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Sie sorgen dafür, dass du nicht schläfst,
wenn der Sonnenaufgang beginnt.
Anthony de Mello
Wendest du dich regelmäßig dir selbst zu?
Rumi
Jeff war sich sicher, dass er seine Frau Arlene nicht mehr liebte und seine Ehe nach sechsundzwanzig Jahren nicht mehr zu retten sei. Er wollte sich von dem Druck befreien, sich ständig beurteilt und als mangelhaft bewertet zu fühlen. Arlene hingegen fühlte sich verletzt und war wütend, weil Jeff ihrer Ansicht nach jeglicher echter Kommunikation oder emotionaler Nähe aus dem Weg ging. Als allerletzten Versuch überredete sie ihn, zu einem von ihrer Kirche organisierten Wochenend-Workshop für Paare zu gehen. Zu ihrer beider Überraschung entstand dabei in ihnen wieder ein Hoffnungsschimmer für eine gemeinsame Zukunft. Sie nahmen die Botschaft mit: »Liebe ist eine Entscheidung.« Die Workshopleiter hatten erklärt, Liebe sei zwar nicht immer spürbar, aber immer verfügbar, wenn wir uns entscheiden, sie zu erwecken.
Doch zurück in ihrem Alltag der alten Angriffs- und Verteidigungsmuster, schien die »Entscheidung für die Liebe« nur noch als unwirksamer intellektueller Schachzug. Entmutigt kam Jess zu einer Beratungssitzung zu mir. »Ich weiß nicht, wie ich von A nach B kommen kann«, erklärte er mir. »Gestern zum Beispiel waren wir zusammen. Mein Verstand riet mir, mich für die Liebe zu entscheiden, aber es bewirkte nichts – mein Herz war verschlossen. Arlene beschuldigte mich für irgendetwas, und ich wollte nur noch weg von ihr!«
»Betrachten wir noch mal, was da gestern passierte«, schlug ich vor. Ich lud ihn ein, seine Augen zu schließen, sich die Situation wieder zu vergegenwärtigen und dann seine Ansichten über Richtig und Falsch loszulassen. »Erlauben Sie sich, einfach zu erfahren, wie es sich in Ihrem Körper anfühlt, wenn Sie sich beschuldigt fühlen und wegwollen.« Jeff saß still, doch sein Gesicht zog sich zu einer Grimasse zusammen. »Bleiben Sie dabei, die Gefühle zuzulassen«, ermutigte ich ihn, »und finden Sie heraus, was sich daraus entfaltet.«
Allmählich entspannte sich sein Gesicht. »Jetzt fühle ich mich festgefahren und traurig«, meinte er. »Wir verbringen so viel Zeit damit, uns so zu verstricken. Ich ziehe mich zurück, oft ohne dass ich es bemerke, und das verletzt sie. Dann regt sie sich auf … und dann ist mir sehr bewusst, dass ich wegwill. Es ist traurig, sich so festgefahren zu haben.«
Er schaute zu mir auf, und ich nickte verständnisvoll. »Wie wäre es, Jeff, wenn Sie, statt sich diesen Begegnungen zu entziehen, ihr genau sagen könnten, was Sie innerlich erleben?« Und ich fügte hinzu: »Und wenn auch sie Ihnen, ohne Sie anzuschuldigen, von ihren Gefühlen erzählen könnte?«
»Dazu müssten wir wissen, was wir fühlen!«, erwiderte er mit einem schwachen Lachen. »Meistens sind wir zu sehr damit beschäftigt, zu reagieren.«
»Genau«, bestätigte ich. »Sie müssten beide darauf achten, was in Ihnen vor sich geht. Und das widerspricht unserer Konditionierung. Wenn wir emotional erregt sind, verlieren wir uns in unseren Geschichten darüber, was gerade passiert, und verfangen uns in reflexartigem Verhalten – wie Anschuldigungen oder Flucht. Um unseren Konditionierungen nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, müssen wir üben, aufmerksam zu sein.«
Ich erklärte ihm, wie die Praxis der Meditation unsere Fähigkeit zur Präsenz, zum direkten Kontakt mit unserer gegenwärtigen Erfahrung stärkt. Das schenkt uns mehr Spielraum und Kreativität, auf die gegebenen Umstände einzugehen, statt einfach nur zu reagieren. Ich lud ihn und Arlene zu meinem wöchentlichen Meditationskurs ein, und er sagte gleich zu. Am nächsten Mittwochabend waren beide da, und einen Monat später kamen sie zu einem Meditations-Wochenende, welches ich leitete.
Einige Wochen nach dem Retreat unterhielten wir drei uns kurz nach dem Kurs. Arlene erzählte, dank ihrer Meditationspraxis seien sie dabei, zu lernen, sich für die Liebe zu entscheiden. »Wir müssen uns immer und immer wieder für die Präsenz entscheiden«, berichtete sie. »Wir müssen uns für Präsenz entscheiden, wenn wir wütend sind; Präsenz, wenn wir keine Lust haben, zuzuhören; Präsenz, wenn wir alleine sind und uns immer wieder dieselben alten Geschichten erzählen, wie verkehrt der andere sei. Diese Entscheidung für Präsenz ist unser Weg, unsere Herzen zu öffnen.« Jeff nickte zustimmend. »Ich habe erkannt, dass es nicht darum geht, von A nach B zu kommen«, fügte er lächelnd hinzu. »Es geht darum, ganz gegenwärtig bei Punkt A zu sein, bei dem Leben in diesem Moment, egal, was passiert. Der Rest ergibt sich dann.«
Die Zuflucht zur Präsenz – die Entscheidung für Präsenz – braucht Übung. Wenn sich »Punkt A« unangenehm anfühlt, ist Dableiben und Spüren das Letzte, wozu wir Lust haben. Statt uns »den Wellen anzuvertrauen«, wollen wir weg, zurückschlagen, uns betäuben, alles andere, nur nicht spüren, was wirklich ist. Doch wie Jeff und Arlene merkten, bleiben wir in falschen Zufluchten klein und abwehrbereit. Nur indem wir unsere Aufmerksamkeit vertiefen und das Leben einfach so sein lassen, wie es ist, können wir wahre Nähe zu uns selbst und anderen erfahren. In den über fünfunddreißig Jahren, die ich Meditation lehre, habe ich erlebt, wie sie unzähligen Menschen geholfen hat, zur Liebe zurückzufinden, emotionales Leiden loszulassen und sich aus Süchten zu befreien. In jedem einzelnen Fall bildete die innere Verpflichtung zur regelmäßigen Meditation die Grundlage zu einer tiefen, wundervollen Transformation von Herz und Geist.
Den Geist trainieren
Wenn wir uns mitten im Dickicht lebenslanger Muster der Unsicherheit oder Anschuldigung befinden, ist es schwer zu glauben, dass Änderung möglich ist. Bis vor Kurzem schien die Wissenschaft diese Skepsis zu bestätigen. Neurologen glaubten, dass unsere grundlegenden Verschaltungen im Gehirn mit dem Erreichen des Erwachsenenalters festgelegt seien und wir unseren zentralen emotionalen Prägungen dann nicht mehr entkommen könnten. Wenn wir die ersten zwei Jahrzehnte unseres Lebens passiv, ängstlich und verwirrt waren, sei es uns bestimmt, so den Rest unseres Lebens zu verbringen. Doch mit Hilfe von Gehirntomografie und anderen Techniken haben die Forscher die dem Gehirn innewohnende Neuroplastizität entdeckt: Während des ganzen Lebens kann sich das Gehirn weiterentwickeln und verändern, und es können neue neuronale Verbindungen entstehen und gestärkt werden. Das heißt, auch wenn wir uns emotional tief verstrickt haben, verfügen wir über die Kapazität, neue Wege zu entwickeln, auf das Leben zu reagieren.
Was immer Sie regelmäßig denken oder tun, wird zur Gewohnheit, zu einer stark konditionierten neuronalen Bahnung im Gehirn. Je mehr Sie darüber nachdenken, was schiefgehen kann, desto mehr ist Ihr Verstand darauf angelegt, Schwierigkeiten zu erwarten. Je öfter Sie verärgert ausfällig werden, desto mehr sind Ihr Körper und Ihr Verstand auf Aggression programmiert. Je mehr Sie darüber nachdenken, wie Sie anderen helfen können, desto mehr werden Ihr Verstand und Ihr Herz zur Großzügigkeit neigen. So wie Gewichtheben Muskeln aufbaut, kann die Ausrichtung Ihrer Aufmerksamkeit Ängste, Feindseligkeit und Abhängigkeit fördern oder Sie zu Heilung und Erwachen führen.
Sie können sich Präsenz wie einen von einer Quelle gespeisten Waldteich vorstellen – klar, still und rein. Weil wir so viel Zeit damit verbracht haben, uns in den Wäldern unserer Gedanken und Emotionen zu verirren, fällt es uns oft schwer, diesen Teich zu finden. Doch wenn wir uns immer und immer wieder hinsetzen und meditieren, wird uns der Weg durch den Wald allmählich vertrauter. Wir erkennen diese Lücke zwischen den Bäumen wieder, wir erinnern uns an diese Wurzel, über die wir schon so oft gestolpert sind, und selbst wenn wir uns im Dickicht verfangen haben, vertrauen wir darauf, dass wir unseren Weg finden werden.
Die regelmäßige Meditationspraxis erzeugt in unserem Geist neue Pfade, die uns heim zu der Klarheit, Offenheit und Leichtigkeit der Präsenz führen. Der Buddha hat viele Strategien gelehrt, diese Pfade zu kultivieren, unter denen die Praxis der Achtsamkeit jedoch eine zentrale Stellung einnimmt. Achtsamkeit ist der bewusste Prozess urteilsfreier Aufmerksamkeit für die sich von Augenblick zu Augenblick entfaltende Erfahrung. Wenn Sie sich in Sorgen um Ihren Kontostand verlieren, bemerkt die Achtsamkeit diese sorgenvollen Gedanken und das damit einhergehende Gefühl der Ängstlichkeit. Wenn Sie sich darin verlieren, auszuprobieren, was Sie einer anderen Person sagen könnten, bemerkt die Achtsamkeit diesen inneren Dialog und – je nachdem – Gefühle der Aufgeregtheit oder Angst. Ohne jeglichen Widerstand erkennt die Achtsamkeit das Kommen und Gehen aller Empfindungen und Gefühle und lässt sie zu. Die meisten tief eingeprägten Gedankenpfade unseres Geistes führen uns vom gegenwärtigen Moment weg. Indem wir unseren Geist bewusst auf das richten, was jetzt gerade passiert, löst die Achtsamkeit diese Konditionierungen auf und lässt uns zu einem frischen, unmittelbaren Empfinden von Lebendigkeit erwachen. So wie ein klarer See den Himmel spiegelt, lässt uns die Achtsamkeit die Wahrheit unserer Erfahrung erkennen.
Die von mir am meisten gelehrte buddhistische Art der Meditation heißt Vipassana, das bedeutet »klar erkennen«. Im Vipassana beginnt der Weg der Achtsamkeit mit Konzentration – einer einsgerichteten Fokussierung der Aufmerksamkeit. Es ist schwer, auf die gegenwärtige Erfahrung zu achten, wenn wir uns in einem ständigen Strom diskursiver Gedanken verlieren. Also sammeln und beruhigen wir den Geist zunächst, indem wir die Aufmerksamkeit auf einen sensorischen Anker richten. Das kann bedeuten, dem Atem zu folgen oder die Körperempfindungen zu scannen oder auf Geräusche zu achten oder immer wieder leise einen Satz zu wiederholen wie »Möge ich glücklich sein« oder »Möge ich friedvoll sein«. Dieser Anker kann dann mit etwas Übung zu einer zuverlässigen Heimat Ihrer Aufmerksamkeit werden. Wie ein guter Freund wird er Ihnen helfen, zu einem Gefühl innerer Ausgeglichenheit und allgemeinen Wohlbefindens zurückzukehren.
Der Psychiater und Autor Daniel Siegel hat eine nützliche Metapher dafür gefunden, wie wir während der Meditation ständig abschweifen. Stellen Sie sich Ihr Gewahrsein als ein großes Rad vor. An der Nabe des Rades ist die Präsenz, und von dieser Nabe erstrecken sich zahllose Speichen zum äußeren Reifen. Ihre Aufmerksamkeit ist darauf konditioniert, sich an den Speichen entlang von der Präsenz weg zum äußeren Reifen hin zu bewegen und sich ständig an neue Teile dieses Reifens anzuheften. Überlegungen zum Abendessen gehen in Erinnerungen an ein schwieriges Gespräch über, fließen weiter in Selbstbezichtigungen, ein Lied im Radio, die Rückenschmerzen, ein Gefühl der Angst. Oder Ihre Aufmerksamkeit verliert sich in zwanghaftem Denken, welches endlos um Geschichten und Gefühle darüber kreist, was alles verkehrt ist. Wenn Sie nicht mit der Nabe verbunden sind, wenn Ihre Aufmerksamkeit an den Reifen geheftet ist, sind Sie von Ihrer Ganzheit abgeschnitten und leben in Trance.
Eine vorgewählte Heimatstation, ein eingeübter Anker wie der Atem ermöglicht es Ihnen, zu bemerken, wenn Sie nicht präsent sind, und leichter den Weg zurück zur Nabe zu finden. Ich nenne diesen Teil der Praxis »Zurückkommen«. Wenn Sie wieder an der Nabe sind, hilft Ihnen der Anker, den Geist zu beruhigen. Unabhängig davon, wie oft Ihre Aufmerksamkeit zu irgendwelchen Fantasien oder Erinnerungen auf dem Reifen abschweift − Sie kehren immer wieder sanft zu der Nabe zurück und verwurzeln sich wieder in der Präsenz.
Je mehr Ihre Aufmerksamkeit zur Ruhe kommt, desto mehr werden Sie spüren, wie sich die Grenzen der Nabe aufweichen und öffnen. Diese Phase der Praxis nenne ich »Hier sein«. Sie sind weiterhin mit Ihrem Anker verbunden, können jedoch gleichzeitig die sich ständig verändernden Erfahrungen auf dem Reifen zulassen – das Geräusch des bellenden Hundes, den Schmerz in Ihrem Knie, den Gedanken darüber, wie lange Sie jetzt noch meditieren wollen. Statt sich an diese Erfahrungen anzuheften oder sie wegzudrängen, lassen Sie sie frei kommen und gehen. Natürlich wird sich der Geist trotzdem manchmal auf dem Reifen verlieren, und dann bemerken Sie das und kehren sanft zur Nabe zurück. Es ist natürlich, dass die Praxis ständig zwischen »Zurückkommen« und »Hier sein« hin und her fließt.
Je mehr Sie sich in der wachen Stille im Zentrum des Rades aufhalten und alles, was geschieht, mit Achtsamkeit aufnehmen, desto runder, wärmer und heller wird die Nabe der Präsenz. In den Momenten, wo es keine Kontrolle der Erfahrung mehr gibt – wenn die Achtsamkeit frei von allem Bemühen ist –, sind Sie ganz in die Präsenz eingetaucht. Nabe, Speichen und Reifen schweben alle in lichtem, offenem Gewahrsein.
~ Sich erinnern, worauf es ankommt ~
Heutzutage werden so viele verschiedene Arten von Meditation und Kontemplation angeboten, dass sich so mancher sorgt, ob er auch die »richtige« gewählt hat. Doch für das spirituelle Erwachen ist die Aufrichtigkeit Ihrer Absicht viel entscheidender als die genaue Form Ihrer Praxis. Wenn wir mit dem verbunden sind, was uns am meisten am Herzen liegt, sind wir auch ernsthaft bei der Sache. In den buddhistischen Lehren wird die bewusste Anerkennung unseres tiefsten Herzensanliegens »weises Streben« genannt. Vielleicht geht es für Sie um spirituelle Verwirklichung, um umfassenderes Lieben, um das Erkennen der Wahrheit oder um Frieden. Was auch immer es ist, das Bewusstsein dessen, was Ihnen wichtig ist, wird Sie in Ihrer Praxis energetisieren und leiten. Wie der Zen-Meister Suzuki Roshi lehrte: »Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.«
Es ist hilfreich, Ihre Meditation mit einer Besinnung über Ihr Herzensanliegen zu beginnen. Manche Meditierende vergegenwärtigen sich ein allumfassendes Ziel ihrer Meditation, während andere ihren Fokus auf eine bestimmte Absicht für die Meditation an diesem Tag richten. Sie können sich zum Beispiel mit Ihrem Streben nach allumfassender Liebe verbinden oder sich entscheiden, jegliche schwierigen Gefühle, die während der Meditation auftauchen, liebevoll anzunehmen. Sie können nach Wahrheit streben – tatsächlich zu erkennen, was vor sich geht und was wirklich ist –, oder Sie richten sich auf die Absicht aus, Gedanken zu erkennen und loszulassen. Wenn Sie anfangen, Ihr Herz zu befragen, was ihm wichtig ist, befinden Sie sich bereits auf dem Weg zur Präsenz.
~ Eine weise Einstellung kultivieren ~
Falls Sie bereits meditieren, können Sie sich einen Moment Zeit nehmen, um über Ihre allgemeine Haltung zu Ihrer Praxis nachzudenken. Meinen Sie, Sie sollten mehr üben und bessere Ergebnisse erzielen? Scheint es Ihnen zu schwer und Sie haben sich damit abgefunden, es nicht gut zu machen? Nehmen Sie sich zwar die Zeit, gehen die Sache dann aber nur halbherzig an? Freuen Sie sich auf die Meditation? Sind Sie neugierig, was geschehen wird? Sind Sie in Bezug auf Ihre Fortschritte entspannt?
Eine gesunde Einstellung zur Präsenz ist, sie wichtig zu nehmen, ohne zu beurteilen, was sich zeigt. Stattdessen betrachten wir das, was geschieht, mit interessierter, entspannter, freundlicher Aufmerksamkeit. Wenn die Meditation Teil eines Selbstverbesserungsprojekts ist, kann das die Praxis unterminieren. Die meisten Menschen haben eine innere Vorstellung von einer meditativen Erfahrung, die sie »gut« finden (ruhig, offen, klar, liebevoll und so weiter), und verurteilen sich dafür, wenn ihre Gedanken abschweifen oder schwierige Gefühle auftauchen. Doch tatsächlich gibt es keine »richtige« Meditation, und das Bemühen danach nährt nur die Idee eines unvollkommenen, sich ständig abarbeitenden Selbst. Eine Praxis, die sich mit halbherzigen Bemühungen zufriedengibt, stärkt hingegen das Empfinden eines unbeteiligten, getrennten Selbst.
Als der buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh in den 1970er-Jahren im San Francisco Zen Center zu Gast war, fragten ihn die Übenden, wie sie ihre Praxis verbessern könnten. Thich Nhat Hanh war mit sechzehn Jahren ins Kloster gegangen, war ordinierter Mönch und hatte die Schrecken des Vietnam-Kriegs durchgemacht. Ich vermute, die Übenden erwarteten zur Vertiefung ihres spirituellen Lebens strenge Vorschriften. Doch Thich Nhat Hanh antwortete: »Zum einen steht ihr zu früh auf. Ihr solltet später aufstehen. Und eure Praxis ist zu verbissen. Ich habe zwei Anweisungen für euch für diese Woche. Die eine ist, zu atmen, und die andere, zu lächeln.«
Das ist so ein guter Rat! Gehen Sie Ihre Praxis (und Ihr Leben) mit einem hingebungsvollen und gleichzeitig entspannten Herzen an. Es ist möglich, sich ernsthaft zu bemühen, ohne sich zu verspannen. Unabhängig davon, ob Sie Anfänger sind oder schon lange meditieren: Bleiben Sie aufmerksam für eventuell auftauchende Bewertungen. Erlauben Sie Ihrer Erfahrung, so zu sein, wie sie ist. Bewerten ist eine Gewohnheit. Wenn Sie daran denken, sie zu unterlassen, werden Sie sich mit der inneren Gelassenheit und Wahrhaftigkeit verbinden, die Sie auf natürliche Weise in die Präsenz und die Freiheit tragen wird.
~ Sich Zeit und Raum zum Praktizieren nehmen ~
Zu den herausragenden Merkmalen unserer Zeit gehört, dass die meisten von uns durch den Tag rasen und versuchen, so viel wie möglich in einen ohnehin schon vollen Zeitplan zu packen. Selbst wenn wir nicht am Handy oder vor dem Bildschirm hängen oder von einem Termin zum nächsten eilen, brodelt unser Verstand weiter. Uns Zeit und Raum zu nehmen, um uns unserem Innenleben zu widmen, widerspricht allen uns umgebenden Trends.
Meditationsanfänger bemerken, wie wertvoll es ist, zu lernen, den Geist zu fokussieren und zur Ruhe zu bringen, aber häufig fällt ihnen noch etwas Grundlegenderes auf. »Allein eine Zeit lang still zu sein, ist für meine Seele ein Geschenk«, brachte es kürzlich jemand zum Ausdruck. Es ist ein Geschenk für die Seele. Aus unserer Geschäftigkeit herauszutreten, in unserem endlosen Irgendwo-Hinmüssen innezuhalten, gehört vielleicht zu den schönsten Dingen, die wir uns selbst geben können. Und es ist so einfach. Wir lernen, wie Rumi sagt, uns regelmäßig selbst zu besuchen.
Finden Sie eine Möglichkeit, Ihrer Meditationspraxis einen Rhythmus zu geben. Viele kontemplative Traditionen empfehlen, jeden Tag um dieselbe Zeit zu meditieren – meistens früh am Morgen, weil der Geist nach dem Aufwachen ruhiger ist als später am Tag. Doch die beste Zeit für Sie ist die Zeit, zu der es für Sie realistisch ist, regelmäßig zu sitzen. Für manche Menschen passt es besser, zweimal am Tag kürzer zu meditieren, einmal am Tagesanfang und einmal am Tagesende.
Wie lange sollte man sitzen? Für die meisten Menschen stimmt eine Zeit zwischen 15 und 45 Minuten. Wenn Ihnen die Meditation noch ganz neu ist, mögen Ihnen 15 Minuten wie eine Ewigkeit vorkommen, doch mit etwas Übung wird sich dieser Eindruck wandeln. Wenn Sie jeden Tag sitzen, werden Sie bemerken, wie gut es Ihnen tut (mehr Ruhe und Besonnenheit), und Sie werden Ihre Meditationszeit wahrscheinlich ausdehnen wollen. Unabhängig davon, wie lange Sie meditieren, ist es am besten, die Zeitspanne vorher festzulegen und sich einen Wecker oder Timer zu stellen. Dann müssen Sie sich nicht in Gedanken darüber verwickeln, wann Sie aufhören sollen, und können sich wirklich auf die Meditation einlassen.
Richten Sie sich nach Möglichkeit einen Platz her, der nur Ihrem täglichen Sitzen dient. Wählen Sie dafür einen geschützten, ruhigen Ort, wo Sie Ihr Kissen (oder Ihr Stuhl) immer erwartet. Vielleicht möchten Sie auch einen kleinen Altar aufstellen, mit Kerzen, inspirierenden Bildern, Statuen, Blumen, Steinen, Muscheln – was immer Ihnen schön, bewundernswert und heilig erscheint. Dies ist überhaupt nicht notwendig, aber es kann helfen, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen und Sie an das zu erinnern, was Sie lieben.
~ Die Praxis aufrechterhalten ~
Es ist nicht immer leicht, eine regelmäßige Praxis aufrechtzuerhalten. Während der zwölf Jahre, die ich im Ashram lebte, konnte ich jeden Tag mit anderen zusammen praktizieren. Mit solcher Unterstützung war es mir selbstverständlich, jeden Tag Zeit für meine Meditation zu finden. Doch nachdem ich den Ashram verlassen hatte, war es nicht mehr so einfach. Kaum ein Jahr später wurde mein Sohn Narayan geboren, und ich stand mit einem Baby und einem zunehmend unregelmäßigen Tagesverlauf da.
Eines Morgens fühlte ich mich beim Aufwachen besonders missmutig. Nachdem ich Narayans Vater angeschnauzt hatte, weil er beim Einkaufen etwas vergessen hatte, meinte er, ob ich mir nicht etwas Zeit zum Meditieren nehmen wolle. Ich drückte ihm das Kind in den Arm, sank vor meinem kleinen Altar nieder und löste mich sofort in Tränen auf. Mir fehlte der Rhythmus meiner Praxis so sehr. Es fehlte mir, mich selbst regelmäßig zu besuchen! Ich saß da, das Sonnenlicht flutete durch die Fenster, im Hintergrund hörte ich meinen Mann mit Narayan plaudern, und ich schwor mir, komme, was da wolle, jeden Tag Zeit zu finden, um in die Stille zu gehen und auf meine Erfahrung zu achten. Ich ließ mir allerdings eine Hintertür offen: Es war nicht wichtig, wie lange ich saß.
Seitdem habe ich mir immer Zeit genommen. Meistens meditiere ich morgens 30 bis 45 Minuten, aber es gab Tage, vor allem, als Narayan klein war, an denen mir das nicht möglich war. Stattdessen setzte ich mich abends vor dem Einschlafen kurz auf meine Bettkante, entspannte bewusst meinen Körper und öffnete meine Wahrnehmung für meine momentanen Empfindungen und Gefühle. Nach ein paar Minuten sprach ich ein Gebet und schlüpfte unter die Bettdecke. Durch die Veränderungen meines Körpers ist es für mich schwieriger geworden, lange zu sitzen, deshalb mache ich jetzt öfter eine Stehmeditation. Doch mein inneres Versprechen, jeden Tag zu praktizieren, komme, was da wolle, war mir in meinem Leben eine sehr große Stütze.
Für manche meiner Bekannten ist mein Ansatz eine Einladung zur Selbstbestrafung. Irgendetwas kommt dazwischen – eine schlimme Erkältung, frühes Einschlafen auf dem Sofa oder schlichtes Vergessen –, und das Versprechen ist gebrochen. Doch es geht darum, die Meditationspraxis zu genießen, nicht sich Stress damit zu machen. Wie Julia Child schon sagte: »Wenn Ihnen der Braten herunterfällt, heben Sie ihn einfach wieder auf. Wer merkt das schon?« Wenn Sie einen Tag nicht praktiziert haben oder eine Woche oder einen Monat, dann fangen Sie einfach wieder an. Das ist in Ordnung.
Sie werden letztlich nur weitermeditieren, wenn es Sie bereichert. Und es ist schwer, sich bereichert zu fühlen, wenn es mechanisch wird, wenn Sie aufgrund von Schuldgefühlen praktizieren, wenn Sie sich dafür verurteilen, keine Fortschritte zu machen, oder wenn Sie sich in ein verbissenes Einzelkämpfertum zurückziehen. Einer der besten Wege, diese Fallen zu vermeiden, besteht darin, mit anderen zusammen zu praktizieren. Sie können sich an einen bestehenden Meditationskurs anschließen oder sich mit Freunden zusammentun und gemeinsame Erfahrungen machen. Wenn es Ihnen möglich ist, sollten Sie an einem Wochenend- oder Wochen-Retreat teilnehmen, um Ihre Praxis zu vertiefen und Ihr Vertrauen zu stärken, dass Sie friedvoll und achtsam werden können. Dies ist eine wundervolle Zeit in der Menschheitsgeschichte, um Meditation zu praktizieren! Es gibt immer mehr Ressourcen – CDs, Bücher, Podcasts, Lehrer und Mitmeditierende –, um sich auf diesem Weg unterstützen und begleiten zu lassen.
Nach dem Sitzen: Meditationstraining und Alltag
Der Autor und buddhistische Gelehrte Robert Thurman meinte mal im Scherz, die Buddhisten würden immer über die Praxis reden: »Üben, üben, üben! Ich möchte mal wissen, wann denn nun die Aufführung kommt?« Es gibt keine Aufführung, aber es gibt die Möglichkeit, in alltäglichen Momenten wacher zu sein, in denen man sonst in der Trance verloren wäre.
Für Jeff und Arlene, das Ehepaar vom Anfang dieses Kapitels, war die Meditationspraxis ein zentraler Schritt, um ihre Beziehung zu retten. Wie ich es vielen Paaren empfehle, verabredeten auch sie, sich eine meditative »Auszeit« zu nehmen, wenn sie bemerkten, dass sie sich in einem ihrer Tänze aus Ärger und Abwehr verstrickten. Jeder von ihnen konnte um diese bewusste Pause bitten, und beide erklärten sich bereit, solch einer Bitte zu entsprechen. Sie setzten sich dann getrennt oder zusammen (sie experimentierten mit beidem) ruhig hin und nutzten die Fertigkeiten, die sie durch die formelle Praxis erworben hatten: Sie vergegenwärtigten sich ihre Absicht (sich für Präsenz und Liebe zu entscheiden); sie ließen die Geschichten der Schuldzuweisungen los; sie entspannten und beruhigten sich durch den Atem; und sie wandten sich ihren Ängsten und Verletzungen mit Präsenz zu. Nach zehn oder fünfzehn Minuten dieser Mini-Meditationen nahmen sie miteinander Kontakt auf, um zu sehen, ob sie bereit waren, ihr Gespräch wiederaufzunehmen. Ihr Kriterium dafür war, mit der eigenen Verletzlichkeit in Kontakt zu sein statt mit Schuldzuweisungen. Wenn einer von beiden mehr Zeit benötigte, ließen sie dies zu. Manchmal verabredeten sie auch, bis zum nächsten Tag zu warten. Doch meistens waren sie schon nach einer kurzen Meditation besser in der Lage, ihre eigentlichen Gefühle zu erkennen und sie offen mitzuteilen. Indem sie lernten, innezuhalten und sich für Präsenz zu entscheiden, entdeckten sie eine Ebene des Verstehens und der Zuwendung, die sie sich nicht hätten träumen lassen.