Ein Fluch aus der Vergangenheit

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Sie widmete sich wieder den anderen Gästen und war bemüht, ihre Bestellungen schnellstens zu erfüllen. Ihre Zusammenarbeit mit den Besitzern des Hotels war gut und sie fühlte sich in diesem Umfeld sehr wohl. Sie erledigte ihre Arbeit und beendete diese wie vereinbart gegen zweiundzwanzig Uhr.
Silvia Korn zog sich nach Dienstschluss um. Sie trug enge dunkelblaue Jeans und eine weiße luftige Bluse, welche gut mit ihren roten Haaren harmonierte. Ihre Haare waren gefärbt, wobei sie stets darauf achtete, dass die Haare nicht knallrot gefärbt wurden, sondern nur eine leichte rötliche Tönung erhielten.
Sie war achtzehn Jahre alt, 1,78 Meter groß und sehr schlank, was es ihr stets ermöglichte, in den Kaufhäusern die zu ihr passende Kleidung zu finden. Silvia hatte nach ihrer Schulzeit eine Lehre im Gastronomiebereich erfolgreich beendet und bis vergangenes Jahr in Eberswalde in einem Hotel im Empfangsbereich gearbeitet, was sie jedoch nicht auslastete und zudem hatte sie in dem Hotel eine unregelmäßige Arbeitszeit, weshalb sie sich entschloss, ihre Arbeitsstelle zu wechseln. Ein weiterer Gesichtspunkt bezüglich ihres Arbeitsplatzwechsels war die neue Arbeitsstelle ihres sechs Jahre älteren Bruders, welcher bei der Bundesbahn vor einem Jahr nach Eberswalde versetzt wurde.
Die beiden Geschwister lebten gemeinsam in einer Wohnung am Markt in Angermünde und waren sehr eng miteinander verbunden. Ihre Eltern waren vor sechs Jahren bei einem noch immer ungeklärten Unfall auf einem Gestüt und Reiterhof auf mysteriöse Weise verunglückt, wobei ihr Vater verstarb und ihre Mutter seit diesem Unfall in einer Klinik zur Pflege untergebracht war. Aufgrund längeren Sauerstoffverlustes war ihr Hirn leider geschädigt worden, sodass sie nicht mehr sprechen konnte und verwirrt war. Eine konkrete Einschätzung der Hirnschädigung war aus ärztlicher Sicht nicht möglich. An manchen Tagen hatten die Geschwister den Eindruck, dass ihre Mutter sie erkennen und sich über ihren Besuch freuen würde, da sie beide anlächelte, ohne ihre Gefühle ausdrücken zu können.
Die beiden Geschwister hatten ihre Eltern sehr geliebt und erinnerten sich gern an die vielen schönen gemeinsamen Stunden in ihrem Haus in Joachimsthal. Nach den schrecklichen Ereignissen auf dem Gestüt mussten sie sich schweren Herzens zum Verkauf des Hauses entschließen. Den Verkauf wickelte ihr Bruder, der sechs Jahre älter als Silvia und zum damaligen Zeitpunkt unterschriftsberechtigt war, gemeinsam mit einem Makler ab. Beide Kinder, sowohl Silvia als auch ihr Bruder Helmut, trennten sich ungern von ihrem Elternhaus und konnten sich einige Zeit nicht zu diesem schweren Entschluss durchringen. Sie hatten sich zu einem Neuanfang entschlossen und sich versprochen, ihr Leben in nächster Zeit weiter gemeinsam zu verbringen.
Helmut musste zum damaligen Zeitpunkt viele Entscheidungen für seine kleine Schwester treffen und hoffte immer, sich in ihrem Sinne entschieden zu haben. Silvia hatte den Verlust ihrer Eltern sehr schwer verkraftet und lange Zeit nicht begreifen können, was eigentlich an dem Abend des Unglücks geschehen ist. Sie wurde immer wieder von bösen Träumen heimgesucht und versuchte diese ihrem Bruder zu erklären, was er lange Zeit nicht verinnerlichen wollte, da er an Trugbilder seiner Schwester glaubte. Er besuchte mit seiner Schwester einen Psychologen, da er befürchtete, die Ereignisse um den Tod ihrer Eltern hatten bei seiner Schwester nervliche Probleme hinterlassen. Der Psychologe konnte jedoch keinerlei nervliche Schädigungen bei Silvia feststellen, aber er wies Helmut darauf hin, dass seine Schwester noch längere Zeit zur Verarbeitung des Todes ihres Vaters benötigen werde.
Nach ungefähr drei Jahren hatte Silvia den Schock des Verlustes ihrer Eltern verarbeitet und hatte trotz großer Probleme ihre Schulzeit erfolgreich beendet und ihre Lehre begonnen. Ihr Bruder freute sich sehr über diese positive Entwicklung seiner kleinen Schwester und hatte ihr die Ausbildungsstelle besorgt. Sie entwickelte sich positiv und gliederte sich gut in die Kollektive ihrer Ausbildung und ihrer Arbeitsstellen ein. Sie war ein sehr selbstbewusstes Mädchen geworden und wusste, dass sie diese Entwicklung wesentlich ihrem Bruder zu verdanken hatte. Sie war ihm dafür sehr dankbar und wollte ihm ihren Dank mit der gleichen Fürsorge zurückgeben.
Nachdem sie am Tag nach dem Grillfest ihre Arbeit beendet hatte, ging sie wie immer zu Fuß gut gelaunt nach Hause, denn sie wusste, dass ihr Bruder auf sie wartete. Er musste morgen zur Frühschicht und deshalb wollten sie heute Abend gemeinsam essen und sich ein Video anschauen. Silvia freute sich stets auf diese gemeinsamen Stunden mit ihrem Bruder.
„Ich habe auf dich gewartet“, rief Helmut ihr aus der Stube zu, nachdem sie die Wohnung betreten hatte.
„Ich konnte nicht früher weg“, antwortete Silvia.
„Hattest wohl wieder aufdringliche Gäste?“
„Eigentlich nicht, lediglich ein Gast benahm sich komisch.“
„Hat er dich angepöbelt?“
„Das Übliche“, lächelte Silvia Helmut an.
„Sonst ist alles in Ordnung?“
„Ja. Was hast du Schönes zu essen gemacht?“, erkundigte sich Silvia.
„Dein Lieblingsessen.“
„Du hast gebratene Nudeln zubereitet?“
„Ich hoffe, es ist nicht zu viel, habe mich bei der Menge wahrscheinlich verschätzt.“
„Von meinem Lieblingsessen kannst du nie genug machen.“
„Die gebratenen Nudeln können nicht aufgehoben werden, sie verderben schnell. Gibt es bei dir Neuigkeiten?“, fragte Helmut.
„Nein.“
„Wir könnten dieses Wochenende zu Mutti fahren.“
„Ich habe am Sonntag frei“, stimmte Silvia zu.
„Wenn sich bei mir nichts ändert, habe ich Sonntag gleichfalls frei.“
„Ich würde gerne zu Mutti fahren. Es ist immer wieder schön, auch wenn sie uns nicht erkennt.“
„Wir könnten bei Oma und Opa vorbeischauen“, schlug Helmut vor.
„Eine gute Idee, aber du weißt, dass wir in diesem Fall früh aufstehen müssen“, lächelte Silvia.
„Vielleicht können wir unsere Großeltern überreden, uns zu Mutti zu begleiten.“
„Meine Hoffnung diesbezüglich ist gering. Bis jetzt sind sie noch nie mitgefahren und du erinnerst dich sicherlich, wie Oma reagiert hat, als die Ärzte uns mitteilten, dass sich der gesundheitliche Zustand unserer Mutti nicht verbessern wird und sie uns wahrscheinlich nie mehr erkennen wird“, entgegnete Silvia.
„Ja, aber ich weiß auch, wie sehr Oma ihre Tochter geliebt hat.“
„Das wird der Grund sein, weshalb sie Mutti in diesem Zustand nicht sehen möchte.“
„Du wirst wieder einmal recht haben, aber dennoch gebe ich es nie auf und werde Oma immer wieder dazu drängen, mit uns in die Klinik zu fahren“, beharrte Helmut.
„Ich bin einverstanden, außerdem waren wir seit einiger Zeit nicht bei unseren Großeltern.“
„Sie werden sich bestimmt freuen.“
„Wollen wir ihnen unseren Besuch anmelden?“, fragte Silvia.
„Lieber nicht, du weißt, wie schnell sich bei meinen Diensten etwas ändern kann, und dann müssten wir, wie leider schon so oft, wieder absagen.“
„Wir könnten ihnen ein Geschenk mitbringen.“
„Gute Idee“, erwiderte Helmut.
„Ich besorge eine gute Flasche Cherry, die Opa gern trinkt.“
„Für Oma besorge ich ihr Lieblingsparfüm“, ergänzte der Bruder.
„Weißt du, Helmut, ich konnte die letzte Nacht kaum schlafen, weil mir immer wieder die Bilder des Unglücks unserer Eltern erschienen“, sprach Silvia in melancholischem Tonfall.
„Fühlst du dich schlecht?“, sorgte sich Helmut.
„Nein, ich habe die Ereignisse verarbeitet. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Dennoch frage ich mich oft, wie der Unfall geschehen konnte.“
„Die polizeilichen Ermittlungen haben kein Verschulden von Personen ergeben, es war ein trauriger Unfall. Aus unerklärlichen Gründen hat das Pferd fehl reagiert.“
„Dennoch frage ich mich stets aufs Neue, wieso das Pferd so aggressiv reagierte“, ließ Silvia nicht locker.
„Bitte iss jetzt deine Nudeln, über den Unfall können wir später sprechen“, sagte Helmut und hoffte aufs Innigste, seine Schwester würde das Thema vergessen. Auch Helmut hatte sich die vergangenen Jahre wiederholt gefragt, was der Anlass für die Aggressivität des Pferdes bei diesem Unfall war, aber er wollte heute nicht darüber sprechen.
Beide ließen sich das von Helmut zubereitete Essen schmecken und schmiedeten Pläne, wie sie am Wochenende ihre Großeltern überreden konnten, ihre Mutti in der Klinik zu besuchen. Sie waren sicher, dass dieses Vorhaben nicht einfach werden würde, aber sie wollten dieses Mal darauf bestehen, mit ihnen in die Klinik zu fahren.
„Ich muss dir etwas Wichtiges sagen“, gestand Silvia ihrem Bruder.
„Leg los“, lächelte Helmut.
„Bei dem heutigen Grillfest unseres Chefs war ich etwas irritiert.“
„Weshalb?“
„Es kann auch eine Täuschung sein“, zweifelte Silvia.
„Das kann ich erst beurteilen, wenn du es mir erzählt hast.“
„Bei der Feier waren vier Männer anwesend und ich musste sie mehrmals bedienen. Dabei kam mir die Stimme eines Mannes bekannt vor, aber leider kann ich sie nicht einordnen.“
„Was willst du mir eigentlich sagen?“, fragte Helmut neugierig.
„Du weißt doch, dass ich zur Zeit des Unfalls in den Pferdeboxen gewesen bin. Ich befand mich am anderen Ende des Stalles, als das schreckliche Unglück geschah, und ich hatte den Eindruck, dass sich eine Person schnell aus dem Boxengebäude entfernte. Leider konnte ich nichts Genaueres sehen, sondern habe nur einen Schatten gesehen, wobei ich mich auch getäuscht haben kann.“
„Ich weiß, wir haben oft darüber gesprochen und du hast auch die zuständigen Ermittler darüber informiert, aber es gab keinen Hinweis auf fremde Personen zum Zeitpunkt des Unfalles im Gebäude.“
„Ja, dennoch begleitet mich dieses Gefühl die ganzen Jahre.“
„Ich dachte, du hättest das Geschehen verarbeitet.“
„Das habe ich, aber beim heutigen Grillfest kam mir eine Stimme der Gäste bekannt vor, ohne dass ich diese einordnen kann, aber ich glaube, ich habe sie auf dem Gestüt gehört“, beharrte Silvia.
„Bei den damaligen Untersuchungen der Kriminalpolizei konnten keine Zeugen zum Zeitpunkt des Unfalles ermittelt werden. Ich habe mich mehrmals mit den Ermittlern unterhalten und bin überzeugt, dass sie ihre Arbeit gründlich durchgeführt haben. Es konnten ebenfalls keine verwertbaren Spuren, die zu Fremdpersonen geführt hätten, festgestellt werden. Das tragische Geschehen muss ein unglücklicher Unfall gewesen sein“, sagte ihr Bruder mit leiser Stimme.
„Ich kenne ebenso wie du die Ermittlungsergebnisse, trotzdem ist es mir stets ein Rätsel geblieben, warum Muttis Lieblingsstute plötzlich so aggressiv reagiert hat. Die Stute war immer ein ruhiges und leicht zu reitendes Pferd gewesen und hat Mutti als Reiterin immer akzeptiert und wir hatten alle den Eindruck, dass es sich freute, mit ihr auszureiten“, blieb Silvia bei ihren Vorbehalten.
„Ja, in dieser Beziehung bin ich der gleichen Meinung, dennoch gingen die Ermittler von einem Fehlverhalten von Mutti aus, was die aggressive Tat der Stute veranlasst haben muss. Die Kriminalisten sagten, nachdem sie einige Gespräche mit Pferdefachleuten geführt hatten, zu mir, dass Mutti zu diesem Zeitpunkt erregt gewirkt haben muss und diese Erregung hat sich auf die Stute übertragen. Es wurde angenommen, dass ihr durch diese spürbare Erregung ein Fehlverhalten unterlaufen sein muss und dadurch das Pferd falsch reagierte. Möglicherweise war Mutti beim Vorbereiten des Pferdes zum Ausritt etwas abgelenkt oder unkonzentriert, was zu Fehlern führte.“
„Das kann ich mir bei ihr nicht vorstellen, sie war stets beherrscht und auf ihre Tätigkeiten konzentriert, sie ließ sich kaum von ihren Vorhaben ablenken.“
„Die Ermittler schilderten mir das Geschehen in der Pferdebox ziemlich genau und die beauftragten Gutachter stimmten den Ermittlern zu. Das Gutachten sagt aus, dass das Pferd zuerst Mutti an die Wand der Box drückte und anschließend unseren schnell hinzugeeilten Vati mit mehreren Huftritten tötete. Wie du weißt, war unser Vati zum gleichen Zeitpunkt in dem Stallgebäude und bereitete sein Pferd ebenfalls zum Ausritt vor, denn beide wollten gemeinsam einen Ausritt unternehmen. Vati hatte keine Überlebenschance, denn die Tritte des Pferdes waren so gewaltig, dass er nur wenige Sekunden nach den Tritten starb, wobei die zugefügte Kopfverletzung ausschlaggebend war. Mutti lag völlig apathisch an der Wand der Pferdebox, denn sie hatte die Tötung von Vati mit ansehen müssen. Nach Aussagen aller Ärzte, die Mutti mehrmals untersucht haben, ist dieses Schockerlebnis der Grund für ihren derzeitigen gesundheitlichen Zustand, wobei noch die Gehirnschädigung hinzukommt, die sie durch einen zeitweiligen Sauerstoffverlust erlitt.“
„Du hast sicherlich recht und ich kenne die medizinischen Ergebnisse, aber ich glaube einfach nicht an ein Fehlverhalten von Mutti“, beharrte Silvia.
„Wir müssen uns damit abfinden“, wollte Helmut die Diskussion beenden.
„Warum sollte Mutti zu diesem Zeitpunkt aufgeregt gewesen sein?“, fragte Silvia.
„Es gibt etwas, was ich dir noch nie gesagt habe“, gestand Helmut.
„Du wolltest mir immer die Wahrheit sagen und ich bin dir für deine Fürsorge dankbar und ich weiß nicht, was ohne deine Hilfe aus mir geworden wäre. Du bist immer mein großes Vorbild gewesen und ich habe meine Entwicklung nur dir zu verdanken. Ich möchte nicht, dass es zwischen uns Geheimnisse gibt.“
„Ich werde dich immer beschützen“, sagte ihr Bruder mit fester Stimme.
„Ich hoffe, dass wir uns immer beistehen, auch wenn wir eines Tages eigene Familien gründen und unterschiedliche Probleme haben werden“, lächelte Silvia.
„Bei mir wird ein zukünftiges Familienproblem keinen Einfluss auf unser Verhältnis haben.“
„Was hast du mir verschwiegen?“, wollte Silvia wissen.
„Unsere Eltern hatten einige Zeit vor dem schrecklichen Ereignis Probleme in ihrer Beziehung.“
„Wie kommst du darauf? Ich hatte immer den Eindruck, dass beide ein sehr harmonisches Leben miteinander führten und auf uns sehr stolz waren.“
„Es stimmt, dass beide auf uns stolz waren und uns immer von ihren Problemen fernhielten. Sie wollten stets nur unser Bestes und haben uns unsere Wünsche erfüllt. Wir können mit gutem Gewissen behaupten, dass wir gut erzogen wurden und eine sorgenfreie Kindheit hatten. Sie haben für uns viele ihrer persönlichen Wünsche zurückgestellt. Sie waren gute Eltern“, sagte Helmut.
„Wie kommst du darauf, dass sie Probleme hatten?“, fragte Silvia.
„Du warst noch zu klein und konntest die Probleme nicht spüren, außerdem hast du unsere Eltern sehr geliebt und sie haben sich uns gegenüber unverändert verhalten, aber ich habe gespürt, dass sich etwas geändert hatte. Eines Tages bin ich durch Zufall Zeuge eines heftigen Streites unserer Eltern geworden. Beide haben sich ernsthaft gestritten und sich gegenseitig Vorwürfe für ihr Verhalten gemacht.“
„Welche Vorwürfe waren es?“, fragte Silvia.
„Den Grund habe ich nicht erfahren, wie gesagt, es war reiner Zufall, dass ich Zeuge dieses Streites wurde, und ich wollte unsere Eltern nicht nach diesem Streit fragen, aber ich hatte das Gefühl, dass es entweder um eine andere Frau oder einen anderen Mann gegangen sein muss.“
„Du denkst, einer unserer Eltern hatte ein Verhältnis?“
„Davon muss ich ausgehen.“
„Das glaube ich nicht.“
„Wie gesagt, es war ein Gefühl, persönlich kann ich es ebenfalls nicht glauben“, gestand Helmut.
„Vielleicht ging es um berufliche Probleme oder Arbeitskollegen oder -kolleginnen“, vermutete die leicht verwirrte Schwester.
„Die Möglichkeit besteht natürlich auch.“
„Du denkst, dass Mutti deshalb bei der Besattelung ihrer Stute abgelenkt war, weil sie die Probleme mit Vati nicht verarbeiten konnte?“, überlegte Silvia.
„Es könnte eine Möglichkeit für ein eventuelles Fehlverhalten von Mutti sein. Außerdem weiß ich, dass beide den gemeinsamen Ausritt zur Versöhnung nutzen wollten und sich sehr auf diesen gemeinsamen Ausflug, der den ganzen Tag dauern sollte, gefreut haben“, antwortete Helmut.
„Ich möchte dich nochmals an die mir bekannt vorkommende Stimme heute Abend erinnern. Ich kann sie nicht exakt zuordnen, aber es ist möglich, dass ich diese Stimme auf dem Gestüt gehört habe. Mir lässt die Stimme im Augenblick keine Ruhe und mir wurden die Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Unglück unserer Eltern wieder lebendig.“
„Steigere dich nicht in unbestimmte Versionen des Unglückes hinein“, forderte Helmut seine Schwester auf und schaute sie besorgt an.
„Vielleicht kannst du mich die nächsten Tage von der Arbeit abholen und ich zeige dir die Leute, bei denen ich vermute, die Stimme gehört zu haben. Es war an einem Tisch mit vier Personen. Mein Chef sagte mir, als ich ihn nach diesen Personen befragte, dass sie seit einigen Jahren immer gemeinsam im Hotel Quartier beziehen. Er erzählte mir, dass sie abends meistens lange bis kurz vor Mitternacht Skat spielen. Du könntest sie dir ansehen und in ein Gespräch verwickeln. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder dir kommt die Stimme ebenfalls bekannt vor oder du kannst meine Gefühle zerstreuen“, schlug Silvia vor.
„Einverstanden, wenn mein Dienstplan nicht verändert wird, kann ich dich morgen von der Arbeit abholen“, stimmte Helmut dem Vorschlag seiner Schwester zu.
Die beiden Geschwister schauten sich, trotz der späten Stunde, noch einen Fernsehfilm an und gingen danach mit großer Erwartung des morgigen Tages zu Bett, wobei sie nicht ahnen konnten, wie sich die Ereignisse in den nächsten Tagen überschlagen und ihr Leben beeinflussen würden.
Helmut konnte seine Schwester am nächsten Tag nicht wie verabredet von der Arbeit abholen. Er rief sie kurzfristig an und teilte ihr mit, dass sich sein Dienstplan geändert hatte und er im Rahmen des Bereitschaftsdienstes in der Nacht einen Gütertransport fahren müsse und deshalb nicht mit Bestimmtheit sagen könne, wann er wieder zu Hause sein würde.
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Hauptkommissar Klaus Ullmann wurde zwei Tage nach dem Grillfest im „Hotel am Seetor“ von der Einsatzzentrale unsanft aus dem Schlaf geweckt. Seine Abteilung hatte in dieser Nacht Bereitschaft und er wurde zu einem Todesfall in Angermünde gerufen. Nachdem er sich kurz gewaschen und rasiert hatte, was mittels Trockenrasierer sehr zügig geschah, griff er zum Telefon.
„Meister“, meldete sich eine verschlafene Stimme.
„Frau Hauptkommissarin, wir haben einen Einsatz“, gab Ullmann seiner Mitarbeiterin zu verstehen.
„Wo?“, kam die Rückfrage.
„In Angermünde.“
„Bitte die genaue Anschrift.“
„Ich hole Sie in zehn Minuten ab“, kam die Anweisung von Ullmann.
„Ich muss mich noch fertig machen“, entgegnete Frau Meister.
„Wir fahren zu einem Tatort und nicht zu einem Schönheitswettbewerb“, erwiderte Ullmann.
„Ich bin in zehn Minuten fertig“, sprach die Kommissarin und legte den Hörer auf.
Pünktlich zehn Minuten nach seinem Anruf fuhr Hauptkommissar Ullmann am Wohnhaus seiner Mitarbeiterin vor und war freudig erstaunt, dass seine Kollegin bereits auf ihn wartete. Sie hatte sich eine luftige Jacke übergezogen, da es zu dieser frühen Morgenstunde noch etwas frisch war, obwohl die Wetterpropheten für den heutigen Tag hohe Temperaturen vorhergesagt hatten. Der Kommissar bewunderte Frau Meister bezüglich ihrer guten Kleidung. Sie war mit einer schwarzen Hose und einer roten Jacke bekleidet, welche gut zu ihrer tadellosen Figur passte. Dennoch sagte er etwas nachdenklich: „Ich weiß nicht, ob diese Kleidung für unsere jetzige Arbeit passend ist.“
„Im Eifer konnte ich nicht sehr wählerisch sein“, kam die knappe Antwort.
„Ihre hohen Absätze könnten hinderlich sein“, ulkte der Kommissar.
„Konnten Sie Näheres über unseren Einsatz in Erfahrung bringen?“
„Leider nein. Ich weiß nur so viel, dass es sich nach Aussage der Streifenpolizisten und unserer Gerichtsmedizinerin, welche bereits zum Fundort der getöteten Person gerufen wurde, wahrscheinlich um ein Gewaltverbrechen handeln könnte.“
„Frau Kesser ist schon am Fundort?“, fragte die Kommissarin überrascht.
„Ja, ich nehme an, dass sie uns angefordert hat.“
„Frau Kesser geht demnach von einem Gewaltverbrechen aus“, dachte Frau Meister.
„Sie ist sehr erfahren und fachlich gut“, gestand Ullmann.
„Ich kann ebenfalls gut mit ihr arbeiten und schätze ihre sachlichen Ausführungen.“
Die beiden Kriminalisten fuhren in Angermünde auf der Straße des Friedens bis zum Abzweig Klosterstraße und bogen dann in die Rosenstraße, die direkt zum „Hotel am Seetor“ führte. An der Giebelseite des Hotels begann bereits die Absperrung. Die anwesende Polizeistreife hatte den Fundort der toten Person sehr großräumig abgesperrt, um die möglichen Schaulustigen fernzuhalten.
Der Hauptkommissar und seine Mitarbeiterin stiegen aus ihrem Fahrzeug und der absichernde Polizist zeigte ihnen den Weg zum Ort des Geschehens. Hauptkommissar Klaus Ullmann lobte die Umsicht der Streifenpolizisten bezüglich der großräumigen Absperrung und machte sich auf den Weg zum Fundort. Vom Hotel bis zum Fundort am Mündesee waren es zirka hundert Meter und beide stellten mit großer Freude und etwas Überraschung fest, dass die Spurensicherung ebenfalls schon da war.
Am Ende des breiten Weges Richtung Mündesee war eine großzügige Freitreppe angelegt worden. Der Weg war schön mit Verbundsteinen gepflastert und erweckte einen sehr sauberen Eindruck, wie die gesamte Umgebung. Die Freitreppe war ungefähr fünfzehn Meter breit und sieben Stufen führten ins Wasser des Sees. Auf der linken Seite des gepflasterten Weges direkt am Ufer des Sees befand sich das „Café am Mündesee“. Es hatte eine große Veranda mit vielen Tischen, die zum Verweilen und zur Einnahme von Mahlzeiten oder einem kleinen Kaffeeplausch einluden. Die Kriminalisten gingen zum augenscheinlichen Fundort der toten Person und meldeten Frau Kesser ihr Erscheinen.
„Sind Sie aus dem Bett geholt worden?“, fragte die Gerichtsmedizinerin lächelnd.
„Wir haben Bereitschaft.“
„Warum soll es Ihnen besser gehen?“, kam die Antwort.
„Was haben Sie für Nachrichten für uns?“, fragte Ullmann.
„Nach gründlicher Untersuchung der toten Person bin ich mir mit großer Gewissheit sicher, dass es sich um ein Gewaltverbrechen handelt“, teilte ihnen die Gerichtsmedizinerin mit.
„Können Sie uns Genaueres sagen?“, wollte die Kommissarin wissen.
„Ich habe an der toten Person eine Reihe Druckstellen am Hals und an den Handgelenken festgestellt, außerdem sind in seinem Gesichtsbereich Kratzspuren sichtbar. Diese Verletzungen sind jedoch, nach jetziger vorläufiger Einschätzung, nicht der ursächliche Grund des Todes der männlichen Person.“
„Was ist Ihrer Meinung nach die Todesursache?“, fragte Ullmann.
„Wie ich bereits erwähnte, hat die Person mehrere Verletzungen und Kratzspuren, was für mich nach einem Kampf mit einer anderen Person deutet. Ich nehme an, dass während des Kampfes die männliche Person mit dem Hinterkopf auf eine Stufe der Freitreppe aufschlug, was zu einer Schädelfraktur führte. Genaueres kann ich aber erst nach der Obduktion sagen, aber ich bin mir sicher, dass es sich um ein Gewaltverbrechen handelt, wobei ich nicht sicher ausführen kann, ob der Mann absichtlich mit dem Kopf auf die Steinstufe gestoßen wurde oder die tödliche Verletzung im Verlauf des Kampfes geschah. Schließlich möchten Sie auch noch etwas ermitteln“, beendete die Gerichtsmedizinerin schmunzelnd ihre Ausführungen.
„Können Sie Angaben zum Todeszeitpunkt machen?“
„Nach grober Schätzung geschah die Tat vor zirka zwei bis drei Stunden.“
„Demnach liegt der Todeszeitpunkt ungefähr zwischen Mitternacht und zwei Uhr“, schlussfolgerte der Hauptkommissar nach einem Blick auf seine Uhr.
„Richtig geschätzt, aber eventuell kann ich den Todeszeitpunkt noch präziser bestimmen. Auf jeden Fall kann ich Ihnen sagen, dass der Fundort zugleich der Tatort ist“, lachte Frau Kesser.
„Das ist jetzt überraschend für mich“, konterte Ullmann.
„Es macht immer wieder Freude, mit Ihnen zusammenzuarbeiten“, gab die Gerichtsmedizinerin zurück.





