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Auch das Ungeheuer hielt, o Wunder, ein. Eine magische Barriere hatte sich um das gesamte Schlachtfeld errichtet. Es war eine kalte, helle und reine Kraft, die den Dämon abhielt, Odysseus den Kopf abzubeißen. Der Abgott wirbelte erstaunt herum. Nur um zu sehen, wer das Ungeheuer so plötzlich in Schach hielt. Und da stand Hektor voller Entschlossenheit über ihm am Deck der Galeere. Seine sonst so schönen und freundlichen braunen Augen hatten einen unnatürlichen Glanz angenommen. Sie erschienen beinahe schwarz und leer. „Ich würde vorschlagen, du tust, was er sagt, Dämon! Lass ihn los! Sofort!“ Hellblaue und weiße Flammen schlugen aus dem Grund hervor. Der Trojaner hielt in der einen Hand den wuchtigen Schild und in der anderen ein Amulett. Darin befand sich ein Stein von milchiger Farbe. Wie ein Bruchteil des Mondes erschien er den Menschen. Der Dämon wandte sich nun direkt an Hektor. Ein greller gelber Blitz flackerte in den Augen des Biestes.
Die Barriere zerbrach wie ein Weinglas. Der mit Stacheln übersäte Schwanz schlug gegen das Eisen und zerfetzte es mit einem einzigen Schlag. Hektor stand bestürzt und völlig entgeistert da. Die seltsame Aura war verschwunden, sein Blick wieder gewöhnlich und er wirkte etwas überfordert. Entsetzt sah er auf den zertrümmerten Schild hinab. Dann ging alles ganz schnell, sodass niemand reagieren konnte. Der Dämon fuhr, gleich einer riesigen bösartigen Wespe, einen Stachel aus. Mit den restlichen Fangarmen fixierte er Hektor und trieb die scharfe Spitze durch dessen Schulter. Warm lief das Blut über seine Haut. Die Verletzung tat entsetzlich weh, doch der Trojaner griff abermals nach dem Amulett. Er hatte es bei dem Angriff fallen gelassen, sodass es nun funkensprühend vor ihm lag. Wieder wurde der Dämon durch diese Macht gehindert. Und wieder versuchte er die Taktik mit dem Licht. Da kam ihm Achilles zuvor. Er war sehr geschickt. Den Speer immer noch mit der Rechten gepackt, spurtete er los. Im Vorbeirennen riss er bei seinem Kampfwagen den Seitenspiegel ab. „Mal sehen, was dieses Scheusal dazu sagt, wenn wir das Licht gegen es selbst wenden.“ Gesagt, getan. Hektor kniete, sich vor Schmerzen krümmend, am Boden. Die Finger um die Verletzung geklammert, hielt er dennoch tapfer die Barriere aufrecht. Das magische Artefakt war offenbar immer noch mächtig genug, das Untier aufzuhalten. Da riss Achill den Spiegel hoch. Dieser war zwar nicht größer als ein herkömmliches Taschenbuch, die Wirkung jedoch war erstaunlich. Hätte der Dämon seinen Blick weit gestreut und das vernichtende gelbe Licht über all seine Opfer ausgebreitet, wäre es heute mit allen Beteiligten aus und vorbei gewesen. Doch er hatte den Fehler begangen, sich ganz auf das Amulett zu konzentrieren. Die geballte Energie, die ausgereicht hätte, die gesamte Bevölkerung von Florenz und Mantua zu vernichten, wurde zurückgeworfen. Der Bergdämon fiel durch seine eigene Waffe. Kaum erlosch dessen Lebenslicht, holte der Abgott mit seinem Wurfgeschoss aus und stieß es in den weit aufgerissenen Schlund. Er war dazu hoch in die Luft gesprungen und sah nun zufrieden, wie das Biest explodierte. Doch die Freude kam zu früh, die Körperteile flogen dampfend in alle Himmelsrichtungen davon. Eine widerliche Brühe, in der Klauen, Zähne, Mageninhalt und Organe schwammen, verteilte sich bis hin zum Waldrand. Die Menschen waren durchnässt vom schwarzen Blut des Dämons. Telemachos lief jedoch sofort zu seinem Vater. Selbiger war wieder bei Bewusstsein und betastete sein verletztes Bein. Mit der Hilfe seines Sohnes war es ihm gelungen, sich zu erheben. Dieser drehte sich zu den Zwillingen. „Bitte gebt mir noch mal etwas von diesem Stärkungstrank von vorhin.“ Jenen hatte Romulus ihnen verabreicht, damit die jungen Männer nicht gleich kollabierten. Auch dieses Mal war er sehr großzügig mit dem Getränk. „Wunden heilt es zwar nicht direkt, aber unnütz ist es auch nicht.“ Alle tranken ein paar Schlucke aus der Feldflache. Währenddessen beugte sich Achill mit zunehmendem Interesse über einige Teile des Bergdämons. Er stellte fest, dass manche davon furchtbare Ähnlichkeit mit den Lindwürmern aufwiesen. „Der Dämon ist doch ein Geschenk des Unternehmens Minos & Co., wenn mich nicht alles täuscht?“, fragte er, immer noch die zerteilten Gliedmaßen betrachtend. „Du meinst, Aietes und sein Schwager stecken hinter dieser Niederträchtigkeit?“, fragte Pat. „Das würde jedenfalls zu seinen sonstigen Aufmerksamkeiten passen“, meinte Odysseus, mit Streifen seines Mantels seinen Oberschenkel verbindend. Achilles schnaubte. „Das entbehrt ja jeglichen zivilisierten Anstands! Sieben Höllen, man hetzt doch heutzutage keine mutierten Drachen mehr auf die Bürger.“ Da nickten alle zustimmend. So etwas war wirklich gegen jedwede Regeln. Nach Familienmord, Leichenschändung und Geldwäsche das Verwerflichste, das man tun konnte. In der Unterwelt gab es nicht viele Gesetze, doch die wenigen waren heilig. Auch wenn Griechen wie Trojaner sich nicht immer ganz daranhielten, gab es doch so etwas wie Grenzen. Irgendwo war selbst in einem Krieg schließlich Schluss. Abgesehen davon machte es dann doch einen erheblichen Unterschied, ob man sich auf der Agora prügelte oder mit einer Vernichtungswaffe das Land verheerte. Das war eine Angelegenheit von Gleichstellung, ganz klar. Auf eine Seeblockade konterte man meist mit einer Zollverstärkung. Somit waren alle möglichen Konflikte und Intrigen bisher relativ überschaubar geblieben.
„Was war das überhaupt für ein seltsames gelbes Licht, das alles Lebendige sofort lähmt?“, fragte Odysseus. Darauf hatte niemand eine Antwort parat. Plausibel schienen viele Vermutungen, doch es hatte bisher noch keinen gegeben, der wusste, wie Aietes seine Drachen eigentlich erschuf. Möglich war folglich alles. Denn niemand konnte etwas Genaues über diesen gefürchteten Meisterzauberer sagen. Es gab schlichtweg nur Gerüchte, die immer abstruser wurden, je länger man sich mit ihnen auseinandersetzte.
Ende von Kapitel eins
„Wir haben nichts gemeinsam.“ Achills Worte spukten noch lange in seinem Kopf herum.
„Bist du wirklich dieser Ansicht?“ Fragend sah Hektor den Blonden an. „Sicherlich, Prinzlein!“ Ehe er sich’s versah, hatte der Abgott ihn niedergerungen und drückte ihn nun mit seinem Körpergewicht zu Boden, obgleich er sich wild sträubte. „Weißt du, manchmal hätte ich nicht übel Lust, dir hiermit dein hübsches Gesicht zu zerschneiden.“ Als Bestätigung hob er ein Messer in die Höhe. Langsam strich er mit der Klinge über das weiche Fleisch unter sich. Mit gelassener Grausamkeit drückte er am Hals kurz zu, wo vom Herzen her die große Ader fließt. Doch er war sehr darauf bedacht, ihn nicht zu töten. Jedenfalls noch nicht. Zuerst wollte er seinen Spaß mit dem anderen haben. Ihn quälen und still verzweifeln lassen, ja, so würde er es handhaben. Hektor sah ihn nur starr aus seinen braunen Augen an. Es war keinerlei Furcht darin zu lesen. Woraufhin Achilles sich wieder zurückzog. Den Trojaner einfach umzubringen wäre viel zu einfach gewesen. Nein, für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass dies hier die letzte Nacht sein würde, wollte er mit ihm spielen. Wie ein Raubtier mit der Beute. Nun ging es nur noch um Macht. Das Begehren nach Ruhm und Ehre war für den Blonden zweitrangig geworden. Ihn wurmte es, dass der andere so erbitterten Widerstand leistete. Aber wenn Hektor es unbedingt so wollte, würde er ihn eben mit Gewalt brechen, bevor er ihm die Kehle aufschlitzte. Die Willensstärke betreffend waren sie sich ausnahmsweise ebenbürtig. Achilles war arrogant und stur, Hektor war stolz und zielstrebig. Doch Achill war göttlicher Abstammung und Hektor nur ein Sterblicher.
Das Feuer loderte erneut auf. Schwach, sehr schwach war es geworden. Der Wind fegte eiskalt über sie hinweg und zerschellte an der Felswand. Der Abgott drehte das Messer zwischen seinen Fingern. Sein Gefährte neben ihm zitterte leicht, ob aufgrund der Temperaturen oder des Fiebers, konnte er nicht sagen. „Ich will dir das einmalige Angebot machen, einen Kampf ohne herkömmliche Waffen zu führen. Ein Gefecht allein um Stärke und Macht.“ Den Peliden reizte der Gedanke durchaus, seinen Feind später flehend und bettelnd zu seinen Füßen zu sehen. Er genoss es einfach zu sehr, wenn andere ihm unterlegen waren. „Wir beide brauchen schließlich nichts, um uns gegenseitig in Stücke zu reißen, nicht wahr, Hektor? Ich verspreche dir auch einen schnellen und schmerzlosen Abgang.“ – „Und für den Fall, dass ich dein, sehr bescheidenes’ Angebot ausschlage?“ Achilles lächelte spöttisch. „Oh, falls du nicht darauf eingehst, schneide ich dir hiermit die Waden auf, ziehe Seile hindurch und hänge dich an die Felswand. Und glaube mir, ich werde warten, bis du elendig verreckt bist.“ Was für eine wunderbare Auswahl. „Für mich kommt so oder so das gleiche Resultat zustande. Also wozu, Pelide?“ – „Nein, nein, ich verspreche gar nichts. Es geht mir allein um das Spiel. Aber wenn du möchtest, gebe ich dir eine kleine Chance zu gewinnen.“ Er lächelte finster. „Gut“, nickte der Brünette. „Nun, dann lass uns beginnen.“ Er wirkte sichtlich zufrieden. Insgeheim wusste er, wie sein Gegenüber sich entscheiden würde. Starke Hände packten das Gesicht des Verletzten. Ihre Blicke trafen sich und beide wünschten, den jeweils anderen allein damit zu erdolchen. „Wir haben nichts gemeinsam. Nicht das Geringste ließe sich an uns vergleichen. Wer auch immer aus diesem Kampf als Sieger hervorgeht, wird den Verlierer nach seinem Belieben töten. Es kann schließlich nur einer von uns weiterleben. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir einfach dazu geboren wurden, Feinde zu sein“, sagte Achilles leise und mehr zu sich selbst. Recht viel länger würde er es mit dem anderen jedenfalls nicht mehr aushalten. „Eine Frage, bevor wir anfangen, uns mit Argumenten und Ansichten zu zerfleischen: Was ist dein werter Einsatz?“ Achilles überlegte. „Wenn du hier gewinnst, Trojaner, darfst du überall herumerzählen, dass du mich besiegt hast.“ Überraschung zeichnete sich im Gesicht des anderen Mannes ab. „Obgleich das sonst nicht meine Art ist, will ich fair mit dir sein, und schließlich ist ein leichter Sieg ziemlich langweilig. Die Frist läuft bis zu den ersten Sonnenstrahlen.“ Hektor nickte abermals und stählte seinen Geist. „Sehr schön“, flüsterte Achill. Dann beugte er sich vor und ergriff Hektors Handgelenke. Den Griff intensivierend leckte er fordernd über dessen Kieferknochen, danach den Hals und den Nacken hinunter, wo er sich verbiss. Zuerst leicht, dann immer fester und gewalttätiger, bis er einen kaum merklichen Ton des Schmerzes vernahm. Das Feuer erleuchtete ihre Gesichter, die nur eine Handbreit voneinander entfernt lagen. „Diese Runde geht an mich“, schnurrte Achill kalt und amüsiert, worauf Hektor ihm aus reinster Verachtung ins Gesicht spuckte. Mit fahrigen Bewegungen wischte der Pelide sich den Speichel von der Wange. „Sieh an, sieh an, dein Kampfgeist ist zurück. Dachte schon, er ist erstickt, nachdem du so apathisch hier sitzt.“ Er liebte Herausforderungen und Wettkämpfe einfach zu sehr. Mit der rechten Hand holte er aus, doch dann zögerte er. „Nein, schlagen werde ich ihn nicht, sonst könnte es passieren, dass ich mich selbst dabei vergesse. Lieber eine weitere Frage, ja, die tut’s auch.“ Kurz war wieder Stille. Dann verlangte der Abgott, dass der Sterbliche ihn ansah. „Du hast schöne Augen, so warm und braun wie Schokolade“, zischte er mit gefährlichem Unterton. Hektor wusste, dass er etwas auf diese falsche Freundlichkeit erwidern musste, wenn er nicht schon nach der ersten Runde ausscheiden wollte. „Und deine sind so kalt wie Eis und Schnee“, konterte er emotionslos. Achilles umfasste die Wunde des anderen. Seine groben Finger pressten sich rücksichtslos in die Verletzung. Hektor fieberte wieder etwas stärker, als ihn der Schmerz durchzuckte. Jede Bewegung würde ihm jetzt wohl noch mehr Qualen bereiten. „Das war nur eine Feststellung und noch keine meiner Fragen.“ Ein raues Lachen ertönte. „Verwundert mich, Grieche, dass du jemals unbefangen bist.“ Achilles kostete es nur ein mildes, überhebliches Grinsen. „Du wärest erstaunt.“ Dann stand er auf und ging zu einem übrig gebliebenen Bündel, dem er zwei Stücke Brot entnahm. Der Blonde kehrte zurück und bot dem Gegenspieler Essen und Trinken an. Dann biss er selbst in das Roggenbrot, das er mit einem Schluck Wein hinunterspülte. Der jedoch schmeckte verdächtig nach Abbeizmittel. Wie hatte das alles nur so eskalieren können?
Zweites Kapitel
Nimbus
Nach dem Kampf gegen den Bergdämon machten sich Griechen und Trojaner einträchtig auf den Heimweg. „Von euch hat auch keiner Paris gesehen?“, fragte Hektor die Männer aus Ithaka. „Sieben Höllen, nein. Die Begegnung ist mir glücklicherweise erspart geblieben“, bemerkte Odysseus und verdrehte die Augen. „Da heißt es immer, die Welt ist so furchtbar und schlimm. Aber wenn ich mir die Aktionen deines Bruders zu Gemüte führe, tut mir eher die arme Welt leid.“ Der Trojaner nickte zustimmend. „Die reinste Landplage ist er, und ich habe ernsthaft den Verdacht, dass er meiner geliebten Dido nachsteigen will“, zischte Aeneas. Hektor schnaubte leicht. „Also ist er verschwunden, und keine Menschenseele weiß, wohin.“ Auf diese Folgerung hin empörte sich sein Schwager abermals. „Auf Paris ist einfach kein Verlass mehr.“ – „Da erzählst du ja ganz was Neues. Auf den hat man sich schon vor 3000 Jahren nicht verlassen können.“ – „Dann verstehe ich nicht, wieso du ihn nicht hochkant und umgehend rauswirfst! Glaube mir Hektor, der größte Schaden wird’s schon nicht sein.“ – „Ach Aeneas, wenn ich jeden rausschmeiße, der mir nicht in den Kram passt, komme ich billiger davon, wenn ich mir gleich eine eigene Wohnung nehme.“
Sie warfen sich vielsagende Blicke zu. Der junge Remus war jedoch anderer Meinung. „Ich bin trotzdem dafür, dass wir ihn suchen sollten. Womöglich steckt er in Schwierigkeiten.“
Die beiden Älteren musterten ihn missbilligend. „Der wird in Schwierigkeit stecken, wenn ich ihn erst erwische. Vergiss nicht, dass er gestern meinen Wagen gestohlen und mein Konto leergeräumt hat. Meine Bruderliebe in allen Ehren, aber irgendwie sollten wir doch wenigstens die Heizkosten für den Winter abdecken können. Ich für meinen Teil möchte jedenfalls nicht den Erfrierungstod sterben.“ Die Zwillinge schwiegen. Eigentlich hatten sie als Einzige Paris sogar etwas gern. Er war immer gut gelaunt, für jeden Schabernack zu haben und nicht so forsch wie Hektor oder aufbrausend wie Aeneas. Doch es stimmte, dass die meisten Probleme, die sie heute hatten, Paris zuzuschreiben waren. „Was hältst du übrigens von dem neuen Hauswärmesystem, das ich mir einfallen ließ?“, fragte Romulus unverblümt. „Ah ja, die Hypokausten-Heizung, ich weiß schon. Ich verspreche dir, ich werde drüber nachdenken“, versicherte ihm der Anführer der Trojaner. Remus biss verlegen auf seiner Unterlippe herum. Die Tatsache, dass selbst Hektor die Sache mit seinem Bruder mehr oder weniger abgeschrieben hatte, war bedenklich. Sollten sie als Familie denn nicht zusammenhalten? Doch schwarze Schafe und Unglücksraben gab es wohl überall, und Paris stellte in der Beziehung den absoluten Hauptgewinn dar. Das wussten auch die Griechen, die erstaunt darüber waren, dass die Trojaner wirklich erwogen, den Missratenen und Verächtlichen in die Verbannung zu schicken.
Achills Brauen wanderten nach oben. „Ich habe euch gar nicht zugetraut, dass ihr so hart und skrupellos durchgreifen könnt.“ – „Am liebsten würde ich ihn morgen gleich auf einer einsamen Insel aussetzen, falls ich nicht am Ende derjenige wäre, der die Quittung dafür erhält. Abgesehen davon graut es mir eher davor, was er alles anstellen könnte, wenn uns die Kontrolle über ihn endgültig entgleitet“, lachte Hektor grimmig. „Mittlerweile bin ich so weit, dass ich überlege, diese gesamte Angelegenheit sich selbst zu überlassen und mich einfach abzusetzen.“ Die übrigen Trojaner schluckten. „Aber es wäre feige, und ich habe schließlich auch noch eine Familie, um die ich mich kümmern muss. Da stelle ich meine Interessen eben hintenan, davon abgesehen, dass die sowieso noch nie jemanden interessiert haben. “ Er ließ die glotzenden Gefährten einfach stehen und trabte stur weiter, ohne auf mögliche Einwände zu hören.
Odysseus hielt unterdessen immer noch eine Drachenklaue in der Hand, die er mitgenommen hatte. Nachdenklich drehte und wendete er das abgerissene Körperteil, um es zu begutachten. „Dem werde ich es heimzahlen. Niemand entführt meinen Filius und schleudert mir ungestraft eine Brandbombe durchs Haus“, erklang seine Stimme hart und kalt. „Nun, wenn wir sie schon nicht wegen Körperverletzung und Sittlichkeitsbruch drankriegen, dann wenigstens wegen Vandalismus“, meinte Achilles. „Ha, und wo willst du Minos verklagen, beim Obersten Gerichtshof, dessen Richter er selbst ist?“ Darauf wusste auch Achilles keine Antwort. „Du bist der Denker von uns beiden, Odysseus. Lass dir eine schöne List für unsere Rache einfallen.“
Plötzlich ertönte ein Schrei, und Achill stürzte geradewegs in einen Abgrund. Der Erdboden, auf dem sie standen, war trocken und spröde. Ehe sich’s der Abgott versah, fand er sich ein Stockwerk tiefer am Grund einer Schlucht wieder. Hektor und der König von Ithaka beugten sich vorsichtig über den Rand. Das jedoch hätten sie besser unterlassen, denn der Fels brach, und mit lautem Getöse fielen auch sie hinterher. Aeneas gelang es gerade noch, die Übrigen wegzureißen. „Hektor! Odysseus! Sofort runter von mir! Ihr drückt mir ja die Rippen entzwei!“, keifte Achilles verärgert. Doch außer ihnen war noch jemand hier unten. „Achilles, bist du das?“, sprach eine Stimme aus der Dunkelheit. Der Abgott rappelte sich auf seine schlanken und schnellen Beine, um dem Ruf nachzugehen. „Paris!“ Hektor rannte zu ihm und umarmte ihn. „Bei Phoebus Apollon, was hast du jetzt wieder fabriziert? Ich habe mir verdammt große Sorgen um dich gemacht, Brüderchen.“ Paris sah mit seinen schönen Gesichtszügen und den großen Augen zu ihnen auf. „Ich wollte für Helena einkaufen gehen, so als Versöhnungsgeschenk, du weißt schon. Ich fahre also friedlich mit dem Wagen los, und ganz plötzlich verschwindet das Erdreich unter mir. Dann bin ich hier unten ein wenig umhergelaufen, bis ich in diesem blöden Loch hängengeblieben bin. Ich habe lange gebrüllt, doch es wollte keiner kommen, und dann habe ich euch gehört.“ Die Älteren sahen auf. Die Geschichte des tollpatschigen jungen Paris schien sie ziemlich zu amüsieren. Ein paar gehässige und anmaßende Bemerkungen fielen. „Unverschämtes Glück war das. Bist du verletzt?“ – „Nein, ich glaube nicht, Hektor. Wärst du nun bitte so freundlich, mir aufzuhelfen?“ Dessen Augen blitzten unverwandt und wütend auf. „Vorher gibst du mir mein Geld zurück. Und unterstehe dich ja, dich noch einmal ungefragt an meinen Sachen zu bedienen.“ Paris sah ihn mit seinem unwiderstehlichen Welpen-Blick an. „Das Schmollen kannst du dir schenken.“ – „Entschuldige, Hektor“, flüsterte er.
Starke Arme packten ihn und zogen sein Bein aus dem tiefen Spalt. Kaum stand er wieder auf festem Untergrund, schlug ihn der Ältere mit der Faust gewaltsam nieder. „Dafür entschuldige ich mich nicht!“ Der jüngere Trojaner mit den schwarzen Locken und dem ansehnlichen Körper starrte ihn geschockt an, als er bemerkte, dass Blut aus seinen Nasenlöchern rann. „Heul nicht gleich los, Jungchen“, zischte Achill ihm zu und lachte schadenfroh. „Das ist dafür, dass du den Wagen genommen hast. Meinen Wagen, möchte ich wohl betonen.“ Hektor sah ihn abfällig an und betrachtete danach wehmütig die Überreste des Fahrzeugs und die zwei toten Pferde. Paris reichte ihm zerknirscht einen Beutel mit Münzen. „Sehr brav, Bruderherz, und nun sollten wir alles daranlegen, wieder ans Tageslicht zu kommen, sofern niemand etwas Gegenteiliges einzuwenden hat.“ Dieser Entschluss erschien allen als das Vernünftigste. Zumindest fiel in dieser Situation auch den Griechen nichts Besseres ein. Achilles ging voraus, sich vorsichtig an der Wand entlang hangelnd, jeden Millimeter mit den Händen abtastend. Der Fels war rissig und sehr rau. Ihm folgten Hektor und Odysseus. Paris lief als Letzter hintendrein. Um sie herum nichts als nasser und kalter Stein. „Au, du stehst auf meinem Fuß!“, fauchte Achilles böse in Hektors Richtung. „Dann geh gefälligst weiter, wenn’s genehm ist, Pelide!“, kam eine patzige Antwort. Odysseus stöhnte entnervt auf. Eine schöne Bescherung war das in der Tat. Langsam verbreiterte sich der Weg und teilte sich in vier Pfade auf, die abschüssig ins Innere führten. „Da vorne ist eine Gabelung!“, stellte Paris fest, für den Fall, dass es noch keinem aufgefallen war. „Ist nicht wahr, und die Erde ist in Wirklichkeit auch keine Scheibe, Brüderchen!“ Worauf Achilles ein hartes Lachen ausstieß. Offenbar war der Anführer der Trojaner doch nicht so humorlos, wie er immer dachte. „Echt jetzt?“, fragte Paris etwas irritiert. Die Griechen brüllten los und lachten. Hektor schüttelte den Kopf über so viel Unwissen. „Große Güte, Paris. Jedes Kind weiß, dass die Welt rund ist“, sagte er gepresst, denn offenbar riss ihm bald der Geduldsfaden über die Hirngespinste des Verwandten. „Burschen, wollen wir wieder einmal zur Sache kommen? Wie Paris schon,messerscharf’ analysiert hat, trennen sich hier unsere Wege.“ Der Ernst in seiner Stimme ließ selbst Achilles das Lächeln auf den Lippen ersterben. „Teilen wir uns also auf, und falls einer von uns rauskommt, holt er sofort Unterstützung!“, entschied der König von Ithaka ganz undiplomatisch. „Gut, dann muss ich eure Visagen nicht mehr sehen“, schnalzte Achilles mit der Zunge, und weg war er.
Hektor und Paris sahen ihm lange nach. Er hatte einen der mittleren Wege gewählt, weshalb Paris sich nach rechts wandte und die anderen beiden nach links. Im Untergrund verlor Odysseus bald jedes Zeitgefühl. Er orientierte sich eher am Hungergefühl in seinem Magen, der ihn mürrisch daran erinnerte, dass bald ein Mittagessen fällig sei. Nach schätzungsweise einer Stunde, in der er über breite Felsen gestakst war, kam Übelkeit in ihm hoch. Seit fast fünf Monaten hatte er sich nur von Rübeneintopf ernährt. Auf Dauer konnte so eine unfreiwillige und vegetarische Diät nur schiefgehen. Plötzlich blendete ihn ein Licht. Es war gleißend hell und doch kein Tageslicht. Tausende Kristalle schimmerten um ihn herum. Sie leuchteten und glitzerten in allen erdenklichen Farben. Mal verfärbten sich die Nuancen und Schattierungen, sobald man an ihnen vorbeiging, oder sie gaben klirrende Töne von sich. Odysseus musste an ein Glockenspiel denken, das leise klimperte. Er war so überwältigt von den vielfältigen Sinneswahrnehmungen, dass er einfach stehen blieb und staunte. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und diesen Anblick würde er auch nicht so schnell wieder vergessen. Da hörte er auf einmal Stimmen. Sie kamen ihm bekannt vor, und augenblicklich wünschte er sich, er hätte lieber nichts vernommen. Es war gruselig. Wirklich unheimlich, als ob sie ihn verfolgen würden. Mit äußerster Vorsicht spähte er um die nächste Biegung, nur um dahinter seine schlimmsten Befürchtungen mehr als bestätigt zu sehen.
Der Weg mündete in eine weitere Höhle vom Ausmaß einer Basilika. Dort ragten viele kleinere Kristalle leuchtend aus dem Boden, sodass sie wie Fliesen aussahen. Eine steile Treppe führte auf ein Felsplateau. Darauf thronte ein mächtiges und steinernes Portal – zu dessen Fuße niemand anderes als König Minos saß. Vor ihm ging sein Schwager unruhig auf und ab. Derbe Wortfetzen von sich gebend fuchtelte er mit den Händen durch die Luft. „Aietes, jetzt entspann dich mal.“ – „Ich werde nicht zulassen, dass das Haus dieser Hurensöhne aus Ithaka weiterbesteht!“ Minos erhob sich. „Du musst mal lernen, gelassen zu bleiben. Wir haben ja alles unter Kontrolle. Mit diesem wertlosen Bauerntrampel werden wir uns später beschäftigen. Mir geht es einzig um das Amulett. Und darf ich dich daran erinnern, dass du sie alle hast entkommen lassen?“ Ein Schatten erschien auf seinem Gesicht. Nicht ohne Vorwurf fuhr er fort: „Tja, da hättest du besser aufpassen müssen, Idiot. Nun ist es zu spät. Diese korrupten Trojaner haben es in ihre dreckigen Hände bekommen, und was willst du dagegen tun?“ Da lächelte er den Drachenfürsten an. „Hier in diesen Stollen liegt die Lösung. Die höchsten magischen Errungenschaften werden hinter dieser Tür verwahrt. Folglich sind wir am Ziel. Sobald die Macht des olympischen Feuers auf uns übergegangen ist, hält uns niemand mehr auf. Diesen lästigen Abschaum fegen wir dann anschließend ganz nebenbei vom Spielfeld in die Vergessenheit.“ Minos ließ seinen Blick siegessicher durch die Halle schweifen. „Ich, liebster Schwager, habe versucht, mit meinen stärksten Sprüchen das Portal aufzubrechen, doch es will mir bislang nicht gelingen. Mir schwant, dass wir dafür doch das Amulett benötigen“, gab Aietes aalglatt zu. Verärgert sah Minos umher. „Wozu bist du eigentlich ein Zauberer?“, blaffte er den anderen an. „Dann beschaffe es mir gefälligst, und zwar schnell, wenn ich bitten darf. Ich schwöre, noch einmal so ein Versagen und ich lasse dich wegen Sabotage hinrichten, auch wenn ich hundertmal der Mann einer deiner verdorbenen Schwestern bin.“ Der Drachenfürst fletschte herausfordernd die Zähne. Wenn Minos unbedingt Streit suchte, konnte er ihn haben.