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Zentrale Punkte an Descartes Theorie sind also sein genereller Zweifel an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis und seine strikte Trennung zwischen Geist und Materie. Immanuel Kant (1724–1804) wies in seinem Werk „Kritik der reinen Vernunft“ daraufhin, dass Erkenntnisse zwar sehr wohl empirisch gewonnen werden, es aber „apriorische Vorbedingungen“ von Erfahrungen gäbe. Vor aller Erfahrung müssen also bereits geistige Strukturen vorhanden sein, um Erfahrungen überhaupt machen bzw. verarbeiten zu können (Walach 2013, 181f.).
Diese beiden erkenntnistheoretischen Strömungen sind für das Verständnis unterschiedlicher „Schulen“ in der Psychologie zentral (Schönpflug 2013). Es zeigt sich darin auch die in der Einleitung beschriebene Zwitterstellung der Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft.
Ein dritter wesentlicher Zugang, um zu Erkenntnis zu gelangen, besteht in der Hermeneutik, die auf Wilhelm Dilthey (1833–1911) zurückgeht. Hermeneutik ist die Lehre der Auslegung und des ganzheitlichen Verständnisses von sprachlichem Material. Die Besonderheit an einem hermeneutischen Zugang liegt in der Betonung der Subjektivität des Erkennenden und Verstehenden; demzufolge gibt es keine objektive Erkenntnis unabhängig vom Wahrnehmenden selbst.
„Wilhelm Dilthey war es, der diese Lehre dann philosophisch vertieft hat und darauf hinwies, dass im Grunde die gesamte Geisteswissenschaft verstehender Natur sei, da sie es mit kulturellen Äußerungen der Menschen zu tun habe und also hermeneutische Verfahren anwenden müsse, während die Naturwissenschaften quantifizierend erklärender Art sind“ (Walach 2013, 368).
1.3 Wilhelm Wundt und die Anfänge der akademischen Psychologie
Im 19. Jahrhundert beginnt sich die Psychologie in verschiedene Teildisziplinen zu differenzieren, so z.sB. in die Tierpsychologie, die Völker- und Sozialpsychologie und die Psychopathologie. Man unterscheidet weiterhin zwischen einer allgemeinen und einer differentiellen Psychologie. Die allgemeine Psychologie nimmt die Gemeinsamkeiten von Menschen und die differentielle Psychologie individuelle Unterschiede zwischen Menschen in den Blick; darum wird letztere auch als Persönlichkeitspsychologie bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen allgemeiner und differentieller Psychologie gilt bis heute:
„Die allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit den psychischen Erscheinungsweisen des normalen Menschen und sucht die allgemeingültigen Gesetze ausfindig zu machen, welcher ihr zugrunde liegen“ (Schermer 2011, 42).

„Innerhalb der Charakterkunde hat sich ein Schwerpunkt gebildet, welches das Prinzip der ganzheitlichen Ordnung psychischer Fähigkeiten und Motive sowie das Prinzip der Einzigartigkeit von Personen in den Mittelpunkt gestellt hat. Dieser Schwerpunkt hat erst später einen eigenen Namen enthalten: Persönlichkeitspsychologie“ (Schönpflug 2013, 225).
Wilhelm Wundt (1832–1920) gründete 1879 in Leipzig das erste psychologische Laboratorium und gilt als der Vater der modernen und akademischen Psychologie. Auf Wundt geht der Begriff der Introspektion zurück, der Selbstbeobachtung bedeutet. Wundt verstand darunter die bewusste und systematische Beobachtung des eigenen Verhaltens und Erlebens. Um die Bedingungen dieses Beobachtungsvorganges kontrollieren zu können, setzte Wundt das Experiment ein, das es ermöglichte, psychische Vorgänge gezielt hervorzurufen, zu erzeugen und dann zu beobachten. Für Wilhelm Wundt stand die Erforschung der unmittelbaren Erfahrung im Zentrum der akademischen Disziplin der Psychologie:
„Ihre Aufgabe ‚besteht in der Erforschung dessen, was wir im Gegensatze zu den Gegenständen der äußeren Erfahrung […] die innere Erfahrung nennen: in unserem eigenen Empfinden und Fühlen, Denken und Wollen. Der Mensch selbst, nicht wie er von außen erscheint, sondern wie er unmittelbar sich selber gegeben ist – er ist das eigentliche Problem der Psychologie“ (Wundt 1919, 1).
Ebenfalls im 19. Jahrhundert beginnt die gezielte Beobachtung von Kindern. Wissenschaftlich, erzieherisch und literarisch interessierte Väter wie Jean Piaget und Charles Darwin veröffentlichen Beobachtungen über ihre Kinder. Hierbei wird bereits ein Grundstein für entwicklungspsychologische Forschung gelegt.
Insgesamt kann im 19. Jahrhundert – grob verallgemeinert – zwischen drei großen Strömungen der Psychologie unterschieden werden: 1. die empirische Psychologie, die Psychologie als Erfah rungswissenschaft begreift; 2. die verstehende Psychologie, die davon ausgeht, dass das Verständnis eines anderen Menschen aus der unmittelbaren Begegnung zwischen zwei Subjekten hervorgeht; und 3. die experimentelle Psychologie, die versucht, Aspekte der Wahrnehmung, der Motivation und des Gedächtnisses mittels erster psychophysiologischer Messungen zu untersuchen.
1.4 Zwischen Skinner, Freud und Piaget: Psychologie differenziert sich
Im 19. Jahrhundert hatte sich die akademische Psychologie zunächst als Wissenschaft vom individuellen Bewusstsein profiliert. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich nun drei theoretische Richtungen, die bis heute in der Psychologie und auch für die unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen eine wesentliche Rolle spielen: der Behaviourismus nach Skinner, die Psychoanalyse nach Freud und der Kognitivismus nach Piaget.
Als wichtigste Vertreter des Behaviourismus gelten die US-Amerikaner John Watson (1878–1958) und B.F. Skinner (1904–1990). Dem Behaviourismus zufolge muss sich die Psychologie auf die Beobachtung und die Veränderung von Verhalten beschränken. Innere Prozesse werden als nicht greifbare und wissenschaftlich erfassbare Vorgänge verstanden. Eine Grundidee des Behaviourismus besteht darin, dass sämtliches Können und alle Eigenschaften von Menschen auf Lernerfahrungen beruhen. Im Fokus steht also die Frage: Wie wird gelernt? Unterstützt wurde dieser Ansatz durch die unabhängig entwickelten Arbeiten des russischen Physiologen Iwan Pawlow (1849–1936), der durch seine Experimente mit Hunden entdeckte, wie Verhalten durch die Kopplung an Außenreize gesteuert werden konnte (s. Kapitel 3.6.1).
Sigmund Freud (1856–1938) als der Vater der Psychoanalyse legte mit seiner Idee, dass seelische Störungen ihren Ursprung in einer unbewussten Dynamik haben und auf ungelösten frühkindlichen, vornehmlich sexuellen Konflikten basieren, den Grundstein für psychodynamische Theorien und für die Behandlungsidee einer Art Sprechkur. Interessanterweise wird die Psychoanalyse an vielen deutschen psychologischen Fakultäten heute fast gar nicht mehr gelehrt, weil sie als unwissenschaftlich und nicht ausreichend empirisch belegt gilt; sie ist hingegen an religions- oder literaturwissenschaftlichen Lehrstühlen relativ präsent. Die Psychoanalyse stellt nach wie vor eine der bedeutsamsten Theorien über die menschliche Seele und deren Eigenarten dar und ist auch für die psychosoziale Handlungspraxis (s. Kapitel 6.4) relevant.
Als dritte große Richtung ist der Kognitivismus zu benennen, in dessen Zentrum die Theorie der Erkenntnis und das Bewusstsein im Sinne von Einsicht und Vernunft stehen. Einer der berühmtesten Vertreter des Kognitivismus ist der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980), der sich intensiv mit der Entwicklung geistiger Strukturen (s. Kapitel 2.6) befasste.
1.5 Die Rolle der Psychologie in der NS-Zeit und ihre Nachwirkungen
Die bedeutenden Entwicklungspsychologen Charlotte und Karl Bühler, der Wahrnehmungspsychologe Kurt Goldstein, der wichtige neuropsychologische Grundlagen schuf, Paul Lazarsfeld als der Ideengeber der Marienthalstudie, Max Wertheimer als Vater der Gestaltpsychologie, William Stern als Begründer der Persönlichkeitspsychologie und Erfinder des Intelligenzquotienten, Kurt Lewin als Schöpfer der Feldtheorie: Sie sind nur einige wenige Beispiele für eine Vielzahl von wegweisenden Psychologen, die während der NS-Zeit auf Grund ihrer jüdischen Herkunft oder abweichender politischer Überzeugungen ihre Stellung in Deutschland verloren oder emigrieren mussten.
Gleichwohl – die Geschichte der Psychologie in der NS-Zeit ist nicht nur die Geschichte der Verfolgung und Vertreibung ihrer Mitglieder. Sie ist ebenso eine Geschichte der Mittäterschaft. Darüber hinaus hat sich die Psychologie als eigenständige akademische Disziplin in dieser Zeit etabliert:
„Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Psychologie in Deutschland der NS-Herrschaft ihre Etablierung als eine eigenständige akademische Disziplin verdankt, losgelöst von Philosophie und Medizin. Mit der Einführung der Diplomstudienordnung für das Fach Psychologie im Jahre 1941 wurde ein Curriculum entwickelt, das der Psychologie nach dem 2. Weltkrieg die Einrichtung von Lehrstühlen für Psychologen erst ermöglichte (vgl. Geuter 1984a). Hierbei spielte die individuelle Anpassung aufgrund opportunistischer Erwägungen an die herrschende NS Ideologie ebenso eine Rolle wie der Versuch, die psychologischen Erkenntnisse der Diagnostik vor allem in der Wehrpsychologie und Berufsberatung nutzbar zu machen“ (Wolfradt 2017, 1f.).
Während der NS-Zeit arbeiteten nicht wenige Psychologen als Wehrpsychologen und profitierten von der damit verbundenen Verbeamtung. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP konnte dazu beitragen, eine gesicherte Anstellung an Universitäten oder anderen staatlichen Stellen zu erhalten. Auch bei der Entwicklung einer Rassenpsychologie wirkten Psychologen mit. Besonders populär waren in dieser Zeit psychologische Lehren, die biologischorganische Charakterologien propagierten und einen völkischen Gemeinschaftsgedanken betonten. Insgesamt war die Psychologie, die häufig mit der stark jüdisch geprägten Psychoanalyse gleichgesetzt wurde, den NS-Machthabern zwar suspekt, dennoch wurden z.B. völkische Rassegedanken von Psychologen in bestehende Persönlichkeitskonzepte integriert (Geuter 1985, Wolfradt 2017).
Es gibt einige Beispiele dafür, dass psychologische Wissenschaftler, die offensiv nationalsozialistisches Gedankengut vertraten, auch nach dem zweiten Weltkrieg wichtige akademische Positionen bekleideten. Hierzu gehört der bekannte Ausdruckspsychologe Philipp Lersch, der sich 1941 offen für das Euthanasieprogramm der Nazis ausgesprochen hatte, von 1942–1968 in München lehrte und von 1953–1955 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie war. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer, die sich zwar zeitweise mit der NSFührung überwarf, aber dennoch 1942 Charaktergutachten über polnische Kinder erstellte, die über deren mögliche Umerziehung oder auch potenzielle Vernichtung entschieden. Sie wurde 1961 zur Psychologieprofessorin in Gießen berufen und erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise.
Nur wenige PsychologieprofessorInnen wurden im Zuge der Entnazifizierung ihrer Hochschulämter enthoben. Insofern konnte gerade in den damaligen Westzonen von einer gewissen personellen und inhaltlichen Kontinuität von Lehre und Forschung seit der Zeit des Nationalsozialismus ausgegangen werden. Die seit 1941 bestehende und bis in das neue Jahrtausend fast unveränderte Diplomprüfungsordnung ist ein Ausdruck dieser Kontinuität (Häcker/Stapf 2009).
Während sich ansonsten in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende der 1980er Jahre im psychotherapeutischen Bereich tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, humanistische und familientherapeutische Verfahren nebeneinander entwickelten, dominierten in der ehemaligen DDR angelehnt an die sowjetische Ideologie zunächst Entspannungs- und Hypnoseverfahren. Psychoanalytische Verfahren waren verpönt, erst Anfang der 1970er Jahre lockerte sich dieses. Das Ausmaß an Bespitzelung durch PsychologInnen ist bis heute nicht bekannt, es ist aber gesichert, dass das Ministerium für Staatssicherheit Psychotherapeuten angeworben hat, um deren Patienten auszuspionieren (Sonnenmoser 2009).
1.6 Psychologie heute
Der Kanon der universitär gelehrten Psychologie besteht heute im Allgemeinen in der Lehre der Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, der allgemeinen Psychologie, der pädagogischen Psychologie, der klinischen Psychologie, der biologischen Psychologie und der Arbeits- und Organisationspsychologie (Röhner/Schütz 2012). In der Bundesrepublik entwickelte sich in den 1970er Jahren maßgeblich um Klaus Holzkamp (2003) an der FU Berlin zusätzlich die kritische Psychologie, die sich programmatisch die Reflexion gesellschaftlicher Zwänge zum Ziel gesetzt hatte und insofern eine besondere Nähe zu Ansätzen der Sozialen Arbeit aufweist.
Heute beschäftigt sich die psychologische Forschung mit einer Vielzahl von Themen. Aus Perspektive der Sozialen Arbeit sind z.B. Erkenntnisse aus der Traumaforschung, die u.a. die Entdeckung von Körpergedächtnissymptomen und innerfamiliärem Missbrauch als Verursacher komplexer posttraumatischer Stress-Syndrome (Cole/Putnam 1992, van der Kolk 2000, Fegert 2015) hervorbrachte, sehr interessant. Seit ein paar Jahren verändern Erkenntnisse über die Bedeutung epigenetischer Kontrollmechanismen (Roth/Strüber 2014) – d.h., dass auch erworbene Eigenschaften an nächste Generationen vererbt werden können – den Blick auf individuelle Entwicklungsbedingungen. Aber auch die Weiterentwicklung der Neurowissenschaften und der Psychoimmunologie – also wie psychische Mechanismen das Immunsystem stärken oder auch schwächen können – geben einen Ausblick auf die Verwobenheit körperlicher, seelischer und kontextueller Faktoren.

Schönpflug, W. (2013): Geschichte und Systematik der Psychologie. 3. vollst. überarb. Aufl. Beltz, Weinheim
Walach, H. (2013): Psychologie. Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. 3. überarb. und erw. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Wie werden die unterschiedlichen Temperamente laut den Safttheorien beschrieben?
Differenzieren Sie empiristische, rationalistische und hermeneutische Zugänge zu Erkenntnis.
Worin unterscheidet sich die allgemeine von der differentiellen Psychologie?
Skizzieren Sie die unterschiedlichen grundsätzlichen Fragen, die den Behaviourismus, die Psychoanalyse und den Kognitivismus beschäftigen.
2 Entwicklungspsychologie

„Entwicklungspsychologen versuchen herauszufinden, wie Menschen sich unter verschiedenen Rahmenbedingungen entwickeln. Sie beachten dabei verschiedene Dimensionen, z.B. die kognitive, emotionale oder soziale Entwicklung. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei, möglichst allgemeine Entwicklungsgesetze zu entdecken und die unterschiedlichen Bedingungen für gelingende Entwicklungsverläufe zu erfassen“ (Wälte et al. 2011, 15).
Ganz allgemein kann man sagen, dass sich Entwicklungspsychologie mit Veränderungen und Stabilitäten des menschlichen Erlebens und Verhaltens beschäftigt. Dabei betrachtet sie die innerhalb eines Individuums ablaufende Entwicklung (intraindividuell) und die Entwicklung mehrerer Menschen im Vergleich (interindividuell). Anhand des folgenden Fallbeispiels sollen die Nützlichkeit und Notwendigkeit entwicklungspsychologischer Kenntnisse in der Praxis der Sozialen Arbeit dargestellt werden:

Um Lisa unterstützen zu können, muss die Sozialarbeiterin u.a. die besonderen Entwicklungsbedingungen, die Lisa geprägt haben, verstehen und einordnen können. Auf welchem Entwicklungsstand ist Lisa, und wie stellt sich dieser im Vergleich zu anderen Kindern dar?
Im Falle von Lisa sind relevante Rahmenbedingungen z.B. ihre frühe Geburt in der 25. Schwangerschaftswoche und der Drogenkonsum ihrer leiblichen Mutter einerseits und die sehr gute und stabile Bindung an die Großmutter sowie die diversen Förderungen durch Physio-, Ergo- und Logopädie andererseits. Lisa entwickelt sich in den einzelnen Funktionsbereichen (sozial, kognitiv, emotional, motorisch) unterschiedlich; so ist sie kognitiv ihrer Spielkameradin überlegen, im sozialen Bereich hingegen hat sie noch Nachholbedarf. Warum diese Aspekte aus entwicklungspsychologischer Perspektive relevant sind und warum die Fachkraft aus der Sozialen Arbeit sie benötigt, um Lisa und ihre Familie adäquat in ihrem Umfeld unterstützen zu können, wird in den folgenden Kapiteln deutlich.
2.1 Entwicklungspsychologie in der Sozialen Arbeit
Entwicklungspsychologische Kenntnisse sind im Feld der Sozialen Arbeit vor allem aus zwei Gründen hoch relevant. Der erste Grund bezieht sich auf die lebensalterbezogenen Bedürfnisse und auf anstehende Entwicklungsaufgaben. Der Psychoanalytiker Erik Erikson (1902–1994) entwarf ein Stufenmodell psychosozialer Entwicklung (Erikson 1988), bei dem er jedem Lebensalter bestimmte Themen zuordnete, die im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und den umweltbedingten Anforderungen entstehen. Im ersten Lebensjahr manifestiert sich dieses Spannungsfeld beispielsweise zwischen Ur Vertrauen vs. Ur Misstrauen, d.h., in dieser Phase entscheidet sich, ob das Kind von seiner Umwelt so getragen und versorgt wird, dass es ein grundsätzliches Vertrauen in menschliche Beziehungen entwickeln kann. Auch wenn die von Erikson beschriebenen Stadien auf Grund der heutigen Diversität von Biographien mittlerweile sehr normativ erscheinen, sind viele der genannten Spannungsfelder nach wie vor aktuell und werden von aktuellen bindungstheoretischen Befunden (s. Kapitel 2.3) gestütztss.
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde erstmals von Robert J. Havighurst (1948/1982) beschrieben und betrachtet das Leben unter dem Fokus einer Abfolge von zu bewältigenden Anforderungen. Anstehende Entwicklungsaufgaben werden im Wechselspiel zwischen äußeren bzw. inneren Anforderungen von Kindern und Jugendlichen je nach der physischen Reife, des kulturellen Drucks und individueller Zielsetzungen und Werte gelöst (Petermann et al. 2004, Resch 1999). Das erfordert die Fähigkeit zur Selbstregulation, d.h., Kinder und Jugendliche müssen sich angesichts der Konfrontation mit den unterschiedlichen Anforderungen immer wieder mit bestimmten Gefühlen – z.B. Überforderungsgefühle,Ängste – auseinandersetzen und dennoch handlungsfähig bleiben.
Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber auch bei der Arbeit mit älteren Menschen sind also bestimmte von den Klienten zu leistende Entwicklungsaufgaben zu berücksichtigen. Bei kleineren Kindern, wie bei Lisa, zählt die Integration in die Kindergartengruppe dazu, bei Schulkindern der regelmäßige Schulbesuch und eine Konzentrationsleistung über 45 Minuten und bei Jugendlichen eine zunehmende Verselbständigung. In der Phase der Adoleszenz vollziehen sich komplexe körperliche, geistige und seelische Veränderungen, die einen Übergang zum Erwachsenwerden markieren (Fend 2013). Dazu zählen neben Ablösung und dem Eingehen neuer Bindungsbeziehungen u.a. auch die Aufgaben von Bildungsnotwendigkeit und Qualifikation, die Entwicklung einer Zukunftsperspektive, von Verantwortlichkeit, von Partizipation, sprich der Ausbildung eines ethischen und politischen Bewusstseins (Albert et al. 2010, Resch/Lehmkuhl 2015). Bei älteren Menschen zählt die Auseinandersetzung mit dem drohenden oder bereits erfolgten Verlust bestimmter Fähigkeiten zu den zentralen Herausforderungen (Lindenberger 2012); darüber hinaus kann aber auch die Ausbildung von Generativität eine wichtige Entwicklungsaufgabe in diesem Lebensabschnitt darstellen:
„Gemeint ist die aktive Sorge um die nachfolgende Generation mit der angestrebten Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und Chancen. Dies beinhaltet die Fähigkeit, von sich selbst absehen zu können, für andere da zu sein und das erworbene Wissen und die Erfahrungen in eine Art ‚Weltverbesserung‘ einzubringen“ (Rass 2011, 156)
Diverse biologisch, psychologisch oder sozial bedingte Gründe können dazu führen, dass Menschen Schwierigkeiten haben, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Diese Schwierigkeiten bestimmen zu einem nicht geringen Anteil den Unterstützungsbedarf durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Störungen in der Entwicklung oder auch manifeste psychische Störungen können insbesondere bei Kindern und Jugendlichen oftmals als Ausdruck von Überforderung verstanden werden, wenn die erforderliche Selbstregulation unter komplizierten und vielschichtigen inneren und äußeren Umständen nicht mehr symptomfrei geleistet werden kann (Resch 1999, Metzmacher 2004).
„Aus dem Blickwinkel der Entwicklungspsychopathologie liegt der Schlüssel für das Verständnis einer gegebenen Störung darin, sie vor dem Hintergrund der wesentlichen Themen derjenigen Entwicklungsperiode, in der sie auftritt, zu betrachten, und nach misslungenen Anpassungsversuchen die wesentlichen Themen dieser und/oder früherer Entwicklungsperioden zu suchen“(Marvin 2003, 111f.).
Störungen können somit auch als „kompetente Lösungsversuche“ (Marvin 2003) angesehen werden, um sehr ungünstige Umweltbedingungen individuell zu kompensieren. Bei Lisa kann ihre soziale Zurückgezogenheit z.B. als Versuch angesehen werden, sich selbst am besten zu schützen; auch diese Komponente sollte bei der Auswahl möglicher Hilfen berücksichtigt werden.