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Für Kurz und Strache war die Parole vom „schützenden Europa“ ein deutlicher Hinweis auf ihre Politik der geschlossenen Grenzen der Europäischen Union nach außen und, wenn aus ihrer Sicht notwendig, auch innerhalb der EU. Vor allem sollte signalisiert werden: Wir schützen euch vor Flüchtlingen und überhaupt Zuwanderern aller Art. In den offiziellen Verlautbarungen wurde das noch mit anderen Themen verbunden. So hieß die Zusammenfassung des Programms „Ein Europa, das schützt“ auf der Website www.eu2018.at:
„Der Zugang, den Österreich wählen wird, um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips. Die Europäische Union soll auf die großen Fragen fokussieren, die einer gemeinsamen Lösung bedürfen, und sich in kleinen Fragen zurücknehmen, in denen die Mitgliedstaaten oder Regionen selbst besser entscheiden können. Dadurch soll dem Motto der EU 'In Vielfalt geeint' Rechnung getragen werden. In diesem Sinne wird der österreichische Ratsvorsitz die effektive Schutzfunktion der EU insbesondere in drei Schwerpunktbereichen in den Vordergrund stellen:
•Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration,
•Sicherung des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit durch Digitalisierung,
•Stabilität in der Nachbarschaft – Heranführung des Westbalkan/Südosteuropas an die EU.“
Das klang damals alles recht gut, aber zwei Jahre später, in der Corona-Krise, wurde klar, wie sehr die EU auf große Herausforderungen eben nicht vorbereitet war. Zum Teil, weil die Nationalstaaten etwa im Bereich der Gesundheit über die wesentlichen Kompetenzen verfügen, weiters weil die EU und die einzelnen Staaten viel zu wenig dafür taten, dass die im Programm angesprochenen Regionen über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg kooperieren, etwa durch gemeinsame Vorsorge für den Fall einer Pandemie. Auch im Bereich der Digitalisierung gab es keine wirklichen Anstrengungen, wodurch ein Informationssystem hätte aufgezogen werden können, und schließlich wurden in der Corona-Krise zunächst die künftigen Beitrittsländer am Balkan vergessen, was sich längerfristig rächen wird, etwa durch einen noch stärkeren Einfluss Chinas. Die Regierung in Peking bemühte sich etwa ganz ostentativ um Serbien und andere Balkanstaaten.
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić rief Mitte März 2020 bei einer Pressekonferenz: „Es gibt keine Solidarität Europas. Nur China kann uns helfen.“ Vučić erklärte, er habe keine medizinische Ausrüstung von EU-Ländern bekommen, deshalb habe er einen Brief an den chinesischen Staatschef Xi Jinping geschrieben, den er als „Freund und Bruder“ ansprach. Die Lieferung chinesischer Hilfsgüter wurde in Belgrad als großes Fest der Völkerverbindung inszeniert. Kurz darauf schickte die EU-Kommission Ende März 38 Millionen Euro zur Unterstützung an die sechs Balkanstaaten. Die Bevölkerung erfuhr leider nur wenig von dieser Hilfe, da diese nicht in das Konzept der Regierungen passte und die EU-Kommission in ihrer Kommunikation viel zu zurückhaltend auftritt.
Aber zurück zum Programm der österreichischen Präsidentschaft von 2018. Es bestand also aus großen Worten und wenig Umsetzung – das war nicht unbedingt nur die Schuld der Wiener Regierung, sondern ein grundsätzliches Problem der komplizierten Organisation der EU, wo jeder Mitgliedstaat den Vorsitz ein halbes Jahr lang innehat und während dieser Zeitspanne wenig bewegen, aber für Propaganda verwenden kann. Und zwar für nationale Propaganda, versteht sich, nicht für ein geeintes Europa.
Die abgelehnte Hilfe der EU
Die EU-Kommission wirkt in Sachen Public Relations im Vergleich zu den nationalen Herolden wie eine blutige Amateurin. Oft versucht sie, den nationalen Emotionen mit rationaler Information zu begegnen, was nicht funktionieren kann. Die emotionale Erzählung über Europa hören wir nur selten. Die Regierungen der Nationalstaaten hingegen brüsteten sich mit ihren Aktionen, zunächst mit Gesundheitsmaßnahmen, dann mit den großen Geldspenden, die bei den Betroffenen mehr oder weniger gut ankamen. Die EU-Kommission zögerte zunächst, man sah die Präsidentin Ursula von der Leyen in einem Video, wie man sich richtig die Hände wäscht. Das war’s vorerst. Dabei hatten sich die oft geschmähten Beamten in Brüssel schon zu Beginn der Corona-Krise redlich bemüht, für alle Staaten gegen das Virus vorzusorgen. Aber sie taten das so zurückhaltend, dass dies erst viel später durch einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuters publik wurde. Ende März enthüllten deren Korrespondenten, dass die EU-Kommission bereits Ende Jänner vorgeschlagen hatte, gemeinsam Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräte zu beschaffen. Ende Jänner – das war einige Wochen vor Ausbruch der Krankheit in Europa. Über diese Maßnahmen wurde zunächst auf Beamtenebene gesprochen, wobei auch Österreich die Unterstützung der EU ablehnte. Anschließend fanden Sitzungen der Gesundheitsminister statt, auch da zeigte niemand Interesse. Laut Reuters notierte ein Beamter am 5. Februar 2020 in sein Protokoll: „Alles unter Kontrolle. Die Mitgliedstaaten sind auf hohem Niveau vorbereitet, die meisten haben Maßnahmen gesetzt.“ Reuters hat diese Protokolle genau gelesen. Zu dieser Zeit waren in der chinesischen Provinz Hubei bereits 60 Millionen Menschen isoliert, zwei Wochen später meldete Italien die ersten Krankheitsfälle. Die Protokolle zeigen, dass die Regierungen bei ihren Gesprächen erst ab März begriffen, welch dringender Handlungsbedarf bestand. Auf einmal versuchte jede nationale Führung für sich, auf dem Weltmarkt Schutzmasken und Beatmungsgeräte zu organisieren, obwohl die EU-Kommission in Brüssel laut Protokollen weiter bemüht gewesen war und am 28. Februar 2020 angeboten hatte, gemeinsam Material zu kaufen. „Kein Land hat um Unterstützung bei zusätzlichen Gegenmaßnahmen gebeten“, wurde in der Kommission notiert. Das Buch Corona – Chronologie einer Entgleisung analysiert auch die Rolle der EU und weist nach, dass Brüssel ab dem 29. Jänner 2020 auf die Pandemie hingewiesen hat.
Da ist es schon erstaunlich, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz am 29. März 2020 in der Kronen-Zeitung meinte, die EU müsse sich eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung gefallen lassen: „Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns alleine gestellt darum kämpfen müssen, dass ein LKW mit bereits von uns bezahlten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden.“ Eine Union agiert anders, und verantwortungsvolle Politiker handeln früher und suchen nicht nachher nach solchen Ausreden. Freilich funktionierte während der Krise in vielen Fällen die europäische Solidarität, aber sämtliche guten Beispiele wurden sofort von nationalen Akteuren für sich in Anspruch genommen, doch dazu später noch mehr, auch zur Rolle der Medien in diesen Monaten.
Der Warner Bill Gates
Deutliche Warnungen vor einer Pandemie kamen schon viel früher, lange bevor sich das Corona-Virus um den ganzen Erdball verbreitete, aber die Politik in Europa und auf anderen Kontinenten wollte nichts von dem hören, womit sich Experten seit Jahren beschäftigen. Bill Gates, der schon länger Geld zur Erforschung von Infektionskrankheiten spendet, hat bereits bei der auf neue Technologien spezialisierten TED-Konferenz in Vancouver im März 2015 sehr klar und für jedermann verständlich vor weltweiten Seuchen gewarnt. Niemand war auf die Bedrohung durch eine Pandemie vorbereitet, das kann und muss man den Nationalstaaten ebenso vorwerfen wie der EU, die „uns schützen“ will.
Bill Gates wusste es schon damals, als er mit einem grünen Fass auf die Bühne kam: „Das war die Notfallausrüstung, die wir im Keller hatten, als ich ein Kind war. Mit Wasserflaschen und Konservendosen in diesem Fass haben wir uns auf einen Atomkrieg vorbereitet.“ Die atomare Gefahr sehe er nicht mehr, sagte Gates, dann kam der Gründer von Microsoft schnell darauf zu sprechen, was uns nun bedroht: „Wenn in den nächsten Jahrzehnten irgendetwas über 10 Millionen Menschen töten wird, dann wird das eher ein hochinfektiöses Virus als ein Krieg sein. Wir haben weltweit sehr viel Geld in die Abwehr von Raketen investiert, aber nur sehr wenig, um eine Epidemie zu stoppen.“ Gates führt als Beispiel den Ebola-Ausbruch im Jahr 2014 in Westafrika an, wo es trotz des Mangels an Daten und Ärzten gelungen war, die Seuche einzugrenzen. Ein wichtiger Grund dafür war, dass das Ebola-Virus nicht durch Luftpartikel übertragen wird. Aber, so meinte er, es werde ein Virus kommen, bei dem das wieder der Fall sein werde, wie bei der Spanischen Grippe, die im Jahr 1918 weltweit 33,3 Millionen Todesopfer gefordert hat. Auf eine ähnliche Herausforderung müssten wir uns jetzt wie auf einen Krieg vorbereiten, so Gates. Dann forderte der drittreichste Mensch der Welt folgende Maßnahmen: Verbesserung der Gesundheitssysteme in armen Ländern sowie medizinische Einsatztruppen, die mit dem Militär und dessen Logistik zusammenarbeiten würden. Außerdem müssten die Wissenschaftler „Germ Games“, also Simulationen der Ausbreitung durchführen, um sie besser verstehen zu können. Die Forschung würde viel Geld kosten, aber das sei bescheiden verglichen mit den 3 Billionen Dollar, die eine Pandemie kosten werde, abgesehen von den vielen Toten, die zu erwarten seien. Schließlich würde die gemeinsame Verbesserung des Gesundheitssystems mehr Gerechtigkeit auf der Welt schaffen. Er wolle seinen Talk als einen Weckruf verstanden wissen, so Gates. Doch dieser wurde nirgendwo gehört, auch in Europa nicht. Dafür wurde Bill Gates später von Verschwörern beschuldigt, er wolle mit Impfungen viel Geld verdienen. Als ob das die Sorgen des reichsten Mannes der Welt wären.
Anfang August 2020 wurde geschätzt, dass das Virus in Europa rund 200.000 Menschen getötet hat, wobei Großbritannien mit rund 46.000 die meisten Toten zu beklagen hatte, gefolgt von Italien (35.000), Frankreich (30.000) und Spanien (29.500). Die USA hatten zu diesem Zeitpunkt über 153.000 Corona-Tote zu verzeichnen, weltweit waren es 670.000, über 17 Millionen waren infiziert (Quelle: jhu.edu, Johns Hopkins University, auf deren Website die Zahlen täglich erneuert werden). Die Europäische Zentralbank (EZB) rechnete Ende April mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in der Eurozone um geschätzte zwölf Prozent. Die Corona-Pandemie war ein „symmetrischer Schock“, wie Angela Merkel öfter betonte. Sie hat alle Länder gleichermaßen bedroht. Aber dass sich die Wirtschaftskrise in den verschiedenen Teilen der EU unterschiedlich, also asymmetrisch auswirken würde, war auch bald klar.
Das Bild der EU
Wer oder was ist denn diese Europäische Union eigentlich? Oft einfach nur ein bewusst gesteuertes Missverständnis der nationalen Regierungen. Denn in vielen Fragen haben sie, die Staatsund Regierungschefs, die sich im Europäischen Rat treffen, die Entscheidungsgewalt. Aber wenn etwas nicht funktioniert, dann zeigen fast alle mit dem Finger auf Brüssel. Wenn es besonders schlicht hergeht, wird die Bürokratie verantwortlich gemacht, die zu kostspielig sei. Bei einer Sitzung des EU-Hauptausschusses im Jänner 2020 argumentierte Bundeskanzler Kurz, trotz Brexit würde die Brüsseler Bürokratie immer teurer. Er versuchte das auch mit Berechnungen zu unterlegen, die allerdings nicht stimmten. Fakt ist vielmehr: Die EU-Kommission muss für die nächsten sieben Jahre eine Steigerung der Verwaltungsausgaben um sieben Prozent kalkulieren, weil die Pensionskosten in den kommenden Jahren höher werden, wie auch in jeder nationalen Bürokratie. Für die Arbeit der Kommission wurde nur eine Steigerung um die Inflationsrate einberechnet. Seitenhiebe gegen „die Bürokraten in Brüssel“ waren und sind wir von der FPÖ oder der AfD gewohnt. Es ist erstaunlich, wie locker Kurz diese Sprüche übernimmt. Das war auch später so, als es um die Finanzierung des Recovery Programms nach der Pandemie ging (siehe Kapitel Geld, ab S. 85).
Die Wahrheit ist, dass für alle EU-Institutionen rund 50.000 Menschen arbeiten, also ein Beamter auf rund 10.000 Einwohner kommt. Kurz sprach sich bei diesem EU-Hauptausschuss auch gegen eine Erhöhung der Mittel für die Forschung aus. Genau dort werden wir aber dringend mehr Geld brauchen. Umgekehrt argumentierte er, dass er die Landwirtschaft mit nationalen Mitteln unterstützen werde, wenn es wegen eines geringen EU-Budgets weniger Geld aus Brüssel geben sollte.
Die EU ist praktisch für die nationale Politik. Wenn etwas schief geht, dann waren es „die in Brüssel“. Für Erfolge sind natürlich die eigenen hervorragenden Ideen und Handlungen zuständig. Diese Methode kann scheitern, wie wir beim Brexit gesehen haben. Premierminister David Cameron hat zwar gerne die Vorteile der EU betont, wenn er aber in seiner konservativen Partei unter Druck kam, hat er gegen Brüssel argumentiert. Beim Referendum wollte er dann eine Mehrheit erreichen, aber da waren „die Dämonen schon entfesselt“, wie in einem 2016 erschienenen, gleichnamigen Buch seines Pressesprechers Craig Oliver detailliert und eindrucksvoll geschildert wird. Wenn eine Institution immer für alles Negative verantwortlich ist, dann ist auch der Ruf nach der Beendigung eines solchen Verhältnisses verständlich.
Aber ein Blick auf den Globus zeigt, dass auf der Welt nur noch Mitspieler ernst genommen werden, die stark und selbstbewusst auftreten. Großbritannien hat einen Vertrag mit China über die Freiheiten in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong. Die Führung in Peking missachtet dieses Abkommen seit kurzem geradezu provokant, zuletzt durch das sogenannte Sicherheitsgesetz. Wären die Briten Teil einer starken EU, dann würden die Chinesen in Hongkong wohl vorsichtiger agieren. Die Europäische Union muss sich der weltpolitischen Realität stellen, und zwar gemeinsam, mit allen Konsequenzen, bis hin zu einem starken militärischen Auftreten. Andernfalls wird die EU nicht mehr sein als eine Verbindung von ein paar wirtschaftlich stärkeren und einigen schwächeren Ländern mit wunderschöner Landschaft und wechselhafter, oft bedeutsamer Geschichte.
Während der Corona-Krise haben die Regierungen der Länder überwiegend allein gehandelt. Gesundheit gehöre in ihre Kompetenz, hieß es immer. Wir befinden uns jedoch auch mitten in einer riesigen Wirtschaftskrise. Nur wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten glaubt, dass diese gemeinsam besser zu bewältigen ist, dann wird sich die EU verändern. Wenn nicht, dann kann sie zerfallen. Welche gefährlichen Konsequenzen das Ende der EU und der Zerfall Europas nicht nur für unseren Kontinent, sondern für die ganze Welt hätte, wird noch behandelt werden. Der Blick zurück zeigt uns jedenfalls, dass auf diesem Kontinent Großes erfunden und geleistet wurde, Konflikte in Europa aber immer gewaltsam ausgetragen wurden. Die Hoffnung lebt, dass wir aus der Geschichte gelernt haben.
KAPITEL 3
GESCHICHTE
KRIEGE, FRIEDEN UND DAS SPIEL MIT EMOTIONEN
In keinem anderen Kontinent sind auf so engem Raum so viele unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Lebensweisen entstanden, keine Gegend auf der Welt wurde so oft von Völkerwanderungen verändert. Das günstige Klima und die vielen miteinander verbundenen Wasserstraßen haben diese Mobilität begünstigt. Später sind von hier aus Forscher und Abenteurer in großer Anzahl aufgebrochen, um die ganze Erde zu entdecken, immer neugierig, manchmal aber auch nur gierig.
Aber seit Menschen in Europa lebten, wurde hier Krieg geführt: um Raum für den Anbau von Lebensmitteln, später um Grenzen, Religionen oder einfach zur Demonstration von Macht. Schon Ausgrabungen aus der Steinzeit erzählen von grausamen Auseinandersetzungen bis hin zum Kannibalismus. Vor 45.000 Jahren kam der Homo Sapiens nach Europa; vor 8.000 bis 9.000 Jahren wurden die Menschen sesshaft, lebte von Ackerbau und Viehzucht und verwendete keramische Gerätschaften. Seit dieser Zeit, der sogenannten neolithischen Revolution, sind die ältesten bäuerlichen Kulturen in Mitteleuropa nachweisbar. In Herxheim in der Pfalz fand man etwa 450 Schädel, Zeugen roher Gewalt, die rund 5.000 v. Chr. ausgeübt wurde. Zur gleichen Zeit gab es in Niederösterreich das „Massaker von Schletz“. In Aspern an der Zaya wurden die Überreste von rund 200 Menschen gefunden, die durch Hiebe auf den Kopf getötet worden waren, wie die Schädelfunde zeigen.
Gründe für einen Krieg gab es immer. Erst vor wenigen Jahren wurden am Ufer des Flusses Tollense im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern Spuren kriegerischer Auseinandersetzungen gefunden, die in der Bronzezeit stattgefunden hatten. Archäologen haben anhand der Knochenfunde eruiert, dass hier um 1.300 vor Christi Geburt rund 5.000 Menschen mit Schwertern und Pfeilen aus Bronze zu Fuß und auf Pferden miteinander gekämpft haben. Damals veränderte sich das Klima, die Lebensbedingungen im Norden wurden schlechter, Ressourcen entsprechend knapp. Bei diesem Krieg ging es also offenbar noch um das nackte Überleben eines Stammes; später schickten Herrscher ihre Untertanen aus reiner Machtgier auf die Schlachtfelder, oft verbrämt durch angebliche religiöse Ziele, fanatisiert durch nationalistische Gesänge oder eingebildete „rassische“ Überlegenheit. Von 7.000 v. Chr. bis ins Jahr 2001, als die Jugoslawienkriege zu Ende ging, sind Menschen in Europa also gewaltsam gegeneinander vorgegangen, und schon während der Friedensverhandlungen wurde meistens die nächste Schlacht vorbereitet.
Der Sprecher des österreichischen Bundesheeres, Oberst Michael Bauer, kam irgendwann auf die Idee, auf der Plattform Twitter, wo Streit auch nicht immer zivilisiert abläuft, mit historischen Friedensschlüssen für historische Bildung zu sorgen. Der erste belegte Friedensvertrag geht auf das Jahr 2.740 v. Christus, auf das Sumererreich zurück, das erste Friedensabkommen in Europa wurde 449/448 v. Chr. geschlossen: der Kalliasfrieden zwischen dem Attisch-Delischen Seebund und dem persischen Achämenidenreich, das nach Europa expandiert war. Der griechische Heerführer Kallias und König Artaxerxes beendeten dadurch die Perserkriege, vorläufig zumindest. Alexander der Makedonier marschierte 334 v. Chr. wieder gegen die Perser und wurde durch die vielen Kriege in seinem kurzen Leben zu Alexander dem Großen. Der jüngste Friedensvertrag, paraphiert am 21. November in Dayton, Ohio, und unterzeichnet am 14. Dezember 1995 in Paris, beendete die Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien.
Der Holocaust veränderte (vorerst) alles
In den Ersten Weltkrieg waren die europäischen Großmächte und ihre Führer, die noch dazu großteils miteinander verwandt waren, wie Schlafwandler getaumelt, so der Titel des Buches des Historikers Christopher Clark aus dem Jahr 2012. In über vier Jahren starben 17 Millionen Soldaten auf den Schlachtfeldern und Zivilisten an den Kriegsfolgen. Im November 1918 sah die Welt anders aus, drei Reiche waren untergegangen, das des Zaren, das der Habsburger und das der Hohenzollern. Die Friedensverträge, geschlossen in den Pariser Vororten, wollten mehr bestrafen als befrieden. Manche Historiker sehen die Zeit von 1914 bis 1945 wie einen großen Krieg, aber Hitler wollte mehr als die Revanche für einen ungerechten Frieden, er wollte auch mehr als „Lebensraum im Osten“. Die Vernichtung des Judentums war sein Ziel, und deren Durchführung war so erschreckend genau geplant wie der Fahrplan der Deutschen Reichsbahn. Die Amerikaner kamen spät, aber sie kamen. Den Holocaust konnten auch sie nicht mehr verhindern. Dass eine Kulturnation wie die Deutschen dazu fähig war, beschäftigt noch heute das Gewissen der deutschen Politik, und auch das offizielle Österreich hat spät, aber doch Verantwortung übernommen. 70 Millionen Tote kostete der Zweite Weltkrieg, 6 Millionen Juden wurden ermordet, zum Teil nach schrecklichen Qualen in den Vernichtungslagern, aber auch nach erniedrigenden Aktionen durch Zivilisten. Es ist und bleibt ein großes Wunder, dass die Todfeinde vieler Jahrhunderte schon kurz nach dem Krieg mit dem größten Friedenswerk der europäischen Geschichte begannen, indem sie die Verfügung über Kohle und Stahl unter eine gemeinsame Verwaltung stellten. Seither ist Versöhnung ein großes europäisches Thema, mit dem sich freilich viele am Balkan noch schwertun.
Der Zerfall Jugoslawiens: Kein Ende der Geschichte
Die Jugoslawien-Kriege zeigten, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie nicht das Ende der Geschichte gekommen war, wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama geschrieben hat. In einem Essay aus dem Jahr 1989 und seinem berühmt gewordenen Buch mit ebendiesem Titel drei Jahre später stellte er die These auf, dass sich liberale Demokratie und Marktwirtschaft endgültig durchgesetzt hätten. Immerhin, im November 1990 wurde die Charta von Paris unterzeichnet. Darin riefen die Staaten Europas, die auf ihren Territorien nicht nur eigene Massenvernichtungswaffen, sondern auch Bomben und Raketen der Russen und Amerikaner stationiert hatten, den ewigen Frieden für den kriegerischen Kontinent aus. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die seit November 1972 in Helsinki an der Respektierung von Staaten, Grenzen, aber auch Menschenrechten arbeitete, war damit nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall des Ostblocks zu ihrem friedlichen Ende gekommen.
Umso ernüchternder waren die Jugoslawien-Kriege, die im Sommer 1991 in Slowenien mit dem 10-Tage-Krieg begannen und erst 2001 mit dem albanischen Aufstand in Mazedonien endeten. Die Zahl der Toten in diesen blutigen Bürgerkriegen wird auf rund 200.000 geschätzt. 2,4 Millionen Menschen flüchteten vor Verfolgung aus ihrer Heimat, Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden vor einem internationalen Strafgerichtshof verhandelt, Täter wurden abgeurteilt. Viele Wunden sind auch heute noch offen, wie man bei jedem Gespräch in einem der betroffenen Länder erfährt. Wir müssen es so klar aussprechen: Krieg am Balkan kann es wieder geben. Unverbesserliche Nationalisten sprechen bereits von Grenzverschiebungen und dem Austausch von Bevölkerungsgruppen. So etwas geht nie friedlich. Und alle schauen weg. Ja, die Sonntagsreden gibt es, in denen für die Aufnahme der Westbalkanländer in die EU geworben wird. Und dann blockierte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron im Herbst 2019 die Aufnahmegespräche mit Albanien und Nordmazedonien. Angeblich war er beleidigt, weil seine Kandidatin für die EU-Kommission nicht akzeptiert wurde. Auch das ist Europa. Aber im Frühjahr 2020 gab es eine Wendung zum Positiven. Am 24. März beschlossen die EU-Staaten die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit den beiden Ländern.
Orbáns Spiel mit der Geschichte
Traumatische historische Ereignisse und das politische Spiel mit ihnen können die Wurzel für neue Konflikte werden. Das weiß ein Politiker wie Viktor Orbán, der die Geschichte seines Landes massiv für nationale Aufwallungen einsetzt wie kein anderer in Europa. Das Lustschloss Grand Trianon, das Ludwig XIV. im Park von Versailles erbauen hatte lassen, werden viele Ungarn nie persönlich gesehen haben, aber sie wissen, dass dort nach dem Ersten Weltkrieg, am 4. Juni 1920, ein Vertrag unterzeichnet wurde, der aus dem Königreich Ungarn einen deutlich kleineren Staat machte. Mit diesen „Pariser Vorortverträgen“ wurde der Erste Weltkrieg in aller Form beendet, auch mit einer Unterschrift der ungarischen Regierung, die damit auf zwei Drittel der Fläche des einstigen Königreiches zugunsten der Nachbarstaaten verzichtete. Zuvor hatten Tschechen und Slowaken die tschechoslowakische Republik ausgerufen, Siebenbürgen war Rumänien zugeschlagen worden und in Zagreb hatte sich der Staat aus Serben, Kroaten und Slowenen gegründet. Für die Ungarn war es extrem schmerzvoll, dass sie auch Gebiete hergeben mussten, in denen sie die Mehrheitsbevölkerung stellten. 3 Millionen Ungarn lebten fortan außerhalb der neuen ungarischen Grenzen, wo noch rund 7,6 Millionen ihr Zuhause hatten.
Es gibt eine eigene „Trianon-Forschungsgruppe“, deren Leiter Balázs Ablonczy in der Budapester Zeitung die Bedeutung des Wortes Trianon in einem Interview sehr anschaulich erklärte: „In Ungarn gibt es über Trianon – wie bei anderen Ereignissen des 20. Jahrhunderts auch – mehrere Erinnerungen, die grundsätzlich sehr politisch geprägt sind. Man denkt darüber auf der linken Seite anders als auf der rechten, daneben gibt es auch eine liberale und eine rechtsradikale Auffassung, die meistens unversöhnbar miteinander sind. Oft habe ich das Gefühl, dass Trianon in Ungarn gar nicht der Name des Friedensvertrags ist, denn wenn jemand darüber redet, spricht er nicht über den Vertrag, sondern über all das Übel und Unglück, das uns widerfahren ist. Ein Beispiel: Ich kam gestern am Flughafen an und auf dem Nachhauseweg fragte mich der Taxifahrer, wo ich war und was ich gemacht habe. Ich sagte, dass ich auf einer Konferenz über die Friedensverträge in Paris war, woraufhin er sofort drauflosredete, aber nach drei Sätzen sprach er überhaupt nicht mehr von Trianon, sondern darüber, wie schwer das Leben heutzutage ist und ob es vor der Wende besser war oder nicht. Das meine ich, wenn ich sage, dass Trianon der Name einer Tragödie ist.“




