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Moon-Night lachte darüber und befürchtete nur, sie würden ihm zu sehr schmeicheln. Manchmal jedoch erschrak sie über die Kaltblütigkeit, mit der er die Mädchen abfertigte, wenn er genug von einer hatte. Deswegen redete sie ihm manchmal ins Gewissen – mehr aber auch nicht. Die Wahrheit jedoch war, dass es ihm egal war, wie viele zerbrochene Herzen er hinter sich ließ. Unwichtig, nicht des Nachdenkens wert. Keine hatte ihn nachhaltig interessiert. Auch nicht Magic-Flower, diese umwerfende Schönheit, die von Anfang an ernste Absichten mit ihm hatte. Die falschen Spielchen, die sie mit ihm spielte, durschaute er, der bei seinen Liebschaften immer alles bestimmte, nicht sofort. Dann rüttelte ihn ein Vorkommnis im vergangenen Mond der fallenden Blätter wach – machte ihm deutlich, wie nah er daran gewesen war, ihr in die Falle zu gehen. Der Spielraum zwischen Vergnügen und Ernst war weniger breit als die Schneide seines Messers. Er hatte sich von ihr benutzen lassen, nicht die Fäden gesehen, die sie spann, nicht auf das Gerede geachtet, das sie damals in Umlauf brachte. Was sich Magic-Flower in den Kopf gesetzt hatte, das musste auch genau so eintreten. Sie prahlte mit ihrem Verhältnis, das nie ein Verhältnis gewesen war. Erst als ihn Moon-Night darauf ansprach – schließlich munkelten die Frauen hinter vorgehaltener Hand bereits von Hochzeit – schreckte er auf. Da war der Schaden bereits angerichtet und ihm wurde klar, was das für ihn bedeutete. Er konnte nur von Glück reden, dass ihr Vater nicht darauf beharrte, sie ihm zu verkaufen. Oh ja, er hatte Schweigegeld bezahlt. Ein Pferd, damit er Ruhe gab und es zu keiner peinlichen Situation kam.
Über all das dachte er jetzt wieder nach, während er auf dem Ehrenplatz in der Sommerlaube von Light-Cloud und Dark-Night saß. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich ernsthaft gefragt, ob das Bild, das er von sich selbst hatte, dem der anderen entsprach. Er war kein Mann, der nur auf sein Äußeres reduziert werden wollte. Seine Fähigkeiten bestanden darin, genau wie sein Vater andere Männer zu führen. Er musste endlich Prioritäten setzen, rauskommen aus der Ecke, in die er sich selbst durch seine Oberflächlichkeit hineinmanövriert hatte. Storm-Rider sah sich endlich als der, der er sein wollte – der begriff, worauf es ankam, was wirklich wichtig war und zählte. All das hatte er sich bereits vor einigen Monden in ihrem Winterlager an einem kleinen Seitenarm des North Canadian River vor Augen gehalten. Der Anlass dafür war etwas gewesen, was noch immer wie ein Dorn in seinem Fleisch schwärte, und er konnte diesen Blick aus ihren blauen Augen nicht vergessen.
Mädchen, die ihm schmachtende Blicke zuwarfen, wurden ihm plötzlich lästig. Dinge, die ihm vorher unwichtig erschienen, traten jetzt in den Vordergrund. Das, was er vor nicht allzu langer Zeit bei seinem Vater abgelehnt hätte, entdeckte er jetzt an sich. Wie selbstverständlich fand er plötzlich seinen Platz in der Hierarchie der Männer und ihre Anerkennung für wirklich Wichtiges. Icy-Winds hochfahrendes, arrogantes Wesen, seine Selbstüberschätzung und diese Art, mit anderen umzugehen, legte er als Schwäche aus. So wollte er nicht sein. Die Überheblichkeit und Uneinsichtigkeit dieses Mannes, der ganz und gar von sich selbst überzeugt war, hatte sich in seinen Augen als Dummheit erwiesen. Wenn man davon wichtige Entscheidungen abhängig machte, setzte man sich leicht ins Unrecht, und das musste sich zwangsläufig irgendwann rächen. Auch verspätet einen Fehler nicht einzusehen, konnte einen Mann weit mehr kosten, als ihn zuzugeben. Icy-Wind hatte das nicht begriffen. Light-Cloud und Dark-Night hätte das beinahe das Leben gekostet und ihre kleine Gemeinschaft einen wertvollen Mann. Er jedenfalls sah das so – und viele andere auch, musste die Antilopenbande doch mit jedem Mann und jeder Frau rechnen. Der Verlust von gleich zwei Menschen wäre kaum zu verschmerzen gewesen. Nun, es war ja noch einmal gut ausgegangen.
Von seinem Platz aus konnte Storm-Rider die kleine Mexikanerin sehen. Sie lag, noch immer geschwächt, auf einer weichen Büffelhautdecke gegen ein mit Moos gefülltes Lederkissen gelehnt. In ihrem schmalen, blassen Gesicht wurde ihre entstellte Nase von der für sie unentbehrlich gewordenen (trotz des Protestes von Light-Cloud beharrte sie darauf) breiten grünen Stoffbinde verhüllt. Ihre schmächtige Figur hatte so gar nichts mehr von der elastischen, biegsamen Schönheit von einst. Trotzdem schien das für Light-Cloud keine Rolle zu spielen.
Über einer flachen, von Steinen eingefassten Feuerstelle hing ein Kessel. Dark-Night wollte gerade aufstehen, um dem Gast eine Schale mit heißem Kräutersud daraus zu bringen, da bezeugte er ihr mit einer Handbewegung, dass sie liegen bleiben sollte. Stattdessen bediente er sich selbst. Light-Cloud blickte erstaunt zuerst auf ihn und dann mit einem Lächeln auf seine Frau. Storm-Rider und Frauenarbeit? Die Augen des frisch ernannten Ehemannes bekamen noch immer diesen seltsam verklären Schimmer, wenn er seine Dark-Night anschaute. Storm-Rider wurde in diesem Moment klar, was er selbst schmerzlich vermisste.
Die Unterhaltung der Männer ging weiter. Hauptsächlich drehte es sich dabei um wichtige Dinge – Pferde eben, immer nur um Pferde, ein unerschöpfliches Thema. Plötzlich horchte Storm-Rider auf. Er hob die Hand, um Light-Clouds Worten Einhalt zu gebieten. Beide lauschten. Doch da war nichts – nur die üblichen Geräusche, die das Leben im Lager beherrschten, wenn es auf den Abend zuging.
Nach einer Seite hin war die Laube offen. Ein leichtes Geflecht, womit man sie schließen konnte, lehnte gegen einen Pekannussbaum. Storm-Rider konnte die mit langen hellen Haaren besetzten Beine von Light-Clouds rotbraunem Hengst dort draußen erkennen. Noch immer lauschend, schüttelte er seine Haare zurück in den Nacken. Irgendetwas beunruhigte ihn weiter. Er wechselte einen Blick mit Light-Cloud, erhob sich und nickte zu Dark-Night hinüber; dann zögerte er kurz. Der immer noch geschwächte Light-Cloud hatte ihn vorhin zu einem längeren Jagdausflug überreden wollen, doch er hatte abgelehnt. „Also gut“, meinte er jetzt, seine Entscheidung überdenkend. „Dann lass uns also bei Sonnenaufgang gemeinsam auf die Jagd gehen, wenn du unbedingt darauf bestehst.“
Ein breites Grinsen zeigte sich auf dem schmal gewordenen Gesicht des Freundes ab. „So ist es, Storm-Rider. Deine Befürchtungen, ich würde es nicht lange durchhalten, mit dir auf die Jagd zu gehen, sind wie die Scheu eines Mädchens vor dem ersten Liebhaber. Beide verflüchtigen sich. Ich war schon einige Male allein auf der Jagd, habe zwar nur Kleingetier erlegt, doch mit deiner Hilfe geht es jetzt auf größere Beute.“
Sie hatten vor, Antilopen zu jagen. Das würde mindesten einen Tag lang dauern. Light-Cloud wollte sich endlich wieder als vollwertiger Krieger fühlen, was Storm-Rider durchaus nachvollziehen konnte. Jetzt erhob er sich, kaum auf die Worte des Freundes hörend, der schon bei der morgigen Jagd war; so sehr beschäftigte ihn das ungute Gefühl, das ihn wie eine Ahnung von etwas Gefahrvollem beschlich.
Die Abendsonne warf lange Schatten, während er dem Flusslauf auf einem kleinen Wall entlang folgte. Das nächste Tipi stand mehr als dreißig Pferdelängen entfernt hinter einer Biegung. Etwas zwang ihn, seinen Blick hinüber auf die andere Seite zu richten. Er musste nur die vor ihm liegend Böschung hinunterreiten, um an das Ufer zu kommen. Das Gefühl der Alarmbereitschaft ließ ihn nicht los, und er sprang ab. Baumgruppen, Weiden und Erlen, eine trockene, hoch aufgeschüttete Flussterrasse, durch die im Frühling noch der Colorado geflossen war, betrachtend, stand er aufmerksam neben seinem Lieblingspferd. Den Canyon dort drüben im Südwesten, mit der Pferdeherde, konnte man von hier aus nur erahnen. Bis zum westlichen Horizont breitete sich weites Grasland aus. Grelle letzte Sonnenstrahlen malten die Umrisse niedrig stehender weißgrauer Wolken nach. Unter ihnen entstand ein rotgoldener Streifen, vermischte sich mit zarten zinnoberroten Farben und zog sich bis zum Horizont hin. Gleißendes Licht blendete seine Augen. Er kniff die ledrigen Lider zusammen, um besser sehen zu können. Sein Schimmelhengst lauschte, die Ohren aufstellend, in den Wind.
Doch da war nichts. Mit seinen Gedanken wieder ganz woanders, fasste er nach dem Kopf des Tiers, spürte die feuchten Nüstern; dann blickte er hoch. Unwillig schnaubend schüttelte der Hengst seine prächtige weiße Mähne. Irgendetwas beschäftigte auch ihn, machte ihn wachsam. Seine Nervosität ging sofort auf Storm-Rider über – beide erstarrten, jetzt völlig regungslos, als wären sie eins.
Auf einmal witterte Summer-Wind und bleckte die Zähne. Storm-Rider blickte wie er in die Richtung über den vor ihnen liegenden Fluss. Dann hörten sie heranpreschende Pferde.
Etwa 200 Pferdelängen den Fluss hinab, durch eine seichte Furt des Colorado hindurch, sprengte eines mit einem Reiter. Millionen aufsprühende Wassertropfen hüllten es ein, während es das Wasser durchpflügte. Hinter ihm folgten zwei weitere, verschwanden an einer tiefen Stelle, tauchten prustend wieder auf und folgten dem ersten Pferd diesseits ans Ufer. Die niedrig stehende Sonne umspielte die Gestalt auf dem Pferderücken, seine Silhouette zeichnete sich scharf gegen das Licht ab. Storm-Rider glaubte zu träumen. Soeben drehte der Reiter zum Ufer hin ab, kam die niedrige Böschung herauf und blieb dort oben stehen, wartete auf die beiden Pferde, den Kopf ihnen zugewandt. Summer-Rain!
Storm-Rider flüsterte unwillkürlich ihren Namen, hauchte ihn in den Wind – erstaunt und freudig überrascht zugleich, ein Kribbeln im Nacken. Summer-Rain war endlich wieder zurück.
Müde beugte sie sich hinunter auf ihren Mustang, tätschelte die Flanke des erschöpften Pferdes; dann blickte sie hoch. Unter ihrem bis zu den Oberschenkeln geschlitztem, erdfarbenen Hirschlederkleid leuchteten dunkle Leggins hervor. Ihre Füße steckten in hohen Lederstiefeln. In den dunklen Haaren flatterten zwei rote Bänder. Über dem Sattel lag ein staubfarbenes Fell. Neben ihrem rechten Knie ragte ein Gewehrfutteral hervor. Auf dieser Seite des Pferdes befand sich auch ihr Köcher mit dem ausgehakten Bogen und den Pfeilen. Über der Kruppe des einen Pferdes hingen zwei prall gefüllte Satteltaschen, das andere hatte Decken übergeschnallt. Soeben kamen sie aus dem Wasser. Die rotbraune Stute, die sie ritt, schnaubte unwillig, senkte den Kopf, knabberte an einigen gelblich verfärbten Halmen, dann hob sie sichernd den Kopf.
Summer-Rain musste ihn jetzt bemerkt haben. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich jäh. Aus dieser Entfernung sah er nicht, wie sie errötete und sich ihre Finger nervös um den Zügel krampften. Sie bemerkte nicht einmal, dass ihre Stute unruhig wurde.
Storm-Rider konnte nicht mehr denken, schwang sich einfach nur auf sein liebstes Kriegspony Summer-Wind und ritt ihr entgegen. Sie rührte sich nicht, sondern verharrte auf ihrem Pferd. Dann, als erwachte sie aus einem Traum, blickte sie zurück ans andere Ufer – dorthin, woher sie eben gekommen war. Und sie bemerkte die Unruhe ihrer Stute. Jetzt wirkte auch sie beunruhigt – sehr beunruhigt. Der junge Krieger glitt vom Rücken seines Schimmelhengstes und kam ihr in dem für ihn typischen O-beinigen Gang die wenigen Schritte, die ihn noch von ihr trennten, entgegen.
Summer-Rain saß auf ihrem Pferd, nervös und ratlos. Sie wollte sich abwenden, ihn ignorieren, aber sie konnte es nicht. Das Herz tat ihr weh, schlug ihr bis zum Hals; sie zwang sich, tief durchzuatmen. Ihm musste es ähnlich ergehen. Sein Auftreten war unsicher – er blinzelte, hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Da war er auch schon neben ihr. Im nächsten Moment wollte er sie berühren, sie von ihrem Pferd zu sich herunterziehen – alles auf einmal. Dann geschah etwas Unglaubliches.
Noch bevor er tun konnte, wozu es ihn drängte, zerriss ein ohrenbetäubendes Geräusch die Stille.
Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, den sie gerade überquert hatte, flog zischend etwas durch die Bäume, zersplitterte Äste und riss sie mit sich, als dieses Etwas in den Boden krachte.
Im nächsten Moment schlug er mit der Hand leicht auf die Flanke ihrer Stute. „Fort, wir müssen von hier fort“, schrie er in das Geräusch hinein.
Summer-Rain preschte den Abhang hinunter, er, bereits wieder auf Summer-Wind, holte sie ein. Die beiden anderen Pferde liefen hinter ihnen her. Da zerriss ein Trompetensignal die Luft, die Tonleiter hoch und runter. Wieder ertönte zuerst dieses zischende Geräusch, dann explodierte der Boden drüben erneut, näher als der erste Einschlag. Eine Fontäne aus Gras und Erde flog klatschend ins Wasser. Vögel stoben davon, kreischten ihre Angst hinauf in den Äther. Die Rotbraune mit Summer-Rain drängte sich nahe an Summer-Wind, während Storm-Rider die Mustangs stoppte. Sein Knie berührte das ihre, so nahe beieinander hielten sie an.
„Reite zu den Tipis“, rief und deutete er. „Das Lager muss abgebrochen werden – sofort. Sag allen, die dir begegnen, sie sollen durch den Bogen neben dem Canyon in den Sonnenuntergang flüchten. Ich kümmere mich um die Krieger. Reite, Summer-Rain, reite!“
Sie starrte ihn einen Herzschlag lang wie versteinert an, als redete er eine fremde Sprache. Der nächste ließ sie nach der Lederhülle neben ihrem Steigbügel greifen, in dem das Geschenk von John Black steckte. Ohne zu zögern zog sie die Winchester heraus und drückte sie ihm wortlos zusammen mit der Munitionstasche gegen die nackte Brust. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere. Ihr Herz pochte wie wild. Seine Augen bohrten sich in die ihren – zuerst ungläubig, dann mit einem wissenden Erkennen. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht, brauchte es nicht. Ihre Finger krallten sich in die leere Hülle mit den Zeichen der Cheyenne, als suchten sie dort nach einem Halt. Er legte seine freie Hand darauf. Der Blick von ihr aus dunklen, blauen Augen zu ihm hoch hätte ihn beinahe aufschreien lassen. Mit ihrem nächsten Atemzug lösten sie sich voneinander.
Wummm! Noch ein Einschlag, diesmal auf ihrer Seite – der Zauber war vorüber.
„Reite, Summer-Rain, reite!“ Er warf ihr einen letzten Blick zu.
Die Trompete schmetterte erneut. Unwirklich – alles war so unwirklich; hier passierte etwas, das gar nicht hierher passte. In dieses Bild des Friedens, diese Idylle, diese Heimstätte von Menschen. Doch es passierte. Die Luft vibrierte, der Schall pflanzte sich fort – seine Töne in dieser Umgebung unheimlich und schrill.
Storm-Rider betrachtete flüchtig das Gewehr. Sein Blick ging zurück zu ihr, die bereits bei ihren beiden Pferden war. Schon verschwand sie mit ihnen zwischen den Bäumen flussaufwärts. Im nächsten Augenblick machte sich Storm-Rider, seinen Schimmel anfeuernd, auf den Weg zur Pferdeherde, denn um diese Zeit befanden sich fast alle Männer dort. Da war das Lager bereits alarmiert. Männer griffen sich Pferde – irgendwelche, es kam nicht darauf an, wem sie gehörten. Diejenigen, die ihre besten Kriegsponys in der Nähe wussten, nahmen diese.
Alles ging rasend schnell – keiner verlor ein unnützes Wort. Storm-Riders Stimme hallte laut bis über den Fluss, seine Anweisungen kamen so klar und überlegt, als wäre das schon immer so gewesen. Plötzlich hörten sie alle auf ihn. Unbewusst hatte er das Kommando übernommen. Wenig später tauchte sein Vater neben ihm auf seinem Kriegspony auf. Auch Icy-Wind kam von irgendwoher. Aus sämtlichen Himmelsrichtungen strömten sie herbei, formierten sich auf ihren Pferden, bereits bewaffnet, während die Frauen die Tipis abzureißen und ihren Hausrat zusammenzupacken begannen.
Nachzügler, die auf der Jagd gewesen waren, stießen zu ihnen – noch, als Storm-Rider Späher ausschickte, um sich ein genaueres Bild von dem anrückenden Feind zu verschaffen. Er wies die Pferdejungen an, die Herde in Bewegung zu setzen und in eine bestimmte Gegend zu bringen. Wie eine einzige Welle rannten die Mustangs los – eine riesige lebende Masse davonstürmender Leiber, Hufe und Mähnen. Fast 700 Pferde donnerten den Canyon entlang, begleitet von erfahrenen, aber noch halbwüchsigen Jungen und zwei älteren Männern. Sie tauchten hinter den terrassenförmig ansteigenden Felsenklippen unter und verschwanden dort. Einen Teil der Pferde benötigte die Antilopenbande für sich selbst. Sie blieben zurück, wurden durch die flache Furt getrieben, von den Frauen und halbwüchsigen Jungen in Empfang genommen und verteilt.
Die Krieger machten sich bereit. Sie saßen auf ihren bestens ausgebildeten Kriegsponys, manch einer hatte sogar noch die Zeit gefunden, seine Lanze aus einem nahen Versteck zu holen, denn ihre Kriegslanzen bewahrte niemand im Tipi auf. Nach den ersten Einschüssen war nur so viel Zeit vergangen, wie ein Falke brauchen würde, um hoch in den Wolken ihr Lager zu umsegeln. Storm-Rider setzte sich ohne zu zögern an die Spitze der Krieger. Die Frauen hatten bereits die meisten Tipis abgerissen; nun beluden sie die Pferde und die Travois mit den zusammengerollten Büffelplanen und ihrem Hausrat. Von überall den Flusslauf entlang kamen sie auf den Hauptweg. Es war der kürzeste Weg, der durch den Felsendurchgang hinaus in die Weite führte.
Dort, wo Summer-Rain vorbeigekommen war, war man schon mit dem Zusammenpacken fertig. Die ersten Travois zogen bereits durch den breiten Bogen aus Felsen nach Südwesten, fort von dem Beschuss, denn ein weiterer Kanonendonner trieb sie zur Eile. Inzwischen wusste Storm-Rider auch mehr über den plötzlich erfolgten Angriff. Er hatte zwei Männer ausgeschickt, um den Flussabschnitt weiter unten im Auge zu behalten. Die Späher ritten in aller Eile auf die andere Seite des Flusses hinüber. Von dort signalisierten sie Storm-Rider, dass von da keine Gefahr drohte. Diesseits des Flusses hatten sie Soldaten gesichtet – Soldaten mit zwei Kanonen – und noch eine abgedeckte Waffe, die sie nicht erkennen konnten. Die beiden Späher waren bis auf etwa 20 Schritte an die aufgeprotzten Haubitzen herangekommen, ohne dass sie jemand entdeckt hatte. Wenig später stießen sie auf weitere Spuren und hatten mit Vogelstimmen Meldung gemacht.
Kavallerie – das war nicht mehr zu übersehen. Storm-Rider wusste also bereits, mit welchem Feind er rechnen musste. Er rief sich die ersten Einschläge noch einmal ins Gedächtnis und musste sich trotz der Gefahr ein Grinsen verkneifen. Diese Männer mussten verwirrt sein, sagte er sich. Hatten sie doch über den Fluss hinweg geschossen. Dachten sie etwa, ihre Tipis ständen dort drüben? Egal, er hatte sich jetzt um ganz andere Sachen Gedanken zu machen. In fliegender Eile packten die Frauen weiter all ihren Hausstand zusammen. Die ihnen zugetriebenen Pferde wurden eingefangen und beladen. Menschen rannten durcheinander, Kinder weinten und suchten nach ihren Müttern. Aber schon ging das anfängliche Durcheinander in ein geordnetes Chaos über.
Summer-Rain suchte fieberhaft nach ihrer Familie. Da sie nicht wusste, wo sich ihr Tipi befand, ritt sie noch einmal zurück. Endlich tauchte Großmutter aus einer Baumgruppe neben dem Hauptweg auf, vor sich ein beladenes Pony. Eine andere Frau griff danach, befestigte ein Travois und setzte ein kleines Mädchen hinein. Weitere Einschläge erfolgten, fetzten Äste von den Bäumen und schlugen eine Schneise neben dem Hauptweg. Und immer wieder dieses Geräusch. Das war fast schlimmer zu ertragen als die Einschläge danach. Eine Qualmwolke breitete sich von dort, wo die ersten Tipis unten am Fluss gestanden hatten, aus. Durch die Schneise, die die Kanonenkugeln gerissen hatten, konnte man sogar schon blaue Uniformen zwischen den Baumlücken erkennen. Sie kamen jedoch nur langsam voran. Von flussabwärts zogen schwere Pferde zwei Geschütze mühsam weiter.
Die Strahlen der abendlichen Sonne lagen auf den langen Rohren und ließen das Metall glitzern. Eben verhallte das Donnern der Pferdeherde in der Ferne; sie mussten den Canyon bereits weit hinter sich gelassen haben. Die Krieger hoben kurz die Köpfe – ein erstes Aufatmen. Schon preschten sie an den flüchtenden Menschen vorbei, ließen sie hinter sich, stoppten und warteten auf Storm-Rider, der für sie alle die nächsten Entscheidungen traf. Niemand stellte seine Führungsrolle in Frage. Niemand hatte ihn dazu aufgefordert; es war einfach so gekommen. In ihrer aller Gesichter stand eine Entschlossenheit, die Furchtlosigkeit signalisierte. Niemand nahm sich Zeit, Kriegsfarben anzulegen; auch so sahen sie schon furchterregend genug aus. Sie würden ihre Familien – das Liebste, was sie besaßen – verteidigen und, wenn es sein musste, bis zum Tod kämpfen. Als die letzten Krieger das Geröllfeld erreichten, um sich den anderen anzuschließen, kamen die von Storm-Rider ausgesandten Späher zurück. Nach ihrem ausführlichen Bericht wechselte er einen Blick mit seinem Vater Red-Eagle. Es brauchte keine Worte, um sich miteinander zu verständigen. Sechzehn junge, achtzehn ältere und vier bereits sehr betagte Krieger warteten auf seinen Befehl. Achtunddreißig Comanchen, die bereit waren, ihr kleines Volk – wenn es sein musste, bis zum bitteren Ende – gemeinsam zu verteidigen.
4. Kapitel
In Fort Concho war vor einigen Tagen ein neuer Mann zusammen mit sechs Pawnee-Spähern und einer berittenen Abteilung Artillerie von 80 Mann eingetroffen. Statt der üblichen vier Geschütze führten sie nur zwei dabei – plus eine Gatling-Kanone. Bei dem Mann handelte sich um Oberstleutnant William Smith. Er hatte im Sezessionskrieg den Rang eines Generalmajors bekleidet und war nach seinem Übertritt zur siegreichen Armee des Nordens als Oberstleutnant übernommen worden. Sowohl der Quartiermeister als auch einige der Offiziere blickten den Ankömmlingen mit Argwohn entgegen. Oberst Ronald S. Mackenzie, Kommandeur von Fort Concho und Fort Richardson, von den Comanchen als Eagle Chief Bad Hand Mangoheute genannt, 32 Jahre alt und damals der beste Indianerkenner, den der Westen vorzuweisen hatte, lag mit einer schweren Erkältung im Lazarett. Die vierzig Gebäude des Forts beherbergten zur Zeit etwas mehr als 500 Infanteristen und Kavalleriesoldaten.
General Mackenzie hatte im Februar 1871 das Kommando des 4. US-Kavallerieregiments in diesem Fort übernommen. Im März desselben Jahres beorderte man ihn nach Fort Richardson. Nun, ein Jahr später, war er für eine Inspektion mit einer Kompanie und einer Handvoll seiner ihm treu ergebenen Tonkawa-Spähern zurückgekommen. Oberstleutnant William Smith hatte man telegrafisch als Unterstützung im Kampf gegen marodierende Comanchen herbefohlen. Eine dementsprechende Depesche mussten Mackenzie und der jetzige Befehlshaber des Forts leider akzeptieren – ob sie nun wollten oder nicht. Mackenzie wollte durchaus nicht. Was, um Himmels willen, fragte er sich, hatte sich General Sherman, der derzeitige Oberbefehlshaber der US-Armee, nur dabei gedacht? Dieser neue Mann, der sich einbildete, etwas von Kriegsführung gegen die Indianer zu verstehen, war in seinen Augen eine völlige Niete. Noch dazu hatte er sich angemaßt, 80 Mann berittene Artillerie inkl. Captain mitzubringen – dazu noch sechs Pawnee-Späher, die er ohne vorherige Absprache einfach dem Kavallerieregiment, das hier zur Zeit stationiert war, einverleibte – sehr zum Verdruss von Mackenzies bewährten Tonkawa-Spähern. Das würde unweigerlich Ärger mit sich bringen. Laut Shermans Befehl sollte er 180 Soldaten der Kavallerie hier aus dem Fort übernehmen, um mit ihnen und seiner Artillerie nach Westen aufzubrechen. Comanchen aufbringen, so hieß es – ohne auf Näheres einzugehen.
Vor dem Bürgerkrieg hatte Smith seinen Abschluss in West Point gemacht und danach auf der Seite der Rebellen gekämpft. Seinen Dienstgrad war er mit der Generalamnestie losgeworden. Nach seinem Eintritt in die US-Armee hatte man ihn zu einem Lieutenant Colonel – Oberstleutnant – heruntergesetzt und damit auch seinen Sold. Wenn es ihm nicht gelang, große Taten zu vollbringen, würde das auch noch jahrelang so bleiben. Von dem Sold, der nicht gerade üppig ausfiel, konnte er keine großen Sprünge machen. Zwar stammte er aus einer wohlhabenden Südstaatenfamilie, doch als jüngster von drei Brüdern und nach dem verlorenen Krieg war da nicht mehr viel für ihn übrig geblieben. Statt jedoch in der kämpfenden Truppe zu bleiben, hatte er sich für den Stabsdienst entschieden und es bald schon bereut. Er war von einem langweiligen Posten zum nächsten geschoben worden. Nun wollte er sich hier bewähren oder zumindest so tun. Das konnte doch nicht schwer sein, glaubte er.
„Ein gestärkter Kragen und ein Auftreten wie ein Feldherr machten noch keinen Kämpfer“, knurrte Mackenzie, als man ihm mitteilte, dass Smith für einen Einsatz in Richtung Westen vorgesehen war.