellektueller Vorbereitung bedürfen (z.B. der Tourismus), wie von den zwar erschwinglichen, aber nur jenem Personenkreis vorbehaltenen Beschäftigungen, der über bestimmte Grundkenntnisse verfügt (z.B. dem Besuch von Museen). Anders gesagt, nichts ist weniger esoterisch als das Photographieren, da es genügend preiswerte Kameras mit geringem Bedienungsaufwand gibt, und da die Neigung (und nicht lediglich die Befähigung) zu deren Gebrauch nicht das Ergebnis einer praktischen oder theoretischen Bildung ist. Daraus folgt, daß die Bedeutung, die dieser leicht zugänglichen Praxis verliehen wird, mitkonstituiert ist durch den – vorwiegend – negativen Vergleich mit der üblichen Praxis. Die verschiedenen Gruppen einer geschichteten Gesellschaft können die photographische Praxis unterschiedlichen Normen unterwerfen, welche zumindest darin übereinstimmen, daß sie (in je besonderer Weise) von jener Norm abweichen, welche die gängige Praxis reguliert. Das ist der Grund, warum die Photographie ein aufschlußreiches Beispiel für die Logik der Bemühung um Andersartigkeit um der Andersartigkeit willen ist oder, wenn man so will, für die Logik eines Snobismus, der kulturelle Tätigkeiten nicht an sich und für sich wahrnimmt, sondern einzig in und aufgrund einer Beziehung mit den Gruppen, die ihnen nachgehen. Dieser Differenzierungsmechanismus veranlaßt einen Teil der Angehörigen der Mittelschichten dazu, Originalität in der engagierten Beschäftigung mit einer Photographie zu suchen, die ihrer familialen Zwecksetzungen entkleidet ist, während er einen Teil der Angehörigen der Oberschicht von diesem Engagement abhält, dem das Odium des Gewöhnlichen anhaftet, weil es weit verbreitet ist.
Die bäuerliche Gesellschaft ist genügend stark integriert und ihrer Werte hinreichend sicher, um bei ihren Mitgliedern das Gebot der Konformität durchzusetzen und jeden Versuch zu vereiteln, sich durch Nachahmung der Leute in der Stadt von den anderen Mitgliedern ihrer Gesellschaft zu unterscheiden. Somit können weder die ökonomischen Hemmnisse, etwa die hohen Kosten der Ausrüstung, noch die technischen Hindernisse erklären, warum das Photographieren im bäuerlichen Milieu eher die Ausnahme ist.47 Die Bauern nutzen die Photographie lediglich als Konsumenten, noch dazu in selektiver Weise, und sie können auch gar nicht anders, weil das System der Werte, an denen sie teilhaben und die um ein bestimmtes Bild vom »typischen« Bauern angeordnet sind, ihnen untersagt, selbst zu photographieren und sich so mit den Städtern zu identifizieren.
Die Photographie erscheint hier als Luxus. Das bäuerliche Ethos macht es zur Pflicht, Geld zunächst in die Vergrößerung des ererbten Besitzes oder zur Erneuerung des landwirtschaftlichen Geräts und erst dann in Verbrauchsgüter zu investieren. Mehr noch: Jede Neuerung ist suspekt in den Augen der Gruppe, und zwar nicht nur als Absage an die Tradition, sondern vor allem deshalb, weil hinter ihr die Absicht, sich zu unterscheiden, sich von den anderen abzuheben, die anderen zu beeindrucken oder auszustechen, vermutet wird. Diese Prinzipientreue beherrscht die gesamte gesellschaftliche Existenz und hat mit Egalitarismus nichts zu tun. Im Grunde haben Ironisierung, Spott und Dorfklatsch den Zweck, den Aufschneider oder den Prahlhans, der mit seinem Versuch, Neuerungen einzuführen, anscheinend der ganzen Gemeinde eine Lektion erteilen oder sie herausfordern möchte, zur Räson zu bringen, d.h. zu Konformität und Gleichförmigkeit anzuhalten. Ob er diesen Vorsatz tatsächlich hegt oder nicht, der Verdacht bleibt auf ihm sitzen. Unter Rekurs auf die Erfahrungen der Vergangenheit und indem man alle anderen Gruppenmitglieder als Zeugen anruft, soll öffentlich bekräftigt werden, daß die Neuerung keinem wirklichen Bedürfnis entspringt.
Die kollektive Mißbilligung weist jedoch je nach Art der Innovation und dem Bereich, in dem sie auftritt, feine Nuancen auf. Betrifft sie den Bestand der landwirtschaftlichen Techniken und Anbauweisen, so wird niemals vollständig und schonungslos verworfen, da man dem Neuerer den Rechtsvorteil des Zweifels einräumt: Sein Verhalten könnte ja, gegen den Anschein, einer höchst lobenswerten Absicht entspringen, nämlich dem Wunsch, den Wert des ererbten Besitzes zu erhöhen – er handelt dann zwar gegen die bäuerliche Tradition, aber er handelt als Bauer. Auch kann sich die moralische Verurteilung in die Sprache der Skepsis des Technikers und des »Mannes von Erfahrung« kleiden: Die Strafe wird aus dem Gang der Dinge selbst folgen. Da der Neuerer das Risiko auf sich nimmt, einen Fehlschlag zu erleiden und sich lächerlich zu machen, verdient er immerhin Respekt.
Allerdings empfindet die Gemeinde jede Neuerung, von der sie argwöhnt, daß sie der rationalen oder plausiblen Rechtfertigung entbehre, als Provokation oder Ketzerei. Tatsächlich zwingt ein großtuerisches oder als solches gedeutetes Verhalten ähnlich wie ein Geschenk, das jedes Gegengeschenk ausschließt, die Gruppe in die Lage der Unterlegenheit und kann nur als Affront erlebt werden, der ihre Selbstachtung verletzt. In diesem Fall erfolgt die Sanktion unverzüglich: »Was der sich einbildet!« »Für wen hält er sich?«
Die Mißbilligung ist indes nicht bloß abhängig von der Art der Neuerung, sondern auch von der Situation und dem Status des Neuerers. Da man sie mit dem Leben in der Stadt in Verbindung bringt, vermutet man in der Photographie die Imitation städtischer Gewohnheiten. Sie wirkt als Ausdruck der Lossagung – als Gestus des Parvenüs. Ihn sieht man so, wie der Landmann die »Urlauber« sieht, d.h. die abgewanderten Dorfbewohner, die im Sommer zurückkehren, um hier ihre Ferien zu verbringen. Noch die beiläufigste ihrer Handlungen wird zum Gegenstand von Kommentaren, und selbst ein geringfügiger Verstoß gegen die Bräuche wird ihnen als Dünkel und Provokation ausgelegt:
»Im allgemeinen hat man die Amateurphotographen scheel angesehen. Dazu muß man sagen, daß der Eindruck entstand, als würden sie sich über die Bauern lustig machen, die mitten bei der Arbeit waren. Und überhaupt, die waren ja bloß zum Urlaub hier ...«
»M.F. hat Photos gemacht und wollte mich dauernd aufnehmen. Das war vielleicht ein Zirkus! [...] Ich habe sie abblitzen lassen, weil ich Angst hatte, daß die anderen sich über mich lustig machen würden. Ich habe mich geniert, weil meine Mutter gesagt hat: ›Sie spielt sich auf, sie kommt nur von Paris, um hier anzugeben.‹ In Paris leben, mit einer jämmerlichen Stelle, nichts zu beißen haben, aber mit einem Photoapparat ankommen! [...] Damit hatte die jedes Maß verloren. Sie wollte immer Familienbilder machen, aber meine Mutter ging gar nicht darauf ein: ›Das ist alles Angeberei. Sie kommt mit ihrem Apparat an, um aufzufallen, damit alle Welt weiß, daß sie in Paris ist‹, usw. Man darf eben nicht aus der Reihe tanzen und auffallen.«