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Heimkehren zur liebevollen Gegenwärtigkeit
Einen Monat nach meinem Gespräch mit Pam rief sie mich an, um mir mitzuteilen, dass Jerry gestorben sei. Und sie erzählte mir, was nach unserem Gespräch geschehen war. Als sie an jenem Abend nach Hause kam, hatte sie Jerry eingeladen, still mit ihr zu beten. »Als wir fertig waren«, sprach sie weiter, »haben wir einander erzählt, worum wir gebetet hatten. Ich sagte ihm, wie sehr ich mir wünschte, dass er meine Liebe spürt.« Pam schwieg einen Moment, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme rau. »Er hatte um genau dasselbe gebetet …, nur umgekehrt. Wir umarmten uns und weinten zusammen.«
Pam gab zu, wie sehr sie selbst in jenen letzten Wochen mit dem Impuls zu kämpfen hatte, sich nützlich zu machen, geschäftig zu sein. Eines Nachmittags fing Jerry an, darüber zu sprechen, dass ihm nur noch wenig Zeit bliebe und dass er sich nicht vor dem Tod fürchte. Sie hatte sich über ihn gebeugt, ihm einen Kuss gegeben und rasch erwidert: »Ach, mein Lieber, heute war ein guter Tag, heute scheinst du mehr Kraft gehabt zu haben. Ich mache dir einen Kräutertee.« Er verfiel in Schweigen, und die Stille erschütterte sie. »Mir wurde in diesem Moment so deutlich, wie sehr es einzig und allein darum ging, einander zuzuhören, ganz präsent zu sein, und wie sehr uns alles andere nur trennte. Ich wollte nicht laut zugeben, was vor sich ging; das machte es so real. Also wich ich aus, indem ich Tee machte. Doch indem ich der Wahrheit auswich, entfernte ich mich von ihm, und das war herzzerreißend.«
Während sie den Tee zubereitete, betete Pam und bat darum, mit ganzem Herzen für Jerry da zu sein. An diesem Gebet orientierte sie sich in den Tagen, die danach kamen. »Im Laufe der letzten paar Wochen musste ich all meine Vorstellungen davon loslassen, wie sein Sterben sein sollte und was ich noch tun sollte, und erinnerte mich immer wieder daran, zu sagen: ›Ich lasse es zu.‹ Zuerst wiederholte ich die Worte nur mechanisch, aber nach ein paar Tagen spürte ich, wie mein Herz tatsächlich anfing, zuzulassen.« Sie beschrieb, wie sie innehielt, wenn starke Gefühle aufwallten, um innerlich wahrzunehmen, was gerade vor sich ging. Wenn sich ihr Bauch vor Angst und Hilflosigkeit zusammenzog, verweilte sie bei diesen Gefühlen und ließ ihre tiefe Verletzlichkeit zu. Wenn der rastlose Drang, »etwas zu tun«, auftauchte, nahm sie ihn wahr, blieb ruhig und ließ ihn wieder verebben. Wenn die Wellen der Trauer sie überrollten, sagte sie sich: »Ich lasse es zu«, und öffnete sich der schmerzhaften Schwere des Verlustes.
Die präsente Nähe zu ihrem inneren Erleben ermöglichte es Pam, ganz für Jerry da zu sein. »Als alles in mir die Angst und den Schmerz wirklich zuließ, wusste ich, wie ich für ihn sorgen kann. Ich spürte, wann es Zeit war, Worte der Ermutigung zu flüstern, und wann es einfach darum ging, zuzuhören, ihn mit Berührung zu beruhigen, für ihn zu singen, mit ihm still zu sein. Ich wusste, wie ich mit ihm sein kann.«
Am Ende des Gesprächs erzählte mir Pam, was für sie das Geschenk jener letzten Tage mit Jerry war und wie ihre Gebete erhört worden waren: »In der Stille schaute ich jenseits von ›er‹ und ›ich‹. Ich erkannte, dass wir uns in einem Feld des Liebens befanden – totale Offenheit, Wärme und Licht. Er ist jetzt von uns gegangen, aber dieses Feld des Liebens ist immer bei mir. Mein Herz weiß, dass ich heimgekehrt bin …, wirklich heimgekehrt zur Liebe.«
Lernen, sich den Wellen anzuvertrauen
Pams Bereitschaft, sich ganz auf ihre innere Erfahrung einzulassen, wie schmerzhaft sie auch sei, ermöglichte es ihr, sich mit der endlosen Weite der Liebe zu verbinden. Ihre zunehmende Fähigkeit zur Präsenz, ihre Bereitschaft, sich der Wahrheit ihrer Erfahrung in jedem Augenblick zu stellen, ließ sie mitten in einem großen Verlust nach Hause finden. Gegenwärtigkeit ist die Essenz wahrer Zuflucht.
Eine andere Art von Verlust hatte mich zu meinem ersten buddhistischen Retreat getrieben. Mein Sohn Narayan war zu jener Zeit vier Jahre alt, und ich stand kurz vor der Scheidung. Ich hatte bereits erlebt, wie gut mir die buddhistische Meditation tat, und hoffte, eine Zeit intensiver Praxis würde mir helfen, mit meinen Ängsten und meinem Stress umzugehen. Ich hatte Narayan zu meinen Eltern in New Jersey gebracht und fuhr durch dichtes Schneegestöber zu dem Retreatzentrum in Massachusetts. Auf dieser langsamen Fahrt durch die Kälte hatte ich jede Menge Zeit, um darüber nachzudenken, was mir wirklich wichtig war. Ich wollte nicht, dass die Liebe, die ich immer noch für meinen Mann empfand, durch die Trennung verschüttet würde. Ich wollte nicht, dass wir füreinander zu rücksichtslosen, gar feindseligen Fremden würden. Und mir lag daran, dass sich Narayan trotz unserer Trennung sicher und geliebt fühlte. So betete ich aus tiefstem Herzen, in all dem, was vor sich ging, einen Weg zu finden, mit meinem Herzen verbunden zu bleiben.
Im Laufe der stundenlangen stillen Meditationen der folgenden fünf Tage kreiste ich viele Male durch klare, aufmerksame Geisteszustände und Phasen, in denen mich die Müdigkeit übermannte, mich körperliches Unwohlsein plagte oder ich in Gedanken abschweifte. An einem Abend verlor ich mich in Gedanken über die kommenden Monate: Sollten wir für den Scheidungsprozess Anwälte oder einen Mediator einschalten? Wann sollten wir auseinanderziehen? Und vor allem: Wie konnte ich in dieser schmerzhaften Übergangsphase für meinen Sohn da sein? Jeder sorgenvolle Gedanke, der auftauchte, lockte mich, alles durchdenken und innerlich klären zu wollen. Doch etwas in mir wusste, dass ich bei den unangenehmen Gefühlen in meinem Körper zu bleiben hatte. Ein Vers von Ryôkan, einem Zen-Dichter aus dem 18. Jahrhundert, kam mir in den Sinn: »Um das Buddha-Dharma zu finden, treibe nach Osten und Westen, komme und gehe, vertraue dich den Wellen an.«
Der »buddhistische Weg« bezieht sich auf die Wahrheit davon, wie die Dinge wirklich sind. Wir können die Natur der Wirklichkeit erst verstehen, wenn wir aufhören, unsere Erfahrung kontrollieren zu wollen. Es gibt keinen Weg, zu erkennen, was vor sich geht, solange wir auf einer gewissen Ebene versuchen, das Unwetter zu ignorieren oder ihm auszuweichen. Während der letzten paar Tage des Retreats versuchte ich wieder und wieder, loszulassen, doch meine lang erprobte Strategie, um mich besser zu fühlen − wiederholtes Darüber-Nachdenken −, hinderte mich immer wieder daran. Ryôkans Worte verwiesen auf neue Möglichkeiten: Vielleicht konnte ich mich tatsächlich den Wellen anvertrauen. Vielleicht bestand der einzige Weg zu echtem Frieden darin, mich dem Leben zu öffnen, wie es eben war. Sonst hatte ich hinter meinen Bemühungen, alles im Griff zu behalten, ständig das bedrohliche Gefühl, dass hinter der nächsten Ecke etwas Schreckliches lauern könnte.
Ich versuchte, mich den Gefühlswellen zu öffnen, aber meine alten Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht abschütteln. Ich spürte die Anspannung in meiner Brust, und schon machte ich mir wieder Sorgen über die neue Vorschule meines Sohnes, über die Fahrgemeinschaft und wie ich einen flexibleren Babysitter finden könnte. Dann ärgerte ich mich über mich selbst und verurteilte mich dafür, meine Retreatzeit zu »vergeuden«. Ganz allmählich begriff ich, wie krampfhaft zusammengezogen mein Herz war, wie sehr ich mich davor fürchtete, die Intensität des Lebens durch mich hindurchströmen zu lassen. Ich brauchte Hilfe, um mich »anzuvertrauen«.
Jeden Nachmittag hatten die Lehrer die ganze Gruppe durch eine Herzensgüte-Meditation geführt. Ich beschloss, zu versuchen, diese Übung in meine persönliche Praxis einzubeziehen. In der klassischen Form besteht diese Meditation darin, liebevolle Gebete für uns selbst und in sich erweiternden Kreisen für andere Wesen auszusenden. Ich begann, mir selbst Gutes zu wünschen: »Möge ich glücklich und zufrieden sein. Möge ich glücklich und zufrieden sein.« Zuerst fühlte es sich wie eine oberflächliche mentale Übung an, aber schon bald änderte sich etwas. Mein Herz begann, es wirklich zu meinen, ich kümmerte mich um mein eigenes Leben, und das Bewusstsein dieser Fürsorge löste ein wenig von der Anspannung in meinem Herzen.
Jetzt konnte ich mich leichter den Wellen der Angst und des Kummers hingeben und die vorüberziehenden Gedanken und Körperempfindungen − Druck und Schmerz − einfach in ihrem Kommen und Gehen wahrnehmen. Wenn die Sorgen, die mich gequält hatten, auftauchten, spürte ich, dass auch sie Wellen waren, hartnäckige Wellen, die mir schmerzhaft gegen die Brust schlugen. Doch indem ich keinen Widerstand leistete und die Wellen durch mich hindurchströmen ließ, stellte sich Entspannung ein. Statt gegen die stürmischen Brecher zu kämpfen, ruhte ich in einem Meer des Gewahrseins, welches alle Wellenbewegungen einbezog. Ich war in einem Heiligtum angekommen, das groß genug schien, alles aufzunehmen, was in meinem Leben vor sich ging.
Natürliche Präsenz: Wach, offen und feinfühlend
Präsenz ist kein exotischer Zustand, nach dem wir suchen oder den wir irgendwie erzeugen müssten. Ganz einfach ausgedrückt ist Präsenz das Empfinden von Wachheit, Offenheit und Feinfühligkeit, welches entsteht, wenn wir ganz bei unserer Erfahrung im Hier und Jetzt sind. Sie haben sicherlich schon Präsenz erlebt, auch wenn Sie es vielleicht nicht so genannt haben. Vielleicht haben Sie Präsenz erfahren, als Sie in einer lauen Sommernacht wach im Bett lagen und den Grillen lauschten. Oder als Sie allein durch den Wald gingen. Auch bei einer Geburt oder einem Sterben anwesend zu sein, kann einen in einen Zustand vollkommener Präsenz versetzen.
Präsenz ist das Gewahrsein, welches uns von Natur aus innewohnt. Präsenz ist eine unmittelbare, körperliche Erfahrung, die durch die Sinne wahrgenommen wird. Die genauere Betrachtung einer Erfahrung von Präsenz offenbart die drei oben genannten Qualitäten:
Wachheit heißt, dass wir uns dessen, was gerade geschieht, bewusst sind. Mit dieser Intelligenz erkennen wir den sich von Augenblick zu Augenblick ständig verändernden Fluss der Erfahrung – die Geräusche, die uns gerade umgeben, unsere Körperempfindungen, unsere Gedanken. Wachheit bezeichnet die »wissende« Qualität des Gewahrseins.
Offenheit bezieht sich auf den Raum der Bewusstheit, in dem das Leben stattfindet. Diese Bewusstheit widerspricht unserer Erfahrung nicht und wertet sie auch nicht auf. Selbst wenn schmerzhafte Gefühle oder Gedanken ausgelöst wurden, erkennt sie einfach, was vor sich geht, und erlaubt unserem Gefühlsleben, so zu sein, wie es ist. Wie der Himmel, durch den das Wetter zieht, ist auch der offene Raum der Bewusstheit unabhängig von den wechselhaften Ausdrucksformen des durch uns hindurchziehenden Lebens. Doch dieses Gewahrsein verfügt über eine natürliche Sensibilität und einen Ausdruck von Wärme. Diese empfindsame Art der Zuwendung nenne ich Feinfühligkeit. Unsere warmherzige Feinfühligkeit ermöglicht es uns, auf all die Schönheit und all den Kummer, auf alles, was sich zeigt, mit Mitgefühl, Liebe und Staunen einzugehen.
Wir können also von drei Qualitäten der Präsenz sprechen, doch letztlich sind sie untrennbar. Denken Sie an einen sonnendurchfluteten Himmel. Es ist unmöglich, das Licht des Himmels von dem Raum zu trennen, den es durchleuchtet; es ist unmöglich, die Wärme, die wir spüren, von dem Raum und dem Licht zu trennen. Licht, Raum und Wärme sind alles inniglich miteinander verwobene Ausdrucksformen eines Ganzen.
Unsere Sehnsucht, ganz und aus unserem Sein heraus zu leben, ruft uns heim zu dieser natürlichen Gegenwärtigkeit. Unser Erkennen der Wahrheit erwächst aus der Klarheit der Präsenz. Liebe strömt aus der Empfänglichkeit der Präsenz. Lebendigkeit und Kreativität entfalten sich, wenn wir in der Offenheit der Präsenz sind. Alles, was uns kostbar ist, ist bereits hier, durch Gegenwärtigkeit. Jedes Mal, wenn wir nach Hilfe rufen, kann uns unsere Sehnsucht daran erinnern, uns unserer wahren Zuflucht zuzuwenden, der Heilung und Freiheit natürlicher Gegenwärtigkeit.
Rückkehr zur Präsenz
Nach jenem Retreat fuhr ich mit der Absicht zurück, jedes Mal, wenn ich mich gereizt, ängstlich und angespannt fühlte, Zuflucht zur Präsenz zu nehmen. Eine Woche nach meiner Rückkehr bot sich die erste Gelegenheit, und ich nahm sie wahr. Mein Exmann rief mich an und teilte mir mit, er könne an diesem Abend nicht auf Narayan aufpassen. Das bedeutete, dass ich in kürzester Zeit einen Babysitter organisieren musste, um meine Klienten empfangen zu können. »Ich bringe hier das ganze Geld ins Haus, und dann kann ich mich nicht mal in dieser Hinsicht auf ihn verlassen!«, schimpfte mein Geist. »Schon wieder übernimmt er nicht seinen Anteil, schon wieder lässt er mich im Stich!«
Doch am Ende jenes Tages setzte ich mich hin und nahm mir Zeit, mich den Bewertungen und den Schuldzuweisungen zuzuwenden, die in meinem Körper zu spüren waren, und meine Selbstgerechtigkeit ließ nach. Ich saß still da, während die beschuldigenden Gedanken und die Wogen des Ärgers kamen und gingen. Unter meinem Groll spürte ich die ängstliche Frage »Wie kann ich das alles schaffen?«. Und als ich diese untergründigen Wellen der Angst und Sorge durch mich hindurchlaufen ließ, eröffnete sich mir ein ruhiger, innerer Zustand, in dem ich mehr Spielraum und einen weiteren Horizont hatte. Natürlich wusste ich nicht, was die Zukunft bringen würde. Ich hatte nur den gegenwärtigen Augenblick, und dieser Augenblick war in Ordnung. Aus diesem Zustand heraus konnte ich spüren, wie schwierig es für meinen Exmann war, eine neue Wohnung zu finden, unsere Zeitpläne abzustimmen und sich auf tieferer Ebene auf eine völlig andere Zukunft, als er sich vorgestellt hatte, einzustellen. Das half mir, toleranter und freundlicher auf die Situation zu schauen.
Zu anderen Zeiten tat ich mich schwerer damit, mich den Wellen anzuvertrauen, vor allem, wenn mein Ex und ich unterschiedliche Ansichten über Finanzen oder Sorgerechtsvereinbarungen hatten. Jedes Sich-Anvertrauen fühlte sich an, als würde ich damit zulassen, ausgenutzt zu werden. Ich erkannte, dass ich zunächst mich selbst mitfühlend annehmen und meine Fürsorge für mich selbst wirklich ernst nehmen musste. Dann konnte ich mir selbst meine wütendsten, gemeinsten Gedanken verzeihen. Allmählich entspannte sich mein Herz ein wenig, und ich konnte die schmerzhaften Strömungen der Wut und der Angst besser durch mich hindurchfließen lassen.
Wie auf dem Retreat stellte sich dann in mir eine Verbindung mit einer weiten Präsenz ein, die das aktuelle Geschehen mit einbezog und mir ermöglichte, mein Leben mit mehr Weisheit zu betrachten. In dieser Gegenwärtigkeit ruhend, konnte ich anfangen, mir klarer meiner gesunden Bedürfnisse bewusst zu werden – nach einer fairen Aufteilung unserer Finanzen, nach eigenem Wohnraum – und sie von Impulsen zu unterscheiden, die aus Angst oder Misstrauen entstanden. Wenn ich für das einstand, was ich brauchte, fühlte ich mich mehr in mir selbst zu Hause, jedoch nicht, wenn ich enge Kontrolle auszuüben versuchte. Und ich bemerkte, wie mein Exmann umso respektvoller und flexibler wurde, je mehr er spürte, wie ich mich um genau diese Qualitäten bemühte.
Diese Zuflucht zur Präsenz ermöglichte es meinem Exmann und mir, Freunde zu bleiben und einander immer noch als Teil der Familie zu betrachten. Aber es war nicht leicht. Wir waren beide auf dem spirituellen Weg und glaubten naiverweise, uns deshalb auf eine ehrenhafte und erwachsene Art voneinander trennen zu können. Keiner von uns beiden rechnete damit, dass wir einander aus dem Stress heraus absichtlich wehtun würden. Und doch taten wir es bisweilen – wir waren unehrlich, wir sagten Dinge, die wir hinterher bereuten, und konfrontierten einander mit unserem Ärger und unserer Verachtung. Wir hielten in dieser emotional schmerzhaften Zeit nur durch, weil uns die Bedürfnisse unseres Sohnes so wichtig waren und weil wir die Liebe zueinander nicht aufgaben. Die Praxis, Zuflucht zur Präsenz zu nehmen, ermöglichte es mir, uns beiden unsere Menschlichkeit zu verzeihen, und sie half, unsere Zuwendung zueinander aufrechtzuerhalten.
Wenn wir leiden, steigt manchmal aus unserer Tiefe der Ruf nach Hilfe auf. Wie damals bei Pam während Jerrys Sterben oder bei mir am Ende meiner ersten Ehe kann uns dieses tiefe, aufrichtige Sehnen aufwecken und zu der Vollständigkeit und Freiheit führen, die im gegenwärtigen Augenblick zu finden sind. Doch wenn wir in Schwierigkeiten sind, ist das Hier und Jetzt oft der letzte Ort, wo wir sein wollen. Was hält uns davon ab, zur wahren Zuflucht der Präsenz heimzukehren? Was hindert uns daran, uns zu entscheiden, hier zu sein? Ich nenne es »die Trance des kleinen Selbst«. Dem wollen wir uns im nächsten Kapitel zuwenden.
Geführte Meditation
Innehalten für Präsenz
Ein natürlicher Zugang zur Präsenz geht durch den Körper. Die folgende kurze Meditation können Sie durchführen, wann immer Sie ein wenig Ruhe und Zeit dafür haben.
Setzen Sie sich ruhig und bequem hin und schließen Sie die Augen. Beginnen Sie mit drei bewussten Atemzügen: Atmen Sie lang und tief ein, füllen Sie die Lungen, und dann atmen Sie langsam aus. Spüren Sie beim Ausatmen, wie sich Spannungen in Körper und Geist lösen.
Laden Sie Ihr Gewahrsein ein, Ihren ganzen Körper zu erfüllen. Können Sie sich Ihre physische Form als ein Feld von Empfindungen vorstellen? Können Sie die Bewegungen und die Qualitäten dieser Empfindungen spüren – sei es ein Kribbeln, ein Beben, Wärme oder Kühle, Härte oder Weichheit, Festhalten oder Fließen? Nehmen Sie sich eine Weile Zeit, um mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei diesem Tanz der Empfindungen zu verweilen.
Öffnen Sie jetzt Ihr Gewahrsein auch für den Raum um sich herum. Können Sie sich vorstellen, die Symphonie der Sie umgebenden Klänge aufzunehmen, sie durch sich hindurchströmen zu lassen? Können Sie nicht nur mit den Ohren, sondern mit Ihrem ganzen Gewahrsein auf das sich ständig verändernde Spiel der Geräusche lauschen? Nehmen Sie sich etwas Zeit, um sich mit offener Aufmerksamkeit den Geräuschen um Sie herum zuzuwenden.
Lassen Sie mit weiterhin geschlossenen Augen Ihr Gewahrsein das Spiel der Bilder und Lichter aufnehmen, das sich hinter Ihren Augenlidern abspielt. Vielleicht bemerken Sie ein Flimmern von Licht und Dunkel, oder es zeigen sich Ihnen schattenhafte Umrisse oder Lichtformen. Nehmen Sie sich Zeit, bewusst zu sehen.
Spüren Sie Ihren Atem und spüren Sie den Raum um sich herum. Nehmen Sie die Gerüche auf, die in der Luft liegen. Entdecken Sie, wie es ist, zu riechen, wie das Umfeld duftet, in dem Sie sich gerade befinden.
Lassen Sie jetzt alle Ihre Sinne weit offen sein. Ihr Körper und Ihr Geist sind entspannt und empfänglich. Lassen Sie das Leben frei durch sich hindurchströmen. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie möchten, um Ihre Erfahrung von Augenblick zu Augenblick bewusst hörend und fühlend wahrzunehmen. Bemerken Sie den sich ständig verändernden Fluss der Empfindungen und Klänge, bemerken Sie die Lebendigkeit darin und die zugrunde liegende Präsenz. Genießen Sie diesen wachen, inneren Zustand der Präsenz. Vergegenwärtigen Sie sich zum Abschluss die Möglichkeit, dieses wache, offene Gewahrsein in das mitzunehmen, was Sie als Nächstes tun.
Halten Sie im Verlauf Ihres Tages mehrmals inne und erwecken Sie für einen kurzen Moment Ihre Sinne, indem Sie sich vor allem Ihrer Körperempfindungen bewusst werden und auf die Geräusche lauschen. Mit etwas Übung werden Sie sich in der natürlichen Präsenz immer mehr zu Hause fühlen.
2
Das Heim verlassen – Die Trance des kleinen Selbst
Was im Sein erscheint,
verliert sich im Sein, vergisst vor Trunkenheit
den Weg nach Hause.
Rumi
Wir werden mit einem wundervollen offenen Geist geboren, voller Lebendigkeit, Unbefangenheit und Widerstandsfähigkeit. Doch wir bringen diesen Schatz in eine schwierige Welt.
Ich stelle mir vor, wie wir von dem Augenblick der Geburt an anfangen, eine Art Raumanzug zu entwickeln, um uns in diesem merkwürdigen neuen Umfeld zurechtzufinden. Dieser Raumanzug soll uns vor Gewalt und Habgier schützen und uns helfen, die Zuwendung unserer Betreuungspersonen zu gewinnen, die mehr oder weniger in ihrer eigenen Selbstbezogenheit und Unsicherheit verstrickt sind. Wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, erzeugt unser Raumanzug die besten abwehrenden und proaktiven Strategien, die ihm möglich sind. Dazu gehören Anspannungen im Körper und Emotionen wie Ärger, Angst und Scham, mentale Aktivitäten wie Urteilen, Sich-Festbeißen und Fantasieren und eine große Bandbreite von Verhaltensweisen, um an das zu kommen, was einem fehlt: Sicherheit, Nahrung, Sex, Liebe.
Unser Raumanzug dient wesentlich unserem Überleben, und manche seiner Strategien helfen uns durchaus, produktive, stabile und verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden. Doch derselbe Raumanzug, der uns schützt, kann uns auch daran hindern, uns spontan, fröhlich und frei durch unser Leben zu bewegen. Dann wird unser Raumanzug zum Gefängnis. Unser Selbstverständnis wird durch seine Stärken und Schwächen geprägt. Wir identifizieren uns mit unseren Fähigkeiten, Probleme zu lösen oder zu kommunizieren, identifizieren uns mit unseren Urteilen und Zwangsvorstellungen, identifizieren uns mit unserer Angst und unserem Ärger. »Identifiziert« bedeutet, wir meinen, wir sind der Raumanzug! Es scheint uns so, als seien wir tatsächlich jenes Selbst, das ängstlich und wütend ist, das urteilt, von anderen bewundert wird, etwas Besonderes ist oder unvollkommen oder allein.
Wenn wir mit dem Raumanzug verschmelzen, fangen wir an, in einem Zustand zu leben, den ich »Trance« nenne. Unser Selbstverständnis wird dann extrem eng. Wir haben vergessen, wer durch die Maske des Raumanzugs schaut; wir haben unser weites Herz und unser Gewahrsein vergessen. Wir haben die mysteriöse Präsenz vergessen, die immer da ist, jenseits aller flüchtigen Emotionen, Gedanken und Handlungen.
In Trance zu leben, ist, als wäre man in einem Traum gefangen, abgeschnitten von der eigenen unmittelbaren Erfahrung des Augenblicks, getrennt von dieser lebendigen Welt. Wir haben unser Zuhause verlassen – unser Gewahrsein und unsere Lebendigkeit – und uns unwissentlich auf ein verzerrtes Fragment der Wirklichkeit reduziert.
Wir haben alle unsere eigene Art, von zu Hause fortzugehen, und unsere eigenen Strategien, mit dem Schmerz unerfüllter Bedürfnisse umzugehen. Doch das Aufwachen an sich ist ein universeller Prozess. Wir merken – langsam oder schnell –, in welch reduzierter und häufig schmerzhafter Wirklichkeit wir gelebt haben. Wir wollen uns wieder mit unserer Unschuld und grundlegenden Güte verbinden. Wir möchten unser wahres Sein erkennen. Unser tiefes Sehnen drängt uns, einen Weg zu wahrer Zuflucht und Geborgenheit zu finden.
Dieses Erwachen begann für mich etwa acht Jahre vor meinem ersten buddhistischen Retreat. Wie Sie bereits aus dem ersten Kapitel wissen, geschah es nicht einfach alles auf einmal. Doch wenn die Trance sich auch nur für einen kurzen Moment auflöst, können wir das Potenzial für Freiheit und den Weg aus dem Leiden heraus erkennen.
Das Perfektions-Projekt
Solange ich mich erinnern kann, habe ich mich danach gesehnt, die Wahrheit zu erkennen und bewusst und gütig zu sein. Als ich während des College Yoga kennenlernte, war ich überzeugt, eine Abkürzung gefunden zu haben, der Mensch zu werden, der ich sein wollte. Direkt nach meinem Abschluss zog ich in der Nähe von Boston in einen Ashram, eine Gemeinschaft, die dem Weg des Yoga verpflichtet war. Ich war überzeugt, dass dieser Weg mich mit entsprechendem Einsatz zu spiritueller Freiheit führen würde.
Unsere Gemeinschaft folgte strengen Regeln. Wir standen vor Sonnenaufgang auf, nahmen eine kalte Dusche und verbrachten dann mehrere Stunden mit Yoga, Meditation, Singen und Beten. Wir arbeiteten auch hart und viel an dem Betreiben eines Yoga-Zentrums, eines vegetarischen Restaurants und eines Ladens am Harvard Square. Von hingebungsvollem Eifer erfüllt, stand ich oft sogar noch früher auf als meine Mit-Yogis oder setzte mich spätabends noch hin, um meine spirituelle Praxis zu vertiefen.
Mein aufrichtiges spirituelles Streben hatte sich mit einer Überzeugung verknüpft, die in dieser und vielen ähnlichen spirituellen und religiösen Gemeinschaften verbreitet ist: Um glücklich und frei zu sein, müssen wir uns läutern, indem wir unsere Egos von aller Selbstsucht, Aggression und Unsicherheit befreien. Die durch sportliche Yoga-Übungen ausgelösten Hochgefühle und die Verzückung, die ich in Meditationen erlebte, waren mir Zeichen meines Fortschritts. Doch zu anderen Zeiten war ich mir meiner »Unreinheiten« schmerzlich bewusst, was mich motivierte, mich mit noch mehr Eifer in meine spirituellen Praktiken zu vertiefen.