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Ich werde oft gefragt, was uns im Getriebe des Alltags helfen kann, uns an Präsenz zu erinnern. Meine erste Antwort lautet: »Innehalten.« Meine zweite Antwort ist: »Nochmals innehalten, ein paarmal bewusst atmen und entspannen.« Da wir ständig in die Zukunft taumeln, ist »Anhalten« die einzige Möglichkeit, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Selbst wenige Augenblicke unterbrochener Aktivität, Mini-Meditationen des Stillseins, können uns wieder mit unserer Lebendigkeit und Zuwendung verbinden. Diese Verbindung vertieft sich noch, wenn wir in jenen Augenblicken einen bewussten Kontakt mit unserem Körper und Atem herstellen und uns entspannen.
Ein Spiel, das ich mit mir spiele, besteht darin, zu sehen, ob ich mich auch bei den alltäglichsten Handlungen spontan daran erinnern kann, innezuhalten. Geschirr abwaschen. Von meinem Büro in die Küche gehen. E-Mails durchsehen. Popcorn essen. Innehalten ist ein wundervoller und radikaler Weg, mich aus der virtuellen Realität herauszuziehen und mich an der Nabe des Rades selbst wiederzuentdecken, wach, offen und hier.
Eine bewusste meditative Pause hilft uns, die häufig vergessene Schönheit und Güte wiederzuentdecken, die in uns und um uns ist. Eine Klientin, Frances, war niedergeschmettert, als ihre zwei Töchter die Ferien lieber mit ihrem Vater (Frances’ Exmann) als mit ihr verbringen wollten. »Mit dir macht es keinen Spaß, Mama, du kannst dich nicht entspannen«, sagte die eine. Als Frances protestierte, wiesen ihre Töchter sie darauf hin, dass sie immer geschäftig sei. Selbst beim Planen von Urlaubsaktivitäten sei sie ernst und angespannt. Frances musste zugeben, dass da etwas dran war. Als Älteste von fünf Kindern hatte sie sich nach der Erkrankung ihrer Mutter viel zu jung um ihre Geschwister kümmern müssen. »Ich kann nicht spielen«, gestand sie traurig. »Es ist mir viel vertrauter, beschäftigt zu sein, Dinge zu erledigen.«
Nach der Erschütterung durch das Verhalten ihrer Töchter, das sie als Ablehnung empfand, begann Frances, täglich zu meditieren, um zu lernen, wie sie entspannen kann. Doch als sie zu einem Beratungsgespräch zu mir kam, sah ich an ihrer steifen Haltung und ihren zusammengekniffenen Augenbrauen, dass sie die Meditation genauso verbissen anging wie den Rest ihres Lebens.
Ich empfahl ihr, einen schönen Ort zu finden, an dem sie spazieren gehen und auf diese Weise meditieren könnte. Sie sollte weiterhin sich des Denkens bewusst werden, wenn sie es bemerkte. Aber statt ihre Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, sollte sie alle ihre Sinneswahrnehmungen als Anker nutzen. Ich empfahl ihr, sich des Drucks ihrer Füße auf der Erde bewusst zu werden und die Bilder und Gerüche und Geräusche der Natur um sich herum zu bemerken. Ich riet ihr, jedes Mal innezuhalten, wenn ihr etwas Schönes oder Interessantes auffiel, und dieser Erfahrung dann ihre volle Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Als wir uns einige Monate später wieder sprachen, berichtete Frances von ihrer Meditation. »Meine Spaziergänge sind ein einziges langes Schlendern!«, erklärte sie und erzählte, wie sehr sie auch andere Dinge in ihrem Leben genießen gelernt habe: ganz langsam einen Pfirsich zu essen und seinen Geschmack und sein Fleisch zu genießen, lange heiß zu duschen und immer mehr während der Sitzmeditation sich einfach mit der Bewegung ihres Atems zu entspannen. Doch vor allem nahm sie ihre Töchter auf neue Weise wahr. Sie genoss das ansteckende Lachen der einen und die anmutigen Bewegungen der anderen. »Ich freue mich an ihnen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Und sie scheinen Spaß daran zu haben, mit mir zusammen zu sein!« Frances entdeckte die Segnungen der Präsenz – eine innige Nähe zu dem Leben hier und jetzt.
Dem Herzen und dem Gewahrsein vertrauen
Bei einer Konferenz mit dem Dalai Lama in Indien fragte ihn eine Gruppe buddhistischer Lehrer aus dem Westen nach der wichtigsten Botschaft, die sie für ihre Meditationsschüler mit nach Hause nehmen könnten. Der Dalai Lama besann sich einen Moment, nickte dann und sagte mit einem strahlenden Lächeln: »Sagt ihnen, dass sie darauf vertrauen können, dass ihr Herz und ihr Gewahrsein unter allen Umständen erwachen werden.« Wir möchten uns so gerne auf unsere Fähigkeit verlassen können, Schwierigkeiten gut zu bewältigen, zu wachsen, zu lieben und alles zu sein, was uns möglich ist.
Viele fangen an zu meditieren, um sich mehr mit ihrem Herzen und ihrem Gewahrsein zu verbinden und mehr Selbstvertrauen zu entwickeln. Und doch liegt für die meisten die mit Abstand größte Herausforderung bei der Aufrechterhaltung der Meditation in ihren Zweifeln: »Ich mache das nicht richtig. Ich kapiere das nicht. Das funktioniert so nicht.« Von Menschen, die sich darum bemühen, eine regelmäßige Praxis aufzubauen, höre ich immer wieder, dass sie ihr Denken nicht kontrollieren könnten oder sich unfähig fühlen, eine Erfahrung offenherziger Präsenz aufrechtzuerhalten. Und dann fragen sie, warum Meditieren so schwer sei.
Es ist schwer, unsere Aufmerksamkeit zu trainieren. Wir arbeiten gegen den Strom unzähliger Stunden von Gedankenverlorenheit und unbewusster Getriebenheit durch Wünsche und Ängste. Es ist, als hätten wir unser Leben auf einem Fahrrad verbracht, auf dem wir ständig heftig von dem gegenwärtigen Augenblick wegzuradeln versuchen. Wir strampeln, um uns nicht auf das einlassen zu müssen, was gerade vor sich geht; wir strampeln, damit etwas so geschieht, wie wir wollen; wir strampeln, um woandershin zu kommen. Je mehr wir das Gefühl haben, dass etwas fehlt oder verkehrt ist, desto schneller strampeln wir. Selbst mitten in der Meditation merken wir manchmal, wie wir weiter in die Pedale treten – angestrengt darum bemüht, beim Atem zu bleiben, einer Fantasie nachjagend.
Solange wir die Macht unserer Konditionierung zum Weglaufen nicht anerkennen, kann Meditation ein prima Anlass für Minderwertigkeitsgefühle sein. Diese Neigung zu falschen Zufluchten ist unseren neuronalen Pfaden enorm stark eingeprägt. Es ist nicht unser Fehler! Wie können wir angesichts dieser Konditionierung dem Rat des Dalai Lama folgen und unserem Herzen und unserem Gewahrsein trauen?
Das bewusste »Tun« während der Meditation (das Benennen unserer Erfahrung, das achtsame Scannen unseres Körpers oder der Fokus auf den Atem) hilft uns, innezuhalten und uns dem Leben in diesem Augenblick zu öffnen. Doch weil wir uns so leicht von dem Drang, »mehr zu tun«, einfangen lassen, ist es sehr hilfreich, die Absicht darauf zu richten, loszulassen. Indem sie sich zuflüsterte: »Ich stimme zu«, öffnete sich Pam in den letzten Tagen ihres Mannes der liebevollen Präsenz; indem ich mich bewusst »den Wellen anvertraute«, entspannte ich meinen Drang, das Leben kontrollieren zu wollen, und verband mich mit einem erweiterten Gewahrsein. In letzter Zeit erinnere ich mich manchmal an eine Zeile von Rainer Maria Rilke: »Lass dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken …« Experimentieren Sie damit, was Ihnen hilft, sich zu erinnern. Welches Wort oder welcher Satz hilft Ihnen, mit dem Strampeln aufzuhören, Ihr gewohnheitsmäßiges »Tun« loszulassen und einfach zu sein?
Ein Schüler fragte einst den hinduistischen Lehrer Swami Satchidananda, ob er Hindu werden müsse, um tiefer in die Praxis des Yoga einzutauchen. Satchidananda antwortete: »Ich bin kein Hindu, ich bin ein Undo« [engl. Wortspiel: undo = das Tun auflösen, ungetan (Anm. d. Übers.)]. Wenn uns die Meditation befreit, macht uns das nicht zu etwas Besserem oder anderem, und sie bringt uns auch nirgendwo hin. Es geht nicht darum, einer spirituellen Leistung entgegenzustreben. Meditation schenkt uns vielmehr die Gelegenheit, unser kontrollierendes Verhalten aufzulösen, unsere einschränkenden Überzeugungen aufzulösen, unsere gewohnten körperlichen Anspannungen aufzulösen, unsere Wehrmauern aufzulösen und vor allem unsere Identifikation mit einem kleinen, bedrohten Selbst aufzulösen. Indem wir alles Tun unterlassen, entdecken wir das weite Herz und das weite Gewahrsein jenseits aller kleinen Identitäten; das Herz und das Gewahrsein, in denen wir in jeder Lebenssituation Zuflucht finden können. Dies ist das Geschenk der Meditationspraxis – wir merken, wir können dem vertrauen, was wir in unserem tiefsten Inneren sind.
Geführte Meditation
Zurückkommen
Die Praxis der Achtsamkeit ist ein direkter Zugang zur natürlichen Präsenz. »Zurückkommen« hilft Ihnen, zur Präsenz zurückzukehren, wenn Sie abgelenkt waren. Es unterstützt Sie darin, sich im gegenwärtigen Augenblick zu fokussieren.
Setzen Sie sich bequem hin. Sie werden besonders wach und aufmerksam sein, wenn Sie auf einem Stuhl, Kissen oder Kniebänkchen sitzen, mit geradem Rücken, aufrechter Haltung und so ausbalanciert wie möglich. Lassen Sie in dieser aufrechten Haltung die nicht benötigten Muskeln los und entspannen Sie sich. Die Hände ruhen bequem auf den Oberschenkeln oder im Schoß. Schließen Sie die Augen oder lassen Sie sie mit weichem, empfänglichem Blick offen, wenn Ihnen das lieber ist.
Atmen Sie ein paarmal tief durch. Lassen Sie mit jedem Ausatmen bewusst los und entspannen Sie das Gesicht, die Schultern, die Hände und den Bauch. Wenn Ihr Atem seinen natürlichen Rhythmus gefunden hat, wählen Sie einen Anker für Ihre Meditation. Die wirksamsten Anker sind an die sinnliche Wahrnehmung gebunden. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit zum Beispiel auf …
• den Atem, wie er durch die Nasenlöcher ein- und ausströmt;
• andere Empfindungen, die mit dem Atmen verbunden sind, wie das Heben und Senken der Brust oder der Bauchdecke;
• die Geräusche in Ihnen oder um Sie herum;
• andere körperliche Wahrnehmungen, die Sie in dieser sitzenden Haltung innerlich erfahren: vielleicht ein Kribbeln in den Händen, Wärme oder Kühle bestimmter Körperregionen, Anspannung oder Entspannung bestimmter Muskelgruppen.
Nehmen Sie sich etwas Zeit, sich Ihrem Anker mit voller, entspannter Aufmerksamkeit inniglich zuzuwenden. Sie können sich vorstellen, Ihr gesamtes Gewahrsein sei genau hier, offen für den Strom Ihres Atems (oder anderer Empfindungen oder der Geräusche) von Augenblick zu Augenblick. Sie brauchen Ihre Aufmerksamkeit nicht zu erzwingen, schauen Sie vielmehr, ob es Ihnen möglich ist, die Erfahrung einfach zu empfangen und sich mit den wechselnden Ausdrucksformen des von Ihnen gewählten Ankers zu entspannen. Spüren Sie, wie Sie Ihr Anker mit der Wachheit und dem »Hier-Sein« an der Nabe des Rades verbindet.
Welchen Anker Sie auch gewählt haben, Sie werden schnell merken, dass Ihr Geist abgelenkt wird, die Nabe verlässt und in Gedanken kreist. Diese Ablenkungen sind vollkommen normal – so wie der Körper Enzyme absondert, erzeugt der Geist Gedanken! Es gibt keinen Grund, die Gedanken zu bewerten oder als Feinde zu betrachten. Wenn Sie einen Gedanken bemerken, würdigen Sie diesen Moment lieber als einen Augenblick des Erwachens. Solch eine respektvolle Haltung ist ein entscheidender Bestandteil des Nach-Hause-Zurückkommens und der Rückverbindung mit vollständiger Präsenz.
Wenn Sie bemerken, dass Sie sich in Gedanken verloren haben, mag es hilfreich für Sie sein, dies sich selbst gegenüber anzuerkennen, indem Sie sich sagen: »Dies ist ein Gedanke«, oder: »Denken, denken.« Halten Sie dann einen Moment inne – es gibt keine Notwendigkeit, sofort zur Heimatstation zurückzueilen. Indem Sie sich etwas Zeit nehmen, auf die Geräusche zu lauschen, die Schultern, die Hände und den Bauch wieder zu entspannen und das Herz zu entspannen, werden Sie ganz natürlich zur Präsenz zurückkehren. Achten Sie auf den Unterschied zwischen irgendwelchen Gedanken und der Lebendigkeit des Hier-Seins! Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit dann wieder sanft auf Ihren Anker zurück, um mit ganzer Präsenz an der Nabe des Rades zu verweilen.
Praktizieren Sie auf diese Weise weiter, in der Absicht, die Gedanken zu erkennen und immer und immer wieder zu dem entspannten Fokus auf Ihren Anker zurückzukehren. Diese einfache Praxis des »Zurückkommens« zur Nabe des Rades ist ein kraftvoller Weg, eine Atmosphäre des achtsamen Gewahrseins zu kultivieren. Auch wenn Sie Ihre Meditationspraxis erweitern, kann diese Übung weiterhin ein wichtiges Element Ihrer täglichen Praxis sein.
Geführte Meditation
Hier sein
»Hier sein« fördert direkt die Offenheit und Klarheit des achtsamen Gewahrseins – der wachen Stille an der Nabe des Rades. »Zurückkommen« und »Hier sein« führen wesentliche Aspekte der Achtsamkeit ein, die zur Vipassana-Meditation gehören.
Setzen Sie sich so hin, dass Sie wach und entspannt sein können. Wandern Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit durch Ihren Körper und achten Sie darauf, ob Sie irgendwo Spannungen bemerken, die Sie vielleicht etwas lockern und loslassen können. Bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit dann auf den von Ihnen gewählten Anker und nehmen Sie sich so viel Zeit wie nötig, um das »Zurückkommen« zu üben. Am Anfang ist der Geist oft ruhelos und abgelenkt, doch nach ein paar Minuten werden Sie vielleicht Lücken zwischen den Gedanken bemerken – und mehr Momente, in denen Sie bei Ihrem Anker an der Nabe des Rades verweilen.
Bleiben Sie mit einer beharrlichen und gleichzeitig leichten Aufmerksamkeit bei Ihrem Anker und schließen Sie jetzt auch den Hintergrund Ihrer sensorischen Erfahrung mit in Ihr Gewahrsein ein. Wenn Ihnen zum Beispiel das Ein- und Ausströmen des Atems als Heimatstation dient, bemerken Sie jetzt vielleicht auch die Geräusche im Raum, eine innere Ruhelosigkeit, ein Jucken, Wärme. Diese Erfahrungen kommen und gehen, ohne Ihre Aufmerksamkeit von Ihrem Anker abzuziehen. Doch wenn eine dieser Erfahrungen Ihre Aufmerksamkeit besonders anzieht, können Sie sie an die Stelle Ihres Ankers in den Vordergrund Ihrer Aufmerksamkeit setzen. Vielleicht bemerken Sie immer stärker, dass Sie schläfrig sind. Ihre Aufgabe besteht einzig und allein darin, zu erkennen und zuzulassen, wie Sie »Schläfrig-Sein« erfahren. Erleben Sie Schläfrigkeit als eine bestimmte Konstellation von Körperempfindungen. Achten Sie darauf, wo Sie die Empfindungen am meisten spüren und wie sich diese anfühlen. Spüren Sie ein Brennen hinter den Augen? Einen Druck auf der Brust? Eine Verschwommenheit im Geist? Bemerken Sie, wie sich die Empfindungen verändern: Werden sie stärker, sind sie gleichbleibend oder lassen sie nach? Wenden Sie sich weiter aufmerksam der Schläfrigkeit zu – bemerken Sie, wie sie sich anfühlt, und lassen Sie sie so sein – bis sie nicht mehr Ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Manchmal wird sich die Schläfrigkeit vielleicht in etwas anderes verwandeln, was Ihre Beachtung verlangt, vielleicht eine Sorge darüber, schläfrig zu sein. Vielleicht fürchten Sie, mit der Meditation Ihre Zeit zu vergeuden, oder Sie fürchten, den ganzen Tag lang müde zu sein. Beachten Sie die Gedanken (»Denken, denken«) und spüren Sie die Körperempfindungen, die damit einhergehen. Vielleicht eine gewisse Enge in der Brust? Ein Empfinden von Wundheit oder Zusammengezogenheit? Achten Sie genau wie bei der Schläfrigkeit darauf, wie sich die Empfindungen im Körper bewegen und wie sie an Intensität zu- oder abnehmen, und lassen Sie alles so sein, wie es ist. Wenn diese Wahrnehmungen nicht mehr Ihre Aufmerksamkeit fordern, kehren Sie zu Ihrem Anker zurück. Auf diese Weise wird alles, was sich zeigt – Gedanken, Emotionen, Empfindungen –, in die urteilsfreie Präsenz an der Nabe des Rades mit einbezogen. Ihre Übung besteht einfach darin, zu erkennen und zuzulassen, was ist.
Um das »Hier-Sein« zu unterstützen, können Sie sich beim Auftauchen intensiver Erfahrungen mentale Anmerkungen notieren. Das Benennen Ihrer Empfindungen (»Brennen, brennen«), Emotionen (»Angst, Angst«) oder bestimmter Arten von Gedanken (»Sorgen, Sorgen«) kann Ihnen helfen, klarer zu erkennen, was in Ihnen vor sich geht, ohne die Präsenz an der Nabe des Rades zu verlassen. Geben Sie Ihrem Flüstern einen sanften Tonfall der Akzeptanz: Das Benennen soll Ihnen dazu dienen, sich mit Ihrer aktuellen Erfahrung zu verbinden, ohne sie zu beurteilen oder ihr zu widerstehen. Es geht nicht darum, genau die richtige Bezeichnung zu finden oder alles zu benennen, was vor sich geht. Wenn Sie das Benennen als Ablenkung oder als schwerfällig empfinden – wenn es den Fluss Ihrer Präsenz stört –, können Sie es ziemlich sparsam einsetzen oder ganz weglassen.
Wenn Ihr Geist geschäftig umherflitzt und ständig die Nabe des Rades verlässt, wird Ihre Meditation eine natürlich fließende Bewegung zwischen »Zurückkommen« und vertiefter Präsenz beim »Hier-Sein« aufweisen. Wenn Sie jedoch merken, dass Ihr Geist zur Ruhe kommt, können Sie damit experimentieren, den Anker loszulassen. Ruhen Sie in der stillen Wachheit an der Nabe des Rades und empfangen Sie, was in Ihrem Gewahrsein auftaucht, ohne Ihre Aufmerksamkeit bewusst zu lenken. Gedanken können kommen und gehen, genauso wie die Empfindungen des Atems, ein Geräusch von draußen, ein ängstliches Zucken. Ihre Absicht ist einzig und allein, zu erkennen und zuzulassen, was geschieht, von Moment zu Moment zu Moment. Indem Sie die Kontrolle loslassen und sich mit dem sich ständig wandelnden Strom der Erfahrungen entspannen, beginnen Sie, in die ganze Fülle natürlicher Präsenz hineinzuwachsen. Bemerken Sie, wie grenzenlos die Nabe des Rades eigentlich ist; wie die Erfahrung weniger einem zu verortenden »Hier« entspricht, sondern vielmehr in der wachen Offenheit des Gewahrseins selbst erscheint und vergeht. Ruhen Sie in diesem Gewahrsein, und lassen Sie das ganze Leben durch sich leben.
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Drei Tore zur Zuflucht
Manchmal hörst du eine Stimme durch die Tür, die dich ruft,
wie ein Fisch auf dem Trockenen die Wellen hört …
Komm zurück. Komm zurück.
Diese Wendung hin zu dem, was du zutiefst liebst, rettet dich.
Rumi
Das große Geschenk eines spirituellen Pfades liegt in dem wachsenden Vertrauen, einen Weg zu wahrer Zuflucht finden zu können. Wir erkennen, dass wir genau dort beginnen können, wo wir sind, inmitten unseres eigenen Lebens, und unter allen Umständen Frieden erfahren können. Selbst in jenen Augenblicken, wo wir meinen, den Boden unter den Füßen zu verlieren – wie bei einem Verlust, der unser Leben für immer verändert –, können wir uns darauf verlassen, den Weg nach Hause zu finden. Dies ist möglich, weil wir mit der zeitlosen Liebe und Bewusstheit in Berührung gekommen sind, die unserem Sein zu eigen sind.
Im Verlauf der Menschheitsgeschichte und in vielen religiösen und spirituellen Traditionen tauchen immer wieder drei archetypische Tore zum universellen Weg des Erwachens auf. Aus meiner Sicht lässt sich der Geist dieser Tore am besten mit den Begriffen Wahrheit, Liebe und Gewahrsein erfassen. Wahrheit ist die lebendige Wirklichkeit, die sich im gegenwärtigen Augenblick offenbart; Liebe ist das Empfinden von Verbundenheit oder Einheit mit der Gesamtheit des Lebens; und Gewahrsein meint jene stille Wachheit, die den Hintergrund aller Erfahrung bildet; das Bewusstsein, welches diese Worte liest, Geräusche hört, Empfindungen und Gefühle wahrnimmt. Jedes dieser Tore bildet einen wesentlichen Teil dessen, was uns ausmacht; jedes ist eine Zuflucht, denn sie sind immer da, unserem Dasein selbst innewohnend.
Wer mit dem buddhistischen Weg vertraut ist, erkennt diese Begriffe vielleicht wieder. Traditionell lauten sie:
• Zuflucht zu Buddha (dem »Erwachten« oder unserem eigenen reinen Gewahrsein)
• Zuflucht zum Dharma (der Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks; den Lehren; dem Weg)
• Zuflucht zum Sangha (der Gemeinschaft der spirituellen Freunde oder der Liebe)
In den folgenden Kapiteln habe ich diese Tore jedoch so angeordnet, wie sie nach meiner Erfahrung am zugänglichsten sind. Für viele Menschen, vor allem für jene, die Meditation üben, bildet der Kontakt mit der Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks die erste Öffnung zu innerer Zuflucht. Für andere ist es das Erwachen der Liebe. Wenn wir uns mit diesen Toren der Wahrheit und der Liebe vertraut gemacht haben, entsteht daraus eine Hinwendung zu formlosem Gewahrsein. Im Laufe der Zeit wird die Zuwendung zu jedem dieser Tore auf natürliche Weise zu den anderen führen. Sie sind wahrhaft unzertrennlich.
Im Hinduismus sind dieselben Tore zentral, und sie heißen auf Sanskrit: Sat (ultimative Wahrheit oder Wirklichkeit), Ananda (Liebe oder Seligkeit) und Chit (Bewusstsein oder Gewahrsein). Und wir finden sie auch in manchen Interpretationen der christlichen Dreifaltigkeit wieder: Vater (der Ursprung oder das Gewahrsein), Sohn (das formgewordene Gewahrsein oder die lebendige Wirklichkeit/Wahrheit) und Heiliger Geist (Liebe, die Liebe zwischen Vater und Sohn).
Scheint das alles sehr abstrakt und unzugänglich, wenn wir mit unserem Alltag ringen? Wie können wir zu diesen Toren in unserem Alltag Zugang finden? Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass jeder dieser Zufluchtsbereiche einen inneren und einen äußeren Aspekt hat. In ihren äußeren Erscheinungsformen sind uns diese Zufluchten weltliche Quellen der Heilung, der Unterstützung und der Inspiration. Wir können aus weisen Lehren lernen (Wahrheit). Wir können mit Freunden und Verwandten Wärme und Zuneigung genießen (Liebe). Wir können uns von spirituellen Vorbildern inspirieren lassen (Gewahrsein). Jede Religion und jeder spirituelle Weg enthält Angebote solcher äußerer Zufluchten. Wenn wir uns auf sie einlassen, bieten sie uns direkte, konkrete Hilfen für unser tägliches Leben. Doch die äußeren Zufluchten offerieren noch mehr: Sie sind Zugang zu den inneren Zufluchten des reinen Gewahrseins, des lebendigen Flusses der Wahrheit und der grenzenlosen Liebe. Wenn wir uns diese Ausdrucksformen unserer wahren Natur zu eigen machen, löst sich die Trance der Getrenntheit auf und wir sind frei.
Die äußeren und inneren Aspekte der Zuflucht
ÄUSSERE ZUFLUCHTINNERE ZUFLUCHTWAHRHEITMeditation Ethik LehrenDie Natur der Wirklichkeit erkennen; lebendige Präsenz verkörpernLIEBEBewusste Beziehungen zu sich selbst und anderenEinheit erkennen; liebevolle Präsenz verkörpernGEWAHRSEINInspirierende spirituelle PersonenDas leere, leuchtende Gewahrsein erkennen und verkörpernDas Tor der Wahrheit
In Pali, der Sprache der frühesten buddhistischen Schriften, kann das Wort Dharma »Pfad«, »Weg« oder »Natur der Dinge« bedeuten. Wenn ich oder andere buddhistische Lehrer in unseren Kursen und Retreats »Dharma-Vorträge« anbieten, beziehen wir uns auf drei Wege, die wir einschlagen können, um Zuflucht zur Wahrheit zu nehmen: das Arbeiten mit unserem Innenleben durch eine Meditationspraxis; die innere Verpflichtung zu weisem, tugendhaftem Verhalten; und ein Verstehen der Lehren oder Wahrheiten, die uns auf dem spirituellen Weg leiten.
~ Meditation: Zur Wahrheit erwachen ~
Vielleicht sind Sie mit der Achtsamkeitspraxis in einer Klinik, in einer Psychotherapie oder in einer Fortbildung in Kontakt gekommen – ohne jeglichen Bezug zum Buddhismus. Allein die Erkenntnis, dass wir unsere Aufmerksamkeit bewusst steuern können, kann eine verblüffende, wundervolle Entdeckung sein. Auch ganz am Anfang der Praxis können wir die ruhige Zentriertheit erfahren, die sich einstellt, wenn wir aus unseren Gedanken aufwachen und im Atem ruhen und durch das achtsame Gewahrsein der Erfahrung des jeweiligen Augenblicks neue Klarheit gewinnen.
Viele Menschen kommen zunächst aus gesundheitlichen Gründen oder um Stress abzubauen zu meinem Meditationskurs am Mittwochabend. Manchmal machen sie dann überraschende Entdeckungen.
Terrance war Richter am Kammergericht in Washington D.C. Bei seinem ersten Besuch meines Kurses kam er am Ende der Veranstaltung auf mich zu, um über seine Arbeit zu reden. Er fühlte sich von den vollen Gerichtssälen und dem ganzen Ausmaß an Leiden, welchem er dort jeden Tag begegnete, oft überfordert. Er fragte mich, was er tun könne, um sich in alldem mehr Luft zu verschaffen. Ich nahm seinen Ausdruck »mehr Luft verschaffen« auf und schlug ihm eine tägliche Meditationspraxis vor, bei der ihm der Atem als Anker diente. So würde er dann selbst bei der Arbeit nur einen kurzen Moment brauchen, in dem er sich mit seinem Atem verbinden und so innere Klarheit und Gelassenheit finden könnte.