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»Ich sondere alle familiären Erinnerungsbilder aus, die die Atmosphäre nicht wiedergeben und keinerlei ästhetische Merkmale aufweisen oder zur Pose erstarrt sind. Ich will keine traditionellen Photos, auf denen Einzelne oder Gruppen zu Füßen des Parthenon posieren. Ich hasse das Gedränge der Touristenscharen in Shorts zwischen den Ruinen des Parthenon. Im letzten Sommer habe ich 20 Minuten gewartet, bis ich eine Säulengruppe photographieren konnte, ohne daß mir irgendwelche Touristen vor die Kamera gelaufen sind.« (Lehrerin, 30 Jahre)
Weil ihnen die erlesenen Praktiken untersagt sind, erscheinen den niederen und mittleren Angestellten die engagierte Photographie, der Ästhetizismus des Armen, ja alle sekundären Kulturpraktiken, sei es die Lektüre populärwissenschaftlicher Zeitschriften wie Historia oder Science et Vie, sei es die Aneignung besonderer cineastischer Kenntnisse, als ein ihnen erreichbares Mittel, sich von anderen zu unterscheiden.71 Und in dem Maße, wie sie sich nur negativ bestimmt, bleibt die verneinende Ästhetik der passionierten Amateure in der Wahl ihrer Gegenstände oder in der Art, diese abzubilden, der Ästhetik der »einfachen Leute« verhaftet, die sie gleichwohl verleugnet.
Ob und inwieweit die Haltung der mittleren Angestellten und Beamten tatsächlich originell ist, ermißt man, wenn man sich klarmacht, daß die höheren Angestellten und Beamten weniger häufig photographieren, obwohl sie über ein höheres Einkommen verfügen und ihr Lebensstil ihnen zahlreiche und verschiedenartige Anlässe zum Photographieren bietet. Zwar ist der Besitz einer Kamera bei ihnen weiter verbreitet; aber das ist keineswegs ein Indiz für eine häufigere, geschweige denn ambitioniertere Praxis72: Selbst bei ansehnlicher Ausrüstung erscheint dieser Besitz eher als Reflex des Einkommens denn als Zeichen von Engagement. Der leichte Zugang zu den teuersten Kameras und dem aufwendigen Zubehör ist nicht zwangsläufig mit einer enthusiastischen Praxis verknüpft.73 Der Prozentsatz der passionierten Photographen liegt bei den höheren Angestellten und Beamten niedriger, wobei der Mehrbetrag an Einkommen und Freizeit in Verbindung mit einer Erweiterung und einer größeren Vielfalt der Reiseziele lediglich die Zahl der Saisonphotographen erhöht.
Wir haben es also bei den höheren Angestellten und Beamten mit ambivalenten Haltungen zu tun. Einerseits sind sie geneigt, dem Photographieren einen künstlerischen Wert beizumessen, und sie lehnen in ihren Äußerungen ziemlich durchgängig eine Beschränkung auf deren traditionelle Funktionen ab: das Horten von Familienerinnerungen und die Illustrierung bedeutsamer Ereignisse. Andererseits bezeugt ihr praktisches Verhalten, daß sie der Photographie nicht wirklich den Wert zugestehen, den sie ihr in ihren Beteuerungen anheften – in ihrer im allgemeinen wenig intensiven Praxis haben die traditionellen Funktionen ein beträchtliches Gewicht. Je weiter man sich von den abstrakten Urteilen entfernt, die auf die Photographie generell gemünzt und auf universelle ästhetische Prinzipien reduzierbar sind, und je mehr man sich an konkrete Äußerungen hält, die, indem sie den Rückgriff auf theoretische Kenntnisse ausschließen, indirekt zu einer Rückbesinnung auf die Erfahrung einladen, d.h. auf die tatsächliche Praxis, um so deutlicher wird, daß die höheren Angestellten und Beamten die ästhetischen Ambitionen, die sie abstrakt beteuern, preisgeben, während die mittleren Angestellten relativ häufig an virtuoser Praxis festhalten.74 Muß man daraus schließen, daß die Urteile, mit denen sie der Photographie den Status einer Kunst zuerkennen, lediglich eine verbale Reverenz sind, die im praktischen Verhalten keine Entsprechung hat?75 In Wirklichkeit sind die Ambivalenzen und Widersprüche zwischen den Aussagen der Befragten und ihrem Verhalten letztlich wohl auf die Stellung der Photographie innerhalb des Systems der schönen Künste zurückzuführen. Einerseits ist sie wie jede Praxis, die sich künstlerischen Werten verpflichtet, eine Möglichkeit zur Umsetzung der ästhetischen Haltung, eine fortwährende und generelle Disposition; weil jedoch andererseits die photographische Praxis, selbst in ihrer vollendeten Version (und erst recht in der Form, die ihr jeder Amateur gibt) innerhalb der Hierarchie künstlerischer Tätigkeiten einen sehr niedrigen Rang einnimmt, fühlen sich die Amateurphotographen nicht bindend gehalten, ihre ästhetische Erfahrung in der Photographie zum Ausdruck zu bringen.76 Das erklärt, warum die sachliche Zustimmung zu den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie, die sich gelegentlich in Trotz oder Provokation äußert77, mindestens ebenso häufig ist wie der künstlerische Ehrgeiz, und zwar sowohl bei verschiedenen Personen wie bei ein und demselben Befragten.
Kurz, die Photographie kann als Kunst gelten, und sie ist niemals mehr als eine Kunst zweiter Ordnung. Daher bleibt auf diesem Gebiet die Barbarei oder die Inkompetenz ebenso folgenlos wie die Virtuosität: Zurückhaltende Zustimmung und nüchterne Ablehnung sind zwei ähnliche Verfahren, den relativen Wert auszudrücken, den man der Photographie beimißt, »eine Ausdrucksmöglichkeit, die wenig kostet und den Unbegabten vorbehalten ist« (höherer Angestellter, 42 Jahre). Die Befragten mit dem höchsten Bildungsgrad, die in ihren Kommentaren zur Ästhetik der Photographien überaus beredsam sind, hüten sich vor begeisterter Zustimmung und unbefangener Schwärmerei. Sic nehmen die Photographie für eine Möglichkeit, ästhetische Geschmäcker und Kenntnisse, die durch die Ausübung anderer Kunstfertigkeiten erworben wurden, anzuwenden:
»Ich bringe in die Photographie ästhetische Vorstellungen ein. Mein Urteil schaltet sich ständig ein, damit ich keine simplen Urlaubsphotos mache.« (Anwalt, 30 Jahre)
Jede Äußerung über die Photographie nimmt den Charakter eines Kunstgriffs an, einer rhetorischen Übung; man spielt hier mit Gefühlen oder Geschmäckern, die ihrem eigentlichen Gegenstand nicht entsprechen. Da sie keine wirkliche gesellschaftliche Sanktionierung genießt, vermag die Photographie ihren Wert einzig aus dem Willensdekret des Betrachters zu ziehen, der sich je nach Lust und Laune und nicht aufgrund kultureller Erfordernisse dafür entscheidet, ihr wie zum Scherz und für einen Augenblick die Würde eines Kunstgegenstandes zu verleihen. Anders ausgedrückt: Die ambitionierte Photographie kann sich nur so lange halten, solange die sanktionierten kulturellen Aktivitäten, etwa der Besuch von Konzerten oder Theaterinszenierungen, Museen oder Kinovorführungen, ihr keine Konkurrenz machen und sie entwerten. Ein Indiz dafür ist, daß die höheren Angestellten und Beamten in Paris, von denen man weiß, daß sie weit mehr als die übrige Bevölkerung an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, viel seltener photographieren als die Bewohner einer Kleinstadt wie Lille. Auch photographieren die Söhne von höheren Angestellten und Beamten zwar in ihrer Jugend häufiger als die von mittleren und kleinen Angestellten, als Erwachsene jedoch sehr viel seltener als diese.78 In der Gruppe der Sprach- und Literaturstudenten ist bei den Söhnen der mittleren Angestellten der Anteil der Photographen konstant höher als bei den Söhnen der leitenden Angestellten – das genaue Gegenteil gilt im Hinblick auf die besonders bevorzugten kulturellen Praktiken (mit Ausnahme des Besuchs von Filmklubs).79 Ähnliche Konkurrenzerscheinungen lassen sich in anderen Bereichen feststellen: Wenn trotz unterschiedlicher Einkommen die leitenden Angestellten und Beamten kaum mehr Fernsehgeräte besitzen (35,8%) als die mittleren Angestellten und Beamten (31,5%), wenn der Besitz eines Plattenspielers fast regelmäßig den Besitz eines Fernsehgeräts ausschließt und umgekehrt, wenn die leitenden Angestellten ausdrücklich betonen, daß sie von ihrem Fernsehapparat einen selektiven Gebrauch machen80, so zweifellos darum, weil die sozial hochgeschätzten Praktiken die weniger geachteten relativieren, vielleicht aber auch, weil die Angehörigen der Oberschicht ihre Distanz zu Zerstreuungen kenntlich machen wollen, die allein schon durch ihre weite Verbreitung mit dem Verdacht des Vulgären behaftet sind.81
Kann man sich letztlich damit begnügen, auf den kulturellen und künstlerischen Status der Photographie zurückzugreifen, um die Zwiespältigkeit der von ihr hervorgerufenen Haltungen zu begründen? Ein umfassendes Verständnis der Verhaltensweisen setzt das Studium der Ideologien voraus, die gegenüber falschen Systematisierungen und systematischen Deformierungen die gelebte Logik des Verhaltens formulieren und daher eine der entscheidenden Vermittlungen zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven bilden. Ein Vergleich der Praxis mit den Erklärungen über die Zwecke, die ihr explizit zugeschrieben werden, ermöglicht es, zugleich mit der Erfahrung der legitimen Regel auch der Logik habhaft zu werden, nach der diese sich in Handlungsbegründungen oder -rechtfertigungen übersetzt, d.h. in allgemeine Urteile über die photographische Praxis und den Wert der Photographie ebenso wie in empirische Fragestellungen zur eigenen Praxis oder der der anderen. Aufgefordert, ihre Meinung über zwei in ihrer Modalität höchst unterschiedliche Typen von Urteilen abzugeben, nämlich einerseits abstrakte und allgemeine Behauptungen über den ästhetischen Wert der Photographie, die, wie die Thematiken der Dissertationen, nicht der realen Praxis und den sie inspirierenden Absichten nachspüren, sondern die dazu verführen, eine ästhetische Disposition oder eine Disposition zur Ästhetik aufzudecken82, und andererseits Behauptungen über die allgemeine Praxis, die, als der Alltagssprache entlehnte Klischees, die gemeinsame Erfahrung formulieren, indem sie sie karikieren83, erweisen sich die Angehörigen der Oberschicht eher geneigt als die übrigen, die Photographie mit einem ästhetischen Wert auszustatten, und gleichzeitig weniger bereit, ihr als praktischer Tätigkeit Bedeutung zuzuerkennen.
Die Widersprüche in den Aussagen der Befragten sind mehr als bloß ein ideologisches Epiphänomen. Obgleich sie sowohl über die materiellen Voraussetzungen einer Praxis, die an ausgesprochen ästhetischen Zielen orientiert ist, d.h. über die entsprechenden ökonomischen Mittel, als auch über die künstlerische Bildung und die Anlässe für eine Praxis verfügen, die (hauptsächlich aufgrund des Tourismus) ein breites Spektrum von Gegenständen einschließt, messen die höheren Angestellten den traditionellen Gebrauchsweisen der Photographie eine ähnliche Bedeutung bei wie die Angehörigen der Unterschicht. Als Gegenstand zahlreicher Stereotypen impliziert die Beschäftigung mit der Photographie zweifellos mehr als jede andere Aktivität (vielleicht mit Ausnahme des Tourismus) ein Bewußtsein des objektiven Bildes dieser Praxis. Und jeder Amateur bezieht sich objektiv, in seiner eigenen Praxis, auf das Bild, das er von der Praxis der anderen hat, sowie auf das Bild, das die anderen von seiner Praxis haben. Liegt es nicht daran, daß sie die Photographie als vulgär wahrnehmen, wenn die Angehörigen der Oberschicht es ablehnen, in ihr etwas zu sehen, was Anstrengung und leidenschaftliche Hingabe verlohnte? »Mein Mann macht keine Photos. Er weiß, was er sich schuldig ist«, meinte die Frau eines höheren Angestellten, der seine Einstellung so begründete:
»Ich möchte keine Photos machen, weil alle Welt mehr als genug davon macht. Die Leute sehen nicht mehr, sondern denken nur noch ans Photographieren. Das ist absurd ...«
Wer in solchen Auskünften lediglich Rationalisierungen erblicken wollte, die die Wirklichkeit eher verdecken als öffnen, der fiele einem methodologischen Irrtum zum Opfer. Tatsächlich gibt es eine regelrechte spontane Soziologie, die aus satirischen Anekdoten und kritischen Halbreflexionen über die Lächerlichkeit bestimmter Photoenthusiasten besteht.84 Die Gemeinplätze der Konversation werden durch die Karikaturen in den Illustrierten, die komischen Geschichten in Chansons und bestimmten gutverkäuflichen Büchern transportiert und verstärkt, die die Sitten und Gebräuche der Zeitgenossen zu schildern und zu analysieren vorgeben. Wie anders ließe sich der Erfolg der Bücher eines Pierre Daninos erklären? Sie bestätigen diejenigen, die sie lesen, in der Gewißheit, daß sie die richtige Lebensart haben, im Gegensatz zu den ausgefeilten Ambitionen der aristokratischen Schichten und der Vulgarität der Mittelklassen, die sich im passionierten Photographieren oder Fernsehen ausdrücken.85 Die Ironie von Daninos, der den naiven Eifer der fanatischen Photoamateure verurteilt und über deren lächerliche Photoausrüstung beißenden Spott ausgießt, entlehnt ihre Motive der allgemeinen Konversation, die beruhigend wirkt, indem sie die Gewißheit der anderen bestätigt:
»Ich hege eine aufrichtige Bewunderung für alle diese Leute, die Spanien oder Italien mit Siebenmeilenstiefeln durchqueren, behängt mit Täschchen, Etuis, Entfernungsmessern, Wechselobjektiven, Belichtungsmessern und Farbthermometern (›um die Farbtemperatur zu messen‹), und die, ohne jemals auch nur einen Knopf an einer ihrer Umhängetaschen oder die kleinste Filmspule zu verlieren, mit Riesenschritten ins Leica-Zeitalter eintreten.«86
Hinter der Komik des Verhaltens wird die Einstellung zur Kultur sichtbar, wie sie sich vor allem im Tourismus bekundet:
»Was ich an diesen Kleinbildkameras am meisten furchte, das ist das Erlebnis dieses schrecklichen Sklavendaseins, zu dem sie eine Unzahl von Menschen verdammen, die wahrhaftig ein besseres Los verdient hätten. Sobald sie im Urlaub an einem vom Reiseführer empfohlenen Aussichtspunkt oder Turm ankommen, denken diese Reisenden zuallererst an ihren Apparat. [...] Statt die Landschaft mit den Augen zu betrachten, die sie im Kopf haben, beeilen sich diese Leute, sie von diesem dritten Auge bewundern zu lassen, das sie vor ihrem Bauch tragen.«87
In Unkenntnis der hohen Praxis der Kontemplation ohne Worte und Gesten, die vor bestimmten Landschaften oder Monumenten geboten wäre, verzehrt sich der unverbesserliche Photograph in seiner mühseligen Suche nach Bildern. Da er verlernt hat, das anzuschauen, was er photographiert88, reist er, ohne zu sehen, und kennt stets nur das, was der Apparat wiedergibt.89 In der Satire auf die passionierten Photographen und die photographische Besessenheit bringt die doxá von Daninos indirekt die Regeln der touristischen und der photographischen Praxis zum Ausdruck, die von der Oberschicht anerkannt werden. Sich zu den Normen der eigenen Gruppe konform zu verhalten, bedeutet demnach die Ablehnung einer vulgären Praxis und die Leugnung der Normen jener Gruppen, von denen man sich zu unterscheiden wünscht. Diese Normen erscheinen dem Bewußtsein lediglich in Gestalt negativer Gebote, die die Angst schüren, sich lächerlich zu machen. Sie können negativ sein, ohne sich auf die simple Negation der Normen anderer Gruppen zu beschränken. In der Ablehnung einer vulgären Praxis bezeugt sich ein Zwang zur Unterscheidung, welcher der Logik des Klassenethos folgt. Die Kleinbild-Fanatiker setzen die mühsame Askese der Aneignung (die sich im Französischen in dem Wort »faire« ausdrückt, z.B. in der Redewendung »faire l’Italie«) an die Stelle der Kontemplation, die angstvolle Akkumulation von Erinnerungen als Spuren und Belege ihrer »Produktivität« an die Stelle des interesselosen Ästhetizismus, der in der unmittelbaren Emotion zu sich selbst findet. Eine solche Einstellung verhält sich zu den sanktionierten Attitüden wie der Fleiß zur Begabung, wie die erworbenen Kenntnisse zur »natürlichen Qualifikation«. Die Vorstellung, die sich die Oberklassen von der touristischen und photographischen Praxis machen, unterliegt offenbar demselben charismatischen Prinzip wie ihre Vorstellung von »kultivierter Haltung«, ja, ihre Haltung zur Kultur überhaupt.
Das Streben nach Statusunterschieden (das sich auf allen Stufen der sozialen Hierarchie beobachten läßt) verstärkt also lediglich die Klassenunterschiede. Da es keine Instanzen gibt, die eine Hierarchie von Praxistypen und eine allgemein akzeptierte Rangordnung der konformen Verhaltensweisen zu definieren vermöchten, können Verfeinerung und Differenzierung im Bereich der Photographie einzig in der Gegnerschaft zur Vulgarität sichtbar werden – die Angehörigen der Oberklassen können sich nur negativ definieren, gleichgültig, ob sie eine gute Photographie kennzeichnen als »ein Werk, das mit dem der anderen nicht vergleichbar ist«, oder ob sie in ihrer ästhetischen Wahl darauf zielen, »nicht einfach die üblichen Urlaubsbilder zu machen«. Kurz, selbst im günstigsten Fall ist die photographische Praxis kaum jemals auf spezifisch und streng ästhetische Zwecke gerichtet. Abgesehen davon, daß das Unterfangen, weil es sich nicht auf Sprache und begründete Normen stützen kann, besonders schwierig ist, verwirklicht sich die ästhetische Absicht, die immer schon eine von vielen Formen des Strebens nach Unterscheidung oder, wie man sagt, »Distinguiertheit« war, letztlich in der Tat nur mittels der Negation, also ebensowohl in einer Praxis, die mit der allgemeinen Laxheit bricht, wie in dem Verzicht auf jederlei Praxis.
Ihrer sozialen Funktion verdankt die Photographie ihre immense Verbreitung, aber auch ihre Eigentümlichkeiten und, nicht zuletzt, sogar die Grenzen dieser Verbreitung. Daß die photographische Praxis stärker als jede andere kulturelle Tätigkeit einem natürlichen Bedürfnis zu folgen scheint, hängt fraglos mit ihrer Verbreitung zusammen, aber auch damit, daß sie, anders als das Interesse für Museen oder Konzerte, über keine Institution verfügt, die sie explizit vergesellschaftete oder sie förderte, und daß die mit ihr verbundenen Prestigegewinne nicht gravierender sind als die Mißbilligung, der der Verzicht auf sie anheimfällt.90 Weder natürlich noch bewußt erzeugt, ist das Bedürfnis nach Photographien und photographischer Praxis nichts anderes als der Reflex ihrer sozialen Funktion im Bewußtsein der Subjekte. Da sie keine methodische Bildung zur Voraussetzung hat, verwundert es nicht, wenn sie einerseits, trotz wirtschaftlicher Barrieren, weit verbreitet ist, und wenn andererseits die Bildungs-, d.h. Klassenunterschiede in ihr nicht so nachhaltig und deutlich hervortreten wie bei anderen kulturellen Tätigkeiten, die eklatant Bildungsunterschiede aktualisieren. Die Entscheidung für bestimmte Radioprogramme zum Beispiel ist – vermittelt über das Bildungsniveau – ähnlich eng an die Schichtzugehörigkeit gebunden wie das Interesse für Museen, und die Haltung der Hörer ist um so selektiver und aufnahmewilliger, je gebildeter sie sind.91 Woran liegt es, daß die Beschäftigung mit Photographie sich für die Aktualisierung solcher Einstellungsunterschiede nicht sonderlich eignet? Sicherlich kommt Bildungsbeflissenheit leichter im Fall schlichten Konsumierens zum Ausdruck, etwa beim Anhören von Radiosendungen, als in einer praktischen Tätigkeit. Und zweifellos kann sich (zumal bei den Angehörigen der Mittelschicht) der »Wille zur Bildung« in verbalen Bekenntnissen erschöpfen. Aber man sollte sich davor hüten, den Gegensatz zu übertreiben: Tatsächlich kann das Anhören von Radiosendungen nicht weniger Aktivität signalisieren als das Photographieren, sofern ihm eine Wahl zugrunde liegt und sofern es Aufnahmebereitschaft voraussetzt. Im übrigen genügt die bloße Absicht, sich von anderen zu unterscheiden, niemals zur positiven Bestimmung von Praxis. An der kulturellen Lage der Mittelklassen läßt sich ablesen, daß die Verneinung einer Konvention noch nicht das Tor zur Wahrheit ist. Die undifferenzierte Ablehnung der Ästhetik und Praxis der unteren Volksschichten kann sehr wohl zum Ergebnis haben, alles gutzuheißen, was, jedenfalls auf den ersten Blick, anders als das Abgelehnte ist.
Die Verwirklichung der künstlerischen Absicht ist in der Photographie deshalb so schwierig, weil sie sich nur schwer der Funktionen zu entledigen vermag, denen sie ihre Existenz verdankt.92 Es wäre naiv zu glauben, daß mit der Photographie zugleich die ästhetische Erfahrung allen zugänglich sei: Tatsächlich wirkt hier dasselbe Prinzip, aufgrund dessen die Photographie eine weitverbreitete Praxis und lediglich in seltenen Fällen der Hebel einer ästhetischen Erfahrung ist. Da sie fast immer bewußte oder unbewußte soziale Funktionen übernimmt und eng an das Familienleben, seine Werte und Rhythmen gebunden ist, sind ihre Begründungen ebenso wie ihre Existenzberechtigung geborgt. Die traditionellen Normen der Praxis setzen sich um so gründlicher durch, je mehr die Praxis selbst sich durchsetzt. So kommt es, daß ceteris paribus die Personen, die nicht photographieren, weit häufiger als die Photographen selbst gegenüber der Photographie eine ästhetische Position einnehmen, übrigens vorzugsweise gegenüber den Produkten der anderen. Der Photograph, der seine Photos anderen zeigt, verfährt im Gegensatz zum Maler mißbräuchlich, da das photographierte Subjekt, das kein universelles Subjekt ist, sich nicht an die Gesamtheit der Betrachter wendet. Wenn ich selbst dem Kind, das ich photographiere, oder der Photographie eines Kindes anders gegenübertrete als dem gemalten Kinderbildnis (weil es das eigene Kind oder die eigene Photographie ist), dann kann ich nicht von anderen erwarten, diese Photographie wie ein Kinderbildnis zu betrachten, und falls sie dies dennoch tun, steht es ihnen frei, darin nichts Interessantes zu entdecken.
Wenn es nun aber »natürlich« ist, daß die Amateure sich nur selten von den traditionellen Funktionen der Photographie lösen, wie ist dann zu erklären, daß die ästhetischen Ansprüche häufiger in Praxisverweigerung als in anspruchsvoller Praxis zum Ausdruck kommen? In Wirklichkeit genießt die Photographie nur als eine Institution Achtung, die durch ihre soziale Funktion aufrechterhalten wird; der Wille zu einer ambitionierten Praxis, die sich an ausschließlich und spezifisch künstlerischen Zwecken orientiert, verliert sich in aller Regel in einer negativen Ästhetik oder mündet in den Verzicht auf jede Praxis (indem er sich selbst verleugnet). Der Grund dafür ist, daß die gesellschaftlichen Klassen sich auf diesem Gebiet nur voneinander unterscheiden können, indem sie auf je besondere Weise von der gängigen Praxis abweichen. Die Aktualisierung der ästhetischen Intention gelingt hier sehr schwer, nicht nur, weil die Aufhebung jener Funktionen, denen die Praxis gemeinhin dient, schwieriger ist als in anderen Fällen, sondern auch, weil in der Vorstellung, die man sich von der Photographie und deren künstlerischem Wert macht, allzu oft der Vorsatz dominiert, sich eher durch Abstinenz oder nüchterne Zustimmung als durch ästhetische Arbeit von anderen abzuheben: Angesichts ihres minderen Ranges in der Hierarchie der Künste scheint die Photographie weder Anstrengung noch Opfer zu lohnen. Der Versuch, eine künstlerische Absicht über die Photographie zu verwirklichen, erscheint übertrieben, weil es an Modellen und Normen gebricht, und weil die Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks oder des Schöpferischen hier weit mehr in der Wahl des Gegenstandes begründet liegen als in der Art und Weise, ihn photographisch zu erfassen, die, wie man glaubt, nur begrenzt der Variation fähig ist. Freilich hängen diese drei Gründe eng miteinander zusammen. Fraglos würde die ästhetische Gebrauchsweise sich stärker durchsetzen, wenn die Photographie eine sanktionierte Kunst wäre. In diesem Fall wäre die Verwirklichung der ästhetischen Intention sehr viel einfacher, weil ihr ein Kodex von Prinzipien und Geboten zur Verfügung stünde, der eine autonome Ästhetik der Photographie definierte, und weil sie in sanktionierten Modellen jene ästhetischen Gewißheiten fände, die eine Praxis anzuleiten vermöchten, die von ihrem künstlerischen Wert überzeugt wäre.93
Wenn das richtig ist, dann wird verständlich, daß die Individuen, die die Photographie als künstlerische Tätigkeit auffassen, eine Minderheit von »Abweichlern« sind, gesellschaftlich bestimmt durch größere Unabhängigkeit im Hinblick auf die Bedingungen, die die Praxis der Mehrheit nicht nur in ihrer Existenz determinieren, sondern auch in ihren Gegenständen, ihren Anlässen und ihrer »Ästhetik« sowie durch ein besonderes Verhältnis zur »hohen Kultur«, das an ihre Situation in der Gesellschaft gebunden ist. Dieselben Gründe, die die gebildeten Klassen von der Photographie abhalten, veranlassen bisweilen Angehörige der Mittelklassen, sie als einen zugänglichen Ersatz für sanktionierte Tätigkeiten zu interpretieren, die ihnen verwehrt bleiben.
* Gemälde von Jean-François Millet, 1814–1875 (A.d. Ü.)
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