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»Entschuldigen Sie, Herr Singer. Da sind wir etwas vom Thema abgekommen«, räuspert sich Mörike. »Meine Kollegen stellen sich kurz vor.«
»Anrein«, knurrt der Fliegenträger mit Mittelscheitel, Mitte fünfzig, in der Mitte der drei. »Wie bekannt sein dürfte, bin ich die Instanz für marxistische Literaturtheorie in Deutschland.« Mir wird schlecht. Von Marxismus verstehe ich weniger als vom Schafezüchten. War Kalle Marx nicht der Typ, der alle Produktionsmittel dem Volke schenken wollte? Aber den Bezug zur Literatur kenne ich nicht. »Man kann nicht alles wissen«, sagt meine Oma immer.
»Martina Lehmkuhl. Ich bin von der Universität Marburg gewechselt. Mein Schwerpunkt liegt im Bereich der ökologisch orientierten Frauenliteratur. Ich hoffe, Sie haben keine Probleme mit Frauen«, zwinkert sie mir zu.
Mist, sie hat mich durchschaut.
Ich fühle, wie sich Wasserlachen auf meiner Brust und in meinen Achselhöhlen bilden. »Nei ein«, stottere ich. Sie sieht klasse aus. Wahrscheinlich fragt sie sich, warum sie an der Leibnitz-Universität angeheuert hat, wenn hier so hässliche und ungebildete Vögel wie ich herumfliegen. Von Frauenliteratur habe ich natürlich ebenfalls keinen blassen Schimmer. Das kann nur in einer Katastrophe enden. Und zwar ausschließlich für mich.
»Gut, sehr gut«, sagt sie und lächelt dabei spöttisch.
»Dann wollen wir ad hoc in medias res durchstarten«, strahlt Mörike. »Herr Singer, seien Sie so nett und ordnen Sie die Romantik literaturhistorisch ein.« Er will mir einen leichten Einstieg verschaffen. Guter Mann. Leider ist mein Kopf leerer als der Bratwurststand in einem Veganercamp. Ich schaue ihn mit großen Augen an und warte, dass Worte sich aus meinem Unterbewusstsein heraus über meine Zunge artikulieren. Die Lehmkuhl ist eine Wahnsinnsfrau. Die muss einen Verlierer wie mich hassen.
»Herr Singer, sind Sie noch bei uns?«, fragt Anrein. Dabei zieht er eine Augenbraue provokativ nach oben.
»Ja, Herr Singer, so schwer ist die Frage nicht. Sie haben sie doch in Ihrer schriftlichen Arbeit beantwortet«, macht Mörike mir Mut. Vergeblich. Mein Schädel ist ein Vakuum. Doch dann … Bitte. Ich presse mit höchster Anstrengung. Es ist wirklich verdammt schwierig, die zum Sprechen notwendigen Muskeln bewusst in Bewegung zu setzen. Das hätte ich nie gedacht. Aber es funktioniert. Wenn auch widerwillig.
»Äh«, gelangen schließlich Schallwellen aus meinem Mund. Das ist alles. Die Prüfer starren mich an, als hätte ich soeben das elfte Gebot verkündet, das mir Gott auf dem Lindener Berg offenbart hat. Gefühlte fünf Minuten verstreichen.
»Vielleicht sollten Sie Hoffmanns Beziehung zu Frauen mit den weiblichen Figuren seiner Texte in Korrelation setzen. Herr Singer. Er verwendet – Sie haben es sicherlich bemerkt – starke Frauenfiguren, die aber selten dem heutigen Bild einer emanzipierten Frau entsprechen.«
Was will sie jetzt von mir? Immerhin habe ich die Sprache wiedergefunden.
»Äh, ja. Äh.«
Allerdings gebe ich nichts Produktiveres von mir, was mich dem Bestehen der Prüfung näherbringt. Jetzt kann nur ein Wunder helfen. Der Schweiß von meiner Brust ist inzwischen über den Bauch in meiner Boxershorts gelaufen und juckt in einer sensiblen Gegend wie ein Rudel Sackratten, das Tango tanzt.
»Eine ausgezeichnete Frage. Nehmen Sie bitte auch Stellung zu dem Verhältnis Künstlertum und Kapitalismuskritik in Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi », legt Anrein nach. Jetzt haben sie mich auf dem Kieker.
»Wenn Sie schon dabei sind, erläutern Sie die Hoffmann-Rezeption von den Zeitgenossen bis zur Gruppe 47. Bitte legen Sie besonderen Wert auf die Diskussion im Nationalsozialismus.«
Trotz gähnender Leere droht mein Kopf zu platzen. Alle Vakuummoleküle pressen sich zusammen und warten darauf, sich in einer Explosion zu entladen. Das kann nur in einer Katastrophe enden.
»Ich bin krank, ich kann nicht mehr. Da die Prüfung noch nicht begonnen hat, melde ich mich ordnungsgemäß als indisponiert«, verkündige ich.
»Bitte?«, reibt sich Professor Mörike die Nase.
»Das ist nicht Ihr Ernst!«, haut Anrein auf den Tisch. »Mich beschleicht der Eindruck, dass Sie uns veralbern wollen. Die Fragen haben bis jetzt höchstens Bildzeitungsniveau. Die könnte mein Großvater beantworten, und der war Landwirt.« Die Stöckelschuhe der Lehmkuhl klacken staccato aufs Parkett, als wenn sie mich auf den Boden nageln wollte.
»Herr Singer«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Versuchen Sie es doch noch mal. Ich bin mir sicher, dass Sie unsere Fragen beantworten können. Der Reihe nach. Keiner hetzt sie.«
»Werte Kollegin, der Student zieht feige den Schwanz ein. Solche …«, überlegt Anrein, »Leute brauchen weder wir im akademischen Betrieb noch die Menschheit im Berufsleben.«
»Nun machen Sie mal halblang, Herr Kollege!« Die Lehmkuhl scheint etwas an mir zu finden. Was das ist, weiß nur sie allein, denn ich schäme mich selbst zutiefst für meine Unfähigkeit. »Herr Singers Magisterarbeit war passabel. Wenn er unter Prüfungsangst leidet, sollten wir ihm noch etwas Zeit geben. Vielleicht möchten Sie für fünf Minuten frische Luft schnappen?«
Die Männer schauen sie entgeistert an.
»Das ist doch meines Erachtens zu viel des Guten. Andere Prüflinge kneifen auch nicht mitten im Gespräch«, sagt Mörike und nimmt einen Schluck Kaffee. Seine Hand zittert, als er sie auf die Untertasse zurückstellt, so dass Kaffee überschwappt. Gedankenverloren wischt er die braune Tunke mit seinem Hemdärmel auf.
»Verlassen Sie bitte den Raum! Wir beraten, ob wir die Krankmeldung anerkennen.« Anreins Stimme klirrt vor Eiseskälte. »Bitte! Wir rufen Sie wieder herein.«
Wie ein geprügelter Hund schleiche ich aus dem Raum. Seltsamerweise lösen sich alle Blockaden, nachdem ich die Türschwelle überschritten habe. Den Flurwänden hätte ich unzählige Fakten und Theorien über Hoffmanns Damenwelt und die Romantik erzählen können. Aber ich weiß genau: Wieder im Raum, verlässt kein vernünftiges Wort meine Lippen. Ich würde am liebsten eine Flasche Schnaps leeren. Dann wäre ich lockerer.
Die Beratung dauert gefühlte drei Stunden. Dann ruft mich das Exekutionskommando wieder hinein.
»Bitte!«, befiehlt Anrein. »Nehmen Sie Platz.«
Frau Lehmkuhl nestelt verlegen an ihrem Armreif. Mörike nippt alle fünf Sekunden an seiner Tasse. Was können sie beschlossen haben? Sie müssen mich die Prüfung wiederholen lassen. In der Zwischenzeit gehe ich zu einem Psychologen, der meine Ängste eliminiert, schwöre ich mir. So eine Blöße wie heute gebe ich mir kein zweites Mal.
»Herr Singer, unser Entschluss ist einstimmig gefallen.« Anrein blickt etwas verärgert auf Frau Lehmkuhl. »Wenn auch nach einigen Diskussionen. Wir erkennen Ihre Krankmeldung nicht an. Somit wird Ihre Magisterprüfung als ›insufficienter‹ bewertet. Dies ist gleichzeitig die Gesamtnote. Laut Prüfungsordnung hätten Sie eventuelle Unpässlichkeiten vor Beginn der Prüfung anzeigen müssen. Es blieb uns keine andere Wahl. Wenn Sie wollen, können Sie ihr Studium wieder von vorne beginnen, denn die Studienordnung hat sich geändert. Dies war der letzte Zeitpunkt, um die Prüfung nach den alten Regularien abzulegen. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre weitere Zukunft.«
02. In Jägermeister getauft
Mir bleiben alle Worte im Halse stecken. Alle Studienleistungen verfallen? All die vielen Vorlesungen und Seminare umsonst? Doch dann quillt es aus mir heraus.
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein? Ich bin wirklich krank. Prüfungsphobie gepaart mit Sozialphobie.« Warum rede ich erst jetzt?
»Wir sind nicht das Sozialamt, Herr Singer. Sie können selbstverständlich Einspruch einlegen. Da empfehle ich Ihnen aber, sich sehr gute Atteste zu besorgen. Sonst sehe ich schwarz. Außerdem wüsste ich nicht, was Sie mit einer sogenannten Sozialphobie« – er lächelt selbstgefällig – »beruflich machen wollen. Mir fällt da Wärter auf einer Vogelinsel ein. Es sei denn, Sie haben auch eine Vögelphobie.«
Er lacht über seinen Altherrenwitz, als hätte er das Bonmot des Jahrhunderts kreiert. Seine Kollegen wirken peinlich berührt, sagen aber nichts.
»Bitte geben Sie mir eine Chance. Bei der nächsten Prüfung läuft es besser. Oder fragen Sie mich jetzt«, bettele ich.
»Herr Studiosus, manchmal verliert man, manchmal gewinnen die Anderen.« Anrein fühlt sich in seiner Rolle als Zerstörer meiner Existenz sichtlich wohl.
»Wir nehmen es Ihnen übel, dass Sie nach den ersten Fragen eine Krankheit vorschieben. Da gehe ich mit dem Kollegen d’accord. Wir wollen aber jetzt nicht auch noch Kübel voll Häme über Sie ausschütten«, sagt Mörike mit einem schiefen Blick in Richtung Anrein.
»Nein«, versichert Frau Lehmkuhl. Es schmerzt mich besonders, mich vor ihr blamiert zu haben. »Wenn Sie Ihre Krankheit von einem Arzt attestieren lassen, bekommen Sie vielleicht eine Wiederholungschance. Aber nach unserem jetzigen Eindruck müssen wir Sie durchfallen lassen. Sorry.«
Wahrscheinlich hat sie gar nichts gegen mich. Sieht aus, als ob ihr mein Schlamassel leidtäte. Aber ich habe es selber versaut, die Prüfung und mein Leben. Schon lange vorher hätte ich mein Leben auf die Reihe bringen sollen. Es kann nicht mehr schlimmer kommen. Das denke ich zumindest zu diesem Zeitpunkt. Manchmal bin selbst ich Optimist.
Wie betrunken wanke ich aus dem Raum, stolpere fast.
»Geht es Ihnen gut?« Die Lehmkuhl scheint wirklich besorgt.
»Mhm«, murmele ich und bin schon draußen. Studienabschluss ade, Volontariat good-bye, Hartz IV willkommen!
Ich torkele durch die Gänge der Universität, bade in Selbstmitleid und verfluche die Ungerechtigkeit der Professoren und der Welt. In meinem Kopf erklingt Redemption Day von Johnny Cash: »It’s in the soul to feel such things. But weak to watch without speaking. Oh what mercy sadness brings. If God be willing.« Ich fühle mich von Gott und dem Rest der Welt verlassen. Eine Art Erlösung im irdischen Leben wäre klasse. Ein platzender Knoten, ein Eimer voll Glück, den das Schicksal über mich ausschüttet. Aber das sind unerfüllbare Träume.
Ich trete aus der Uni, gehe zur Rasenfläche und drehe mir eine Zigarette. Das Nikotin des schwarzen Tabaks durchflutet sofort mein Gehirn, und ich nehme die Welt durch Rauchschleier wahr. Es fühlt sich weniger schlimm als vorher an. Mein Handy vibriert. Zorro.
»Timo, wie ist es gelaufen? Alles roger?«
»Nix ist roger. Ich habe versagt. Alles war weg. Mensch, ich war vollkommen blockiert.«
Schweigen. Dann fragt er »Wirklich so schlimm?«
»Schlimmer, Lehmkuhl war eine Frau. Vor der habe ich mich bis zum Gehtnichtmehr blamiert.«
Zorro hustet. »Sorry, habe ein Rachenspray inhaliert. Das scheine ich nicht besonders zu vertragen. Was spielt es für eine Rolle ob Lehmkuhl Mann oder Frau ist? Willst du was von ihr?«
»Quatsch«, werde ich ärgerlich. »Die hat promoviert, vielleicht sogar habilitiert. Was soll die mit einem anfangen, der noch nicht einmal seine Magisterprüfung gebacken kriegt. Aber sie sieht gut aus. Das ist für mich ein Blockierreiz.«
»Blockwatt?«
Ich nehme einen letzten Zug und trete die Zigarette im Gras aus. »Blockierreiz. Wenn ich eine attraktive Frau sehe, setzt mein Verstand aus. Kennst du doch.«
»Klar, das geht vielen Männern so. Aber wenn das eine Professorin ist – nee, das verstehe ich nicht. Sie prüft dich doch nur. Ist das nicht egal, wie sie aussieht?«
Ich stöhne inner- und äußerlich. »Theoretisch ja, praktisch nein. Ich denke bei gut aussehenden Frauen nur daran, für was für einen gnadenlosen Versager sie mich halten müssen.«
»Alter Falter, ich habe noch keine Frau kennengelernt, die beißt. Außer ich will es. Was stört es dich, was die von dir denkt. Je cooler du bist, desto mehr fliegen die Damen auf dich.« Ein Brüllen tönt durch den Hörer. »Entschuldigung, eine innere Beklemmung musste raus. Kommt von der Chemie. Scheiß Medikament. Das werden die nie auf den Markt bringen. Das schwör ich dir.«
»Für mein Studium zahlt man mir ohne Abschluss keinen Cent«, sage ich frustriert.
Tobias röchelt wieder. »Es zählt doch, was du weißt, nicht welches Etikett auf dir klebt. Oder?«
Dieses Psychogeschwätz mag ich nicht, vor allem, wenn es um mich geht.
»Ohne Magister kein Volontariat. Da nützen dir auch Tausende Artikel über Lütje-Lage-Besäufnisse auf dem Schützenfest nix. Aber was soll es. Ich kann da momentan nichts ändern.« Ich kicke gegen eine leere Fantadose.
»Ist klar, dass du fertig bist. Aber wir überlegen uns was gemeinsam wegen Job und so. Auch wegen Frauen. Vielleicht mit Ali. Du wirst sehen, bald sieht die Welt anders aus.«
Ali Gethmann ist wie Zorro ein Kumpel aus der Schulzeit. Allerdings hat er sein BWL-Studium im Gegensatz zu mir mit Bravour gemeistert. Gleich nach dem Studium hat er eine Unternehmensberatung für Existenzgründer eröffnet. Und die läuft blendend. In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrisen bleibt vielen Leuten nichts anderes übrig, als den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Und dabei sie unterstützt Ali. Gut, wie ich glaube.
»Schön, dass du an mich glaubst.« Ich fühle ich mich etwas getröstet. »Ich gehe jetzt zum Geburtstag meiner Mutter. Da habe ich heute besonders große Lust drauf.«
»Ich würde mir einen verlöten. Dann vergisst du den Uni-Mist. Ich horche jetzt an der Matratze und hoffe, dass ich nicht im Schlaf röchele. Sonst steht Opa Pflüger vor der Tür.«
Opa Pflüger, Vorname Gerd-Hugo, ist der Nachbar über unserer Zweier-WG. Uns ist es jeden Tag ein Rätsel, welche Mütter solche Söhne gebären. Obwohl unsere Mietskaserne am Pfarrlandplatz um die Jahrhundertwende gebaut wurde, hört man jedes Husten in den Nachbarwohnungen. Das ist prickelnd. Wenn der Lautstärkepegel in unserer Wohnung den der Unibibliothek erreicht, kann man Gift nehmen, dass Gerd-Hugo mit dem Besen auf unsere Decke schlägt. Er scheint den ganzen Tag nur darauf zu lauern, Geräusche in unserer WG wahrzunehmen. Läuft einmal Musik bei uns – zugegeben, sie läuft ziemlich oft –, wummert er gegen unsere Wohnungstür und brüllt irgendwas von Ruhestörung, Adolf Hitler und Lagern, in die Leute, wie wir gehörten würden. Das war anfangs lustig, mittlerweile nervt es nur. Wir hoffen, dass ein glücklicher Zufall uns von diesem Mitbewohner befreit. Warum kann er nicht im Lotto gewinnen und zieht auf die Kanaren?
Meine Eltern wohnen im Zooviertel. Das ist eine nette Gegend, in der gut betuchte Menschen und welche, die so wirken wollen, ihr stilvolles Leben zur Schau stellen. Ehe Neid aufkommt: Meine alten Herrschaften gehören dem bürgerlichen Mittelstand an. Beide waren Lehrer. Diese Berufsgruppe kann sich ein eigenes Haus in dieser Wohngegend normalerweise nicht aus eigenen Kräften leisten. Allerdings gehört meinem Opa Günter die SMB, was Singer Maschinen Bau bedeutet. Er hat nach dem Krieg begonnen, Maschinen für die Autoindustrie herzustellen. Aus der Rumpelbude in Hannover-Lahe wurde ein Unternehmen, das Wertarbeit made in Germany bis nach Japan und Amiland exportiert. Mittlerweile ist es auch in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Ich habe mich genau wie mein Vater nie besonders für Maschinen, Autoproduktion und Devisengewinne interessiert. Sehr zum Ärger meines Opas. Er hält meinen Vater nach wie vor für einen missratenen Nichtsnutz, der es zu nichts im Leben gebracht hat. Dennoch hat er meinen Eltern zur Hochzeit die Gründerzeitvilla in der Nähe der Eilenriede, dem Hannöverschen Stadtwald, geschenkt. Da hat er sich wirklich nicht lumpen lassen. Ich habe das efeuumrankte Haus immer sehr geliebt, wusste aber, dass ich mir später nichts Vergleichbares würde erlauben können. Es sei denn, mir würde es geschenkt.
Ich klingele. Mama öffnet. Sie geht mir bis zur Brust, ihre früher brünetten Haare strahlen heute grau. Die warmen braunen Augen weiten sich vor Freude, mich zu sehen. Ich liebe meine Mutter. Wenn ich Komplexe im Umgang mit Frauen habe, liegt das nicht an ihr.
»Gerhard, der Junge ist da. Lass dich umarmen. Erzähl doch, wie war die Prüfung?«
Mein Vater taucht ebenfalls in der Diele auf. Er ist gut einen halben Kopf größer als meine Ma. Über einem karierten Hemd trägt er eine Lederweste. Ein wilder Bart ist das Relikt der Studienzeit. Mein Pa war nämlich Achtundsechziger und ist stolz drauf. Ich finde es superpeinlich, dauernd von in der Jugend angezettelten Revolutionen zu palavern und wie ein Spießer zu leben. Links reden, rechts streben. Aber er ist pensioniert. Da stört sich keiner an seinem Gerede. Ansonsten ist er ein netter Kerl. Nur ziemlich schräg.
»Hallo, Mama. Alles Gute zum Geburtstag.« Ich hole den Blumenstrauß hinter dem Rücken hervor, den ich vorhin auf der Georgstraße gekauft habe.
»Timo«, sagt sie, »Timo, das wäre doch nicht notwendig gewesen.« Aber in ihren Augen sehe ich, dass sie sich freut.
»Nein, nicht notwendig«, schaltet sich Vater ein. »Geschenke fördern den kapitalistischen Konsum. Ingrid und ich machen diesen Mumpitz nicht mehr mit und schenken uns seit Jahren nichts mehr. Das weißt du doch.«
»Ja, aber manchmal freut sich eine Frau über kapitalistischen Mumpitz«, sagt Mama, und ihre Augen schimmern feucht.
»Ja«, sagt Vater nun doch eine Spur verlegen. »Manchmal schon, in der Regel nicht. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Das ist das Prinzip von Regeln. Es gibt immer Ausnahmen. Und so eine Ausnahme sind heute deine Blumen. Das hast du gut abgepasst, Timo. Respekt. Ich bin dennoch froh, dass wir nicht alle diese korrupte Floristikindustrie bereichern. Wusstet ihr, dass viele Blumen in Drittweltländern von Kindern gepflückt werden? Das habe ich neulich gelesen. Die Leute schaffen sich dort ein Dutzend Sprösslinge an, damit diese durch ihre Arbeit auf den Blumenfeldern die Familie ernähren können. Und bei uns tun die Leute so, als freuten sie sich darüber. An das Leid denkt niemand. Aber heute ist es in Ordnung, Mama freut sich.«
»Ich freue mich wirklich, Timo«, beteuert Mama. Wahrscheinlich versteht sie Pas Gequatsche genauso wenig wie ich.
Im Grund ist er ein lieber Kerl, aber das versteckt er gut.
»Erzähl doch. Wie war die Prüfung? Bist du jetzt ein Herr Magister?« Mutter drückt mich erwartungsvoll am Arm. »Hast du mit ›Eins‹ bestanden? Weißt du, eine Drei oder Vier würde auch reichen. Fühl dich nicht unter Druck gesetzt«, plappert sie aufgeregt.
»Zensuren sind ein Überbleibsel vergangener Systeme, wo wir froh sein sollten, dass sie ausgestorben sind. Es ist eine Schande, dass Schüler und Studenten heute noch immer bewertet werden. Wie vor hundert Jahren«, weiß mein Vater.
»Wenn mich nicht alles täuscht, hast du deine Schüler auch zensiert und dich aufgeregt, dass die verzogenen Blagen kapitalistischer Eltern von Jahrgang zu Jahrgang schlechter werden.« Diese Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen.
Gerhards Gesicht läuft rot an. »Was sollte ich denn machen? Das System hat mich gezwungen. Ich finde es unfair, dass du mir das vorwirfst. Du weißt doch, dass ich mit Kollegen in den Siebzigern eine eigene Schulform gründen wollte. Leider haben mir die Behörden einen Stein nach dem anderen vor die Füße geworfen haben. Nee, Timo, ich habe mein Bestes versucht, aber die Zeit war damals nicht reif für die Singer-Pädagogik. Da musste ich mich anpassen. Aber die Hoffnung stirbt nie. Es werden bessere Zeiten kommen. Das kann noch etwas dauern. Die heutigen Schüler werden doch zu bloßen Konsumenten erzogen, keiner wehrt sich. Nur so können Konflikte wie die Finanzkrise oder der Irak-Krieg entstehen.« Endlich holt er Luft.
»Wegen deutscher Schüler?« Seine Argumentation verblüfft mich immer wieder. Bevor er zu einer neuen Tirade ansetzt, sage ich: »Ich habe mit ›Eins‹ bestanden. Alles paletti, Gerhard.«
Ich kann meine Niederlage einfach nicht eingestehen. Das würde zu weiteren Diskussionen mit Gerhard führen, auf die ich keine Lust habe. Im schlimmsten Fall würde er Beschwerdebriefe an Bundespräsident Wulff schreiben. Als ich auf dem Gymnasium einmal eine Geschichtsklausur versemmelt hatte, schickte er einen sechsseitigen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Schließlich stammt der auch aus Niedersachsen. In diesem unsäglichen Schreiben beklagte er sich über die unerträglichen Zustände an deutschen Schulen, faschistische Lehrer und den Niedergang des Abendlandes. Herr Schröder oder einer seiner Sekretäre haben sogar geantwortet und sich für sein Interesse an der politischen Gestaltung unseres Landes bedankt. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, als mein Vater meinem Geschichtslehrer Dr. Podler dieses Schreiben unter die Nase hielt:
Der sagte dazu ganz ruhig: »Werter Kollege Singer. Ihr Engagement in allen Ehren. Aber Timos Aussage, Adenauer sei ein größerer Agitator als Göbbels gewesen, entspricht nicht dem heutigen Stand der Forschung. Und diesen muss ich bewerten.« Den Rest der Diskussion gebe ich lieber nicht wieder. Damals hatte ich Gerhards Sprüche unreflektiert niedergeschrieben, ohne zu bedenken, dass diese nicht der allgemeinen Auffassung entsprachen. Nach zwei Stunden gab Gerhard klein bei, verfluchte aber alle reaktionären Kollegen. Das gab einen Rüffel vom Direktor, und Vater hielt eine Zeit lang die Klappe. Mein Leben auf der Schule hat das nicht leichter gemacht, aber ich habe überlebt. Das ist schließlich alles. Auf neue Diskussionen habe ich keine Lust, daher verschweige ich meine Niederlage.
»Das ist toll. Ich freue mich so«, jubiliert Mutter. »Ich wusste, dass mein Junge Erfolg im Leben haben würde.«
»Respekt, Timo«, freut sich auch Vater. »Du hast es den Deppen von der Prüfungskommission gezeigt. Ein Singer lässt sich vom System nicht kleinkriegen.«
Innerlich zieht sich mir alles zusammen.
»Ich finde es natürlich auch aus finanziellen Erwägungen toll, dass du dein Studium beendet hast«, frohlockt er.
»Warum, Gerhard?«
»Na, ich brauche dich nicht mehr zu unterstützen. Du hast doch eine Stelle als Volontär. Nicht, dass ich dir ungern unter die Arme gegriffen hätte. Aber es entlastet unser Budget doch sehr, wenn du auf eigenen Füßen stehst. Egal, lasst uns ins Wohnzimmer gehen.«
Gott sei Dank habe ich für heute das Kapitel Magisterprüfung abgeschlossen. Denke ich zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Aber es kommt immer schlimmer, als man denkt. Dabei bin ich kein unverbesserlicher Pessimist, sondern bodenständiger Realist. Und meine etwas reservierte Ansicht über die Freundlichkeit des Lebens bestätigt sich wenige Sekunden später.
Denn im Wohnzimmer sitzt die übliche Bagage, die jede Familienfeier zur Klamaukorgie verkommen lässt. Ich frage mich, ob andere Menschen auch so peinliche Verwandte haben wie ich, kann es mir aber beim Willen nicht vorstellen.
Zunächst thront am Kopfende des Esstisches Opa Günter. Sein Eichenstock mit Drachenkopf lehnt am Tisch. Eigentlich braucht der mittlerweile achtzigjährige Unternehmer keine Gehhilfe. Er denkt aber, er müsse sich seinem Alter gemäß verhalten, deshalb der Stock. Daneben sitzt Oma Ilse. Sie ist zwei Jahre älter als Opa, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus. Zumindest aus der Ferne. Diverse Operationen bei Dr. Lappmann, Hannovers Schönheitschirurg Nummer eins, machen es möglich. Mit fünfundsiebzig hat sie sich die Brüste machen lassen, die Haut am ganzen Körper wurde geliftet, Botox in die Lippen gespritzt, Haare transplantiert und dauerhaft eingefärbt. Das sind die kleinen Korrekturen, die ich mitbekommen habe. Wenn ich sie frage, ob dieses Retuschieren des natürlichen Verfallprozesses notwendig sei, antwortet sie stets: »Jungchen, ich rauche nicht, trinke nur wenig und gönne mir sonst keinen Luxus.« Recht hat sie. Ihr Leben auf einem 1500 Quadratmeter großen Grundstück mit Reitbahn, Schwimmbad und eigenem Gärtner empfindet sicherlich der Großteil der deutschen Bevölkerung als bescheiden.
Daneben besäuft sich Onkel Udo. Das ist Mas Bruder, dem ein Bauernhof in der Nähe der früheren Grenze bei Helmstedt gehört. Onkel Udo trinkt nur eiskaltes, fast gefrorenes Bier und Jägermeister. Etwas anderes kommt ihm nicht in die Kehle, dafür aber reichlich. Keiner kennt ihn nüchtern, da er bereits zum Zähneputzen Jägermeister gurgelt. So meine Theorie. Er ist auch der Grund, warum ich selber keinen Kräuterlikör aus Wolfenbüttel zu mir nehme. Wenn ich die Flasche mit Hirsch sehe, denke ich immer an eine Kirche. Kein Scherz. Das Bild ist schwarzweiß gehalten, also älter. Dort stehen Udos Eltern um das Taufbecken und halten ein kleines fettkrankes Baby in den Armen, das eine Sonnenbrille trägt und an einer Kippe im Mundwinkel saugt. »Wollt ihr Eltern von Udo Kallupke dieses Kind taufen? Paten haben sich leider nicht bereit erklärt, dieses wunderbare Wesen auf seinem Lebensweg zu begleiten.«