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Summer-Rain stand wie erstarrt, merkte nicht einmal, dass jemand ihren Namen rief. Es war Großmutter, die auf sie einredete. „Summer-Rain, Summer-Rain, mein Kind, mein Liebling, mein Alles. Du bist da, du bist wirklich da!“ Außer Atem schob sie sie vor sich her. „Alle haben mir schon gesagt, dass du zurück bist“ – sich unterbrechend – zeigte sie aufgeregt auf eine kleine Baumgruppe in einer flachen Mulde vor einem der Hügel. „Dream-In-The-Day bekommt ihr Baby. Ausgerechnet jetzt. Komm, du musst mir helfen!“ Das war alles, was sie hervorbrachte.
Doch Summer-Rain verstand sofort, was sie meinte, und eilte, ihr Pferd am Halfter, hinter ihr her. Die Baumgruppe bestand aus dichtem Haselnussgesträuch und bot ausreichend Schutz. Dream-In-The-Day lehnte an einem dahinter aufragenden Eichenstamm. Neben ihr kniete Dark-Night, die ihr Gesicht jetzt den Ankommenden zuwandte. Erschrocken über ihren Anblick wollte Summer-Rain zuerst Fragen stellen, unterließ es dann aber. Es war unverkennbar: Jemand hatte der kleinen Mexikanerin die Hälfte ihrer Nase abgeschnitten.
„Warum seid ihr nicht längst fort?“, war alles, was sie sagen konnte. Eben noch musste sie verarbeiten, dass ihre beste Freundin hochschwanger war – und dann das. Dark-Night, die ihren Blick wohl bemerkt hatte, zog sich die heruntergerutschte grüne Binde wieder über die Nase. Ihre schwarzen Augen musterten sie etwas erstaunt. Sie hatte sie hier nicht erwartet. Summer-Rain schluckte bei ihrem Anblick unwillkürlich – so verhärmt und hohlwangig sah Dark-Night aus. Es war ein ungewohnter Anblick; als sie sie verlassen hatte, war sie noch eine Schönheit gewesen. Was war passiert? Inzwischen hatte sich Dark-Nights Blick verändert. Jetzt lächelte sie Summer-Rain freundlich an. Dann beantwortete sie ihre Frage. „Ging nicht mehr. Dream-In-The-Day hatte bereits schlimme Wehen, während wir ihr Tipi abrissen.“
Das Lächeln verschönte ihr eingefallenes Gesicht auf wunderbare Weise. „Du weißt es sicherlich noch nicht, Schwägerin“, meinte sie, das letzte Wort besonders betonend. „Ich bin jetzt Light-Clouds Ehefrau.“ Sie zeigte in die Richtung, in die die Krieger geritten waren. „Hast du ihn gesehen? Ich musste ihm einen dicken Verband anlegen, denn er wollte unbedingt mit den Kriegern reiten. Du kennst ja unseren Light-Cloud!“
Großmutter warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Als ob sie nichts Wichtigeres zu tun hätten, als über solche Dinge zu plaudern, sollte das wohl heißen. Vielleicht wollte sie aber auch nur nicht, dass Summer-Rain sich Sorgen machte.
Das Mädchen drehte sich zu Dream-In-The-Day um, die unter Stöhnen die nächste Wehe wegatmete.
„Und wer, bitte schön, ist dein Ehemann? Ich scheine ja ziemlich viel verpasst zu haben!“ Damit zeigte sie auf den hochgewölbten Bauch der Freundin.
Dream-In-The-Day lächelte schief. Natürlich, Summer-Rain konnte das ja nicht wissen. „Gray-Wolf ist mein Ehemann, Summer-Rain“, sagte sie sichtlich stolz.
„Weiß er, dass du hier bist und euer Kind bekommst?“
Großmutter und Dark-Night wechselten einen wissenden Blick.
„Weiß er nicht“, presste Dream-In-The-Day hervor, nach Atem ringend. „Muss er auch nicht, ich komme schon klar. Das hier ist Frauensache, da hat ein Mann nichts zu suchen.“
Wie zur Bekräftigung ihrer Worte deutete Großmutter mit einer knappen Kopfbewegung unter einen der Haselnusssträucher. Dort kauerten zwei Frauen, die Summer-Rain erst jetzt bemerkte. Die eine war Dream-In-The-Days Mutter und die andere, eine etwas ältere, die von Gray-Wolf. Innerlich stöhnte Summer-Rain auf. Auch das noch! Einen Blick auf ihr Pferd werfend, wandte sie sich ihnen zu. „Ihr beiden“, unmissverständlich wies sie mit dem Finger. „Ihr nehmt jetzt sofort mein Pferd und reitet hinter den anderen her.“
Weiter kam sie nicht, denn Gray-Wolfs Mutter richtete sich kerzengerade auf. Hinter ihren Rücken langend, holte sie ein ziemlich mitgenommen aussehendes Gewehr hervor. Eine Munitionstasche hing an ihrem Gürtel; sie fingerte darin herum, dann ergriff sie eine Handvoll Munition und schüttelte sie Summer-Rain entgegen. „Ich gehe nirgendwohin, ich kann meine Tochter beschützen!“ Entschlossen hielt sie die Waffe hoch, um sie dem Mädchen zu zeigen.
Einen Moment lang war Summer-Rain sprachlos angesichts so viel Dummheit, dann stieß sie wütend hervor:
„Wem willst du denn damit Angst einjagen?“
Die Frau blickte zuerst auf ihre Waffe, dann auf Summer-Rain. „Wie meinst du das?“
Wieder hielt sie ihr die Waffe entgegen, jedoch schon etwas unsicherer. Ihr bei einem Jagdunfall verunglückter Mann hatte sie immer in Ehren gehalten. Es musste eine gute Waffe sein!
Ungehalten schüttelte Summer-Rain den Kopf. Sie hatte keine Zeit für Erklärungen. „Steigt auf mein Pferd, alle beide“, forderte sie erneut, diesmal lauter. „Das Gewehr ist so alt, dass du daraus keinen einzigen Schuss mehr abfeuern kannst. Außerdem gehört die Munition, die du da hast, nicht zu diesem Gewehr.“ Noch während sie das sagte, war sie dem alten Trapper dafür dankbar, ihr so viel über Waffen beigebracht zu haben. „Großmutter und ich“, fuhr sie fort, „wir werden uns um Dream-In-The-Day kümmern. So, wie es jetzt aussieht, kann deine Tochter nicht einmal mehr auf einem Travois reisen, was wir im Übrigen auch gar nicht hier haben. Und reiten geht erst recht nicht. Wir müssen hier bleiben. Je weniger wir sind, umso leichter finden wir einen Ort, an dem wir vor den Soldaten sicher sind.“ Ihr Ton war jetzt milder. Sie hatte durchaus Verständnis für die beiden besorgten Mütter. Energisch griff sie nach dem Arm der älteren Frau und schob sie auf ihr Pferd zu. Die jüngere, die bisher ruhig geblieben war, legte ihre Hand auf den Rist des Ponys. „Ist schon gut – komm, hör auf sie. Dein Sohn würde das auch so wollen!“ Sich nach einem Bündel, das zusammengezurrt vor ihr lag, bückend, wuchtete sie es über den Rücken des Pferdes. Während sie es mit flinken Händen so befestigte, dass noch Platz für sie beide blieb, half Summer-Rain ihr dabei.
Flüchtig musterte die Frau das Fell, das darauf lag, während ihnen Dark-Night ein weiteres Bündel reichte. Die Miene der kleinen Mexikanerin bedeutete nichts Gutes – hatte sie Summer-Rains Worte doch gehört. Sie und Großmutter würden sich um Dream-In-The-Day kümmern? Schließlich war sie ja auch noch da!
„Dark-Night kann sich den Nachzüglern anschließen“, kam es auch schon prompt von Summer-Rain. „Jemand wird sie schon mit auf sein Pferd nehmen“, kommandierte sie mit energischem Ton.
„Du hast mir gar nichts zu sagen“, schnappte Dark-Night und stemmte beide Fäuste in die Seiten. In ihren kugelrunden schwarzen Augen blitzte es drohend auf.
Summer-Rain betrachtete sie nur kurz; dann kam sie zu dem Schluss, dass es besser war, sich nicht mit ihr anzulegen. „Also gut, wenn du darauf bestehst, dann bleib eben.“
Großmutter verzog den Mund; sie hatte nichts anderes erwartet. Diese beiden würden sich nichts schenken.
Zufrieden trat Dark-Night zu Dream-In-The-Days Mutter und half ihr beim Aufsteigen. „Ich weiß ein gutes Versteck“, sagte sie dabei mit ihrer angenehmen, melodischen Stimme, ohne sich den Ärger von eben noch anmerken zu lassen. „Dort wird deine Tochter sicher sein, bis das Baby da ist. Da oben, in den Höhlen zwischen den Felsen, wird uns niemand finden.“ Kurz zögerte sie – dann, an alle gewandt: „Ich kenne mich dort aus. Lasst mich euch die Höhle zeigen, wo wir am unsichtbarsten sind. Hier jedenfalls können wir nicht mehr bleiben.“
Großmutter kniff die Lippen ein wenig boshaft zusammen. Wie gut sie sich da oben auskannte, war schließlich zur Genüge bekannt. „Wir kommen nach“, meinte sie jedoch nur, an die beiden Frauen auf dem Pferd gewandt. Dann betrachtete sie ihre Nichte, die mit der Hand leicht über das Fell strich, und ihr wurde klar, wie viel inzwischen geschehen sein musste. Ihre Augen begegneten sich – sie würden einander eine Menge zu erzählen haben.
Dream-In-The-Day blickte den beiden sich rasch entfernenden Frauen hinterher, sichtlich froh, die Sorge um sie endlich los zu sein. Die Verantwortung für ihr Baby lastete schon schwer genug auf ihr. Sie wollte sprechen, doch es verschlug ihr den Atem, als die nächste Wehe kam.
„Los, Kind, wir müssen uns beeilen“, übernahm Großmutter das Kommando. Entschlossen raffte sie die Decken, die neben der Schwangeren auf dem Boden ausgebreitet lagen, zusammen, griff sich ein kleineres Bündel, das dort lag, und reichte alles Dark-Night. „Zeig uns den kürzesten Weg bis zu deiner Höhle. Dream-In-The-Day wird nicht laufen können. Fass mit an, Summer-Rain, wir beide tragen sie.“ Gemeinsam hoben sie die Schwangere hoch und nahmen sie in die Mitte. Das Baby wollte unbedingt jetzt in diese gefahrvolle Welt hineingeboren werden. Dream-In-The-Days Atem ging flach und sie versuchte, die stärker werdenden Wehen wieder wegzuatmen. Mit einem verkrampften Lächeln täuschte sie über ihre Schmerzen hinweg.
Der Geschützdonner kam näher. Über dem Fluss hing schwarzer Rauch. Auch die Geräusche der miteinander kämpfenden Männer konnte man bis hierher hören. Noch waren die Soldaten zu weit weg, als dass sie sie sehen konnten. Trotz ihrer Last kletterten die Frauen schnell das steinige Geröllfeld hinauf; sich hinter jedem großen Stein oder Gebüsch versteckend.
Dark-Night führte sie. Ganz oben, hinter Dornensträuchern verborgen, zeigte sie ihnen die Höhle, die sie hemeint hatte. Sie war nicht sehr groß, doch wenigstens war sie trocken und bot vorläufig Schutz. Bei Dream-In-The-Day kamen die Wehen jetzt bereits schnell hintereinander. Großmutter hatte recht gehabt. Hoffentlich waren die beiden anderen Frauen inzwischen in Sicherheit. Gut, dass Summer-Rain sie weggeschickt hatte. Für noch mehr Leute wäre es hier oben zu eng geworden. Sie richteten sich mit den mitgebrachten Decken einigermaßen ein.
Summer-Rain kniete in dem niedrigen Eingang und versuchte, durch das davor wuchernde Gesträuch etwas zu erkennen. Großmutter hockte neben ihr, während sich Dark-Night jetzt um Dream-In-The-Day kümmerte. Lange schwieg die alte Frau. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste erfahren, wie es ihrem Liebling ergangen war. Besonders die Frage nach dem Fell lag ihr auf der Zunge. Ungeachtet der Schüsse, die von unten bis hier herauf zu hören waren, und der Sorgen um ihre Leute wollte sie alles wissen. Es würde vielleicht ein wenig ablenken. Summer-Rain begann also, ihnen von ihren Erlebnissen zu erzählen, während Dream-In-The-Days Wehen schnell nacheinander kamen. Angefangen von ihrem Aufbruch, dann die Sache mit den Apachen bis hin zu John Black und seinem Hund. Keine der Frauen unterbrach auch nur einmal ihre Erzählung. Ja, es war eine gute Methode, sich von dem Geschehen unter ihnen abzulenken.
Sogar Dream-In-The-Day schien sich beim Klang ihrer Stimme zu entspannen – oder das Kind, wie Großmutter behauptete.
Am Ende musterte die alte Frau aus dem Dunkel heraus Summer-Rain. Nachdenklich legte sie den Kopf auf ihre dünnen, sehnigen Arme. In ihren Gedanken tauchte ein Bild auf, das sie lieber nicht heraufbeschwören wollte. Insbesondere nicht vor Summer-Rain, schon gar nicht jetzt. Sanft berührte sie den von Brandnarben gezeichneten Arm des Mädchens und war dankbar, sie wieder hier bei sich zu haben. Als Summer-Rain ihr das Gesicht zuwandte, fragte sie sie leise, so dass es die anderen nicht hören konnten: „Glaubst du, dass dieser Hund eine Verbindung zu deinem Tiergeist hat und er ihn zu dir schickte, um dich zu beschützen?“
Summer-Rain, die sie nur erstaunt über eine solche Frage anstarren konnte, erschauerte. Es war ihr plötzlich, als berührte sie ein Schatten. Sie wusste zunächst keine Antwort. Dann aber, nach kurzem Besinnen, lächelte sie und schüttelte das, was sie bedrücken wollte, ab. „Diese Erklärung hätte dem alten Trapper gefallen, Großmutter“, sagte sie.
Die alte Frau nickte. „Ich bin froh und dankbar, dass sich dieser alte Mann um dich gekümmert hat – sehr froh …“ Schwer seufzend lehnte sie sich zurück an die Felsenwand der Höhle. Das Schweigen, das sich danach auf alle legte, wurde nur durch Dream-In-The-Days unterdrückte Schmerzenslaute unterbrochen.
„Was denkt ihr? Haben sie es alle rechtzeitig geschafft? Und unsere Männer – die Krieger – können sie diesen Feind dort unten besiegen?“, unterbrach Dark-Night leise die nur zäh dahinfließende Zeit.
Großmutter beugte sich zu ihr hinüber, sanft die Binde über ihrer Nase berührend. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie ebenso leise. „Wir können es nicht wissen. Bis dahin sollten wir uns diese Fragen nicht einmal stellen.“
Das war zwar nicht das, was Dark-Night hören wollte, doch bevor sie sie weiter damit beunruhigen konnte, legte die alte Frau ihr sanft die Hand auf den Mund. Bis auf Dream-In-The-Days unterdrücktes Stöhnen herrschte lange Zeit wieder Schweigen. Dann meinte Großmutter, als hätte Dark-Night ihre Frage eben erst gestellt: „Wenn sie es nicht geschafft hätten, würden die Soldaten dort unten jetzt jubeln; aber sie sind still.“
Damit hatte sie natürlich recht. Nur war das bisher niemandem außer ihr aufgefallen. Tatsächlich – draußen war es merkwürdig still geworden. Der Beschuss hatte aufgehört. Es drängte alle, aus der Höhle zu kriechen, um sich davon zu überzeugen, doch das wäre sehr dumm gewesen. Plötzlich wurde ihnen klar, dass niemand außer Dream-In-The-Days Mutter und Schwiegermutter von ihnen hier oben etwas wusste. Sie waren also völlig auf sich allein gestellt. Um die Zeit, bis das Baby käme, zu überbrücken und keine unnütze Grübelei aufkommen zu lassen, begann Großmutter, Geschichten aus ihrem eigenen Leben zu erzählen. Dream-In-The-Day hatte sich ein Stück Holz zwischen die Zähne geschoben, damit niemand sie jetzt, wo es vielleicht unten von Soldaten nur so wimmelte, hören konnte. Weil die Wehen stärker wurden, biss sie fest darauf. Während Großmutters Stimme leise dahinplätscherte, rückte die Geburt ihres Babys immer näher. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Summer-Rain hielt es vor Ungeduld kaum noch aus. Sie wollte endlich wissen, was unter ihnen vorging. Ihre Gedanken eilten bereits weit voraus. Schließlich mussten sie von hier weg. Dafür brauchten sie Pferde. Woran keine der anderen Frauen dachte, schwirrte ihr bereits seit einiger Zeit im Kopf herum. Um Gewissheit zu erlangen, wagte sie sich ungefragt ein Stück aus der Höhle. Inzwischen war es dunkel geworden, und der Mond stand schräg über ihnen im Osten. Ein Trompetensignal war zu hören; also waren die Soldaten noch in der Nähe. Summer-Rain sah die Feuer brennen, und ihr Herz klopfte laut. Die Soldaten hatten unter ihnen ihr Lager errichtet. Das hieß, dass sie noch eine Weile bleiben wollten. Auch auf der anderen Seite des Flusses waren Feuer zu sehen. Unruhig schaute sie auf die Menge der Zelte, auf die Wimpel und Fahnen, die sich im Nachtwind bewegten. Soldaten liefen dazwischen hin und her, einige waren zu Pferde, andere saßen um Feuer. Was sollten sie machen? Ratlos wandte sie sich zurück und suchte im Halbdunkel der Höhle die Augen von Großmutter, die jedoch gerade mit Dream-In-The-Day beschäftigt war.
Wieder blickte sie hinunter. Es half nichts – ihr musste etwas einfallen. Sie hatte gehofft, die Soldaten würden abziehen. Wie es aussah, dachten diese aber nicht daran. Bis zum Fluss hinunter breitete sich das Lager aus. Immer mehr Feuer brannten und erhellten die Dunkelheit. So viele Soldaten auf einmal hatte sie noch nie gesehen. Manche von ihnen trugen Verbände, einige hinkten oder stützten sich auf ihre Kameraden. Die meisten saßen an ihren Feuern, hatten aber ihre Waffen in Reichweite neben sich liegen. Schräg unter ihr erblickte Summer-Rain ein großes Zelt vor einer Senke. Davor ging ein Posten auf und ab. Soeben ritten vier Männer vom Fluss herauf auf das große Zelt zu.
Pawnee-Scouts. Wütend ballte sie die Fäuste. Pawnee und Comanchen hatten sich noch nie vertragen. Unbehelligt ritten sie durch dieses Lager, trugen Uniformjacken, sogar Soldatenmützen, und benahmen sich wie Sieger. Sie tat diese Gedanken mit einem Kopfschütteln ab. Viel wichtiger war die Frage: Wie lange hatten die Soldaten vor, hier zu bleiben?
Während Dream-In-The-Day ihr Baby zur Welt brachte, blieb Summer-Rain auf ihrem Beobachtungsposten. Soeben ritten einige Soldaten mit einer größeren Anzahl Pferde unten am Geröllfeld vorbei nach Osten und entschwanden ihren Blicken. Sie musste unbedingt wissen, was sich dort befand. In ihrem Kopf begann sich eine Idee zu entwickeln. Bevor sie die Pawnee gesehen hatte, war sie davon überzeugt gewesen, es länger hier oben aushalten zu können. Nun war sie beunruhigt. Der kleinste Hinweis würde genügen, und die Pawnee würden hier heraufkommen. Weiße waren leicht in die Irre zu führen – da genügte eine einfache List. Diese Pawnee würden nicht so leicht zu täuschen sein. Und wenn es hell wurde, kam vielleicht einer von ihnen auf den Gedanken, hier hochzusteigen. Sie wandte sich um und bemerkte die Erschöpfung in Großmutters Gesicht. Die Frauen froren und es gab kein Wasser. Das letzte hatten sie Dream-In-The-Day gegeben. ‚Hier können wir nicht bleiben‘, dachte sie gerade, als das Baby geboren wurde. Deam-In-The-Day drückte es an ihre Brüste, damit seinen ersten Schrei unterdrückend. Obwohl die Geburt im Dunkeln stattgefunden hatte und das Umfeld nicht gerade geeignet für ein Willkommen war, kam es ihnen doch wie eine große Freude vor. Es war ein Mädchen. Großmutter hob das winzige Menschlein hoch und kurz in das spärliche Licht, das der Mond durch den Eingang warf. Dabei hielt sie dem Baby die Nase zu, damit es durch den Mund atmen musste und nicht schreien konnte. Das war das Erste, was Comanchenkinder lernten: nicht zu schreien.
Dann bat sie den Großen Geist, es zu beschützen. Es wurde nicht viel gesprochen. Leise murmelten sie Gebete, dann wickelten sie das Kind rasch in eine der Decken, die sie dafür mitgenommen hatten. Das Mädchen schien gesund zu sein – mehr war nicht wichtig. Schon nach kurzer Zeit nahm Summer-Rain wieder ihren Beobachtungsposten ein. Jetzt jedoch, da sie die Pawnee fürchten musste, mit noch mehr Aufmerksamkeit. Bei dem großen Zelt vor der Senke tat sich etwas. Großmutter hatte ihr gesagt, dass dort vor gar nicht langer Zeit Light-Cloud mit Icy-Wind gekämpft hatte.
Die vier Pawnee warteten anscheinend auf jemanden. Dann sah sie einen weißen Mann mit diesem Ding an der Seite, von dem John Black gesagt hatte, dass das ein Säbel sei. War das ihr Kriegshäuptling? Jemand brachte ihm ein Pferd, und er ritt mit den Pawnee unter dem Geröllfeld entlang. Gebannt beobachtete sie die Reitergruppe. Auf einmal hörte sie das Neugeborene hinter ihr. Nur ein kleiner, unterdrückter Schrei – mehr ein Luftschnappen. Sofort drückte Dream-In-The-Day ihrer Kleinen die Hand auf den Mund. Summer-Rain starrte erschrocken nach unten auf die Reitergruppe, denn der Wind wehte genau in ihre Richtung. Einer der Pawnee schaute hoch. Hatte er etwas gehört? Wie zur Bestätigung ihrer Befürchtung zeigte er mit ausgestrecktem Arm auf die Felsen.
Summer-Rains Herz schlug schneller. Drei der Pawnee ritten mit dem weißen Soldaten weiter. Schon wollte sie aufatmen, doch da fiel ihr ein, dass es zuvor vier gewesen waren. Wo aber war dieser Pawnee? Er musste direkt unterhalb von ihnen sein. Eine Warnung zu den Frauen hin flüsternd, zog sie sich etwas zurück. Sie war sich sicher, dass er immer noch unter ihnen war. Wenn sie sein Misstrauen erregt hatten, konnten sie nicht länger hierbleiben. „Wir müssen weg“, hauchte sie in die Dunkelheit. „Sofort“, flüsterte sie bestimmt. „Bei den weißen Kriegern sind Pawnee. Einer wartet direkt unter uns. Wenn die Sonne den neuen Tag begrüßt, ist es für eine Flucht zu spät. Dann werden sie heraufkommen.“
Sie hatte sich um einen sachlichen Ton bemüht, um die Frauen nicht unnötig zu ängstigen.
Großmutter warf einen besorgten Blick auf Dream-In-The-Day. Die lag – in eine der Decken gewickelt, ihr Baby an der Brust – gegen die Felswand gelehnt und bemühte sich, in eine bequemere Stellung zu kommen. Ihr Gesicht war entspannt; die roten Flecken, die noch vor kurzem dort zu sehen waren, hatten sich aufgelöst. Für diese Verhältnisse hier und angesichts der erst vor kurzem überstandenen Geburt sah sie sogar hübsch aus. Nach vorn gebeugt, mit dem Gesicht im Mondlicht, konnten alle sie sehen, als sie sich mit schwacher Stimme an Summer-Rain wandte. „Dann müssen wir gehen. Comes-Through-The-Summer-Rain, du warst schon immer die Mutigere von uns allen. Sag du uns, was wir tun sollen.“
In der Höhle konnte man nur das leise schmatzende Geräusch hören, das das Baby beim Trinken machte. Zärtlich strich Dream-In-The-Day ihm über das kleine, mit dunklem Flaum bedeckte Köpfchen. Summer-Rain dachte kurz nach. Konnte sie das, was ihr, seit sie die Pawnee entdeckt hatte, durch den Kopf ging, den Frauen zumuten? Ihrer Großmutter würde das überhaupt nicht gefallen. „Wir brauchen Pferde“, raunte sie. Dann, sich wieder auf ihren Beobachtungsposten begebend, doch nach hinten gewandt: „Ich werde sie für uns besorgen.“
Niemand sagte etwas, auch Großmutter nicht. Summer-Rain schaute wieder nach unten. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor. Jetzt war der Schatten des Pferdes mit dem Pawnee zu sehen. Jedes kleinste Steinchen, das den Abhang hinunterrollte, würde sie verraten. „Ich gehe runter“, flüsterte sie, ihren Zeigefinger hebend. Niemand sollte ihr widersprechen, nicht einmal Großmutter.
„Wenn ich unten bin, werde ich nach Sonnenaufgang gehen“, erklärte sie ihnen ihren Plan. „Ich habe gesehen, wie die Soldaten Pferde nach dort gebracht haben.“ Dieses Sommerlager hier war ihr nicht vertraut. Deshalb wandte sie sich jetzt an Dark-Night, die am nächsten von ihr hockte. „Sag mir, was dort unten ist; beschreib mir alles, und ich brauche außerdem einen sicheren Ort, wo ich drei Pferde verstecken kann.“
Dark-Night rückte noch näher an sie heran und begann, ihr die Gegebenheiten zuzuflüstern. „Hinter dem Wald, auf der anderen Seite, gibt es einen kleinen Birkenhain“, kam sie zum Schluss. „Dort kannst du die Pferde verstecken.“
Summer-Rain nickte. Niemand wagte einen Einwand, und doch wussten alle, welches Wagnis sie einzugehen bereit war. Es blieb ihnen nur diese eine Nacht zur Flucht. Wenn die Sonne aufging, wäre es längst zu spät. Summer-Rain machte es kurz. „Ich muss versuchen, die Soldaten und besonders diesen einen Pawnee, abzulenken, damit ihr hinten an den Felsen vorbei in den Wald und dann auf die andere Seite zu den Pferden gelangen könnt.“
Großmutters Gesicht fiel in sich zusammen. Ihre weit aufgerissenen Augen starrte Summer-Rain entsetzt an. Es war dunkel in der Höhle; trotzdem spürten die Frauen, dass sie damit ganz und gar nicht einverstanden war. Doch niemand fragte nach ihrer Meinung. Ihr Mund öffnete sich, dann schloss sie ihn wieder. Angesichts ihrer jetzigen Situation blieb ihnen keine Wahl.
„Der Pawnee“, fuhr Summer-Rain ungerührt fort, „wird sich nicht von der Stelle rühren. Niemand von euch wird von hier fortkönnen, solange er dort Wache hält.“ Fürsorglich griff sie nach Großmutters Hand und drückte sie fest. „Ich verspreche dir, so vorsichtig zu sein wie eine Wildkatze – wie mein Bruder mich manchmal nennt. Ich habe schon einmal die Pawnee überlistet. Mir, Comes-Through-The-Summer-Rain, wird das auch diesmal gelingen. Diese Pawnee sind nur Büffelscheiße – und vor Büffelscheiße habe ich keine Angst.“
Trotz ihrer Bedenken nickte die alte Frau. „Ich weiß, Kleines“, flüsterte sie in die Dunkelheit. „Dein großer Bruder Light-Cloud hat dir mehr beigebracht, als ich hätte zulassen dürfen. Nie hast du um Erlaubnis gefragt. Statt dich zu bestrafen, habe ich deine Wunden verbunden. Nun, das habe ich nun davon. Sei vorsichtig, mein Kleines – etwas anderes zu sagen bleibt mir nicht übrig. Zeig dieser Büffelscheiße dort unten, dass Summer-Rain eine Comanche ist.“ Zwar seufzte sie schwer und war doch ein bisschen stolz auf ihr Mädchen.
Summer-Rain wandte sich wieder den Anderen zu. „Wenn ihr dreimal den Ruf einer Eule hört, dann macht euch bereit. Wartet nicht auf mich – nehmt die Pferde und reitet so schnell ihr könnt; ich werde nachkommen.“ Nach dem Messer in ihrem Stiefel tastend, überzeugte sie sich, dass es noch dort steckte. Schnell zurrte sie ihre Haare mit einem der Bänder von Sally Kamp hinten im Nacken zusammen, damit sie sie nicht verraten konnten, wenn der Wind hineinfuhr. Ein letztes Mal blickte sie sich nach den anderen Frauen um – prägte sich ihre Gesichter ein, schloss die Augen, vertraute sie und sich selber dem Schutz ihres Tiergeistes an. Dann strich sie dem Baby, das warm und geborgen an der Brust seiner Mutter lag, zärtlich über die Wange. So nahm sie Abschied von ihnen allen. „Egal, was auch passiert, ihr schaut nicht zurück“, schärfte sie ihnen noch einmal ein. „Reitet so schnell ihr könnt – ich will, dass ihr mir das versprecht.“