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»Ja, so machen wir’s«, erklärt Udo Vater und rülpst.
»So soll es sein«¸ erklärt der Pfarrer und kippt vier 1,5-Liter-Flaschen Jägermeister ins Becken.
»Jetzt muss ich dir leider deinen Nuckel wegnehmen, mein kleiner Hosenscheißer«, sagt Vater Kallupke und zieht Klein-Udo die Zichte aus dem Mund, woraufhin Udo bitterlich zu weinen beginnt.
»Kriegst ihn gleich wieder, Sohnemann«, versichert der Altbauer.
Dann nimmt der Pfarrer den Jungen. »Hiermit taufe ich dich, Udo Bernhard Kallupke, im Namen des Vaters, der Sohnes und des Heiligen Geistes. Des Jägermeistergeistes.« Mit diesen Worten taucht er das Baby in die Brühe und hält es drei Minuten in den Likör.
Dann sagt Mama Kallupke: »Sollten wir ihn nicht wieder an die Luft holen?«
Der Alte winkt ab: »Jägermeister hat noch keinem geschadet. Kräuter sind was Gutes, und der Alkohol macht sie länger haltbar.«
Der Pfarrer leckt sich verlegen etwas Jägermeister vom Finger. »Verzeihung, da habe ich anscheinend den Kleinen vergessen.«
Er zieht ihn aus dem Becken, das Kind strahlt erstaunlicherweise über alle vier Backen, dann steckt der Vater ihm wieder die noch glimmende Zigarette in den zahnlosen Mund.
Bei dieser Vision ekelt es mich. Andere ekeln sich auch vor Onkel Udo, denn besoffen verfehlt er beim Pinkeln regelmäßig die Toilettenschüssel und setzt das ganze Bad unter Urin. Aber irgendwie gehört er dazu und wird daher immer eingeladen.
Ich jedenfalls könnte auf den Landwirt gut verzichten. Seine Frau, Tante Gerti, ist eher unauffällig und in der ganzen Familie beliebt. Keiner versteht, was sie an dem Suffkopp findet. Die Aufgaben in dieser Ehe sind klar verteilt: Sie fährt ihn vom Frühschoppen zum Bierbrunch, vom Stammtisch zum Absacker. Immerhin führen sie ein geregeltes Leben.
»Hey, Timo, mir ischt nach Rotsch«, singt oder besser grölt er, als er mich sieht.
»Hallo, Onkel Udo. Alles klar im Schweinestall?« Ich setze ich mich an den Tisch. »Was soll übrigens ›Rotsch‹ heißen? Ist das ein neues Futtermittel für Kühe?«
»Ach Timo«, legt mir Tante Gerti eine Hand auf die Schulter. »Dein Onkel hat etwas zu viel getrunken. Wahrscheinlich weiß er noch nicht einmal selber, was er sagen wollte. Oder, Udo?«
»Sicher weisch ich dasch. Mir ischt nach Rotsch.«
Opa und Oma schauen wie hypnotisiert auf die Tischdecke, als würde diese gleich psychedelische Bilder werfen.
»Unser Timo ist jetzt Magister«, verkündet Gerhard, der mit einer Flasche Sekt aus der Küche kommt. »Das müssen wir feiern.«
Alle setzen sich kerzengerade auf, auch Udo schafft es, sich in die Senkrechte zu hieven.
»Für mich keinen Sekt, nur noch ein eiskaltes Bier.« Er artikuliert sich erstaunlich deutlich.
»Ich halte wenig von diesen sogenannten Geisteswissenschaften«, hebt Opa nun an. »Jura, BWL oder Maschinenbau sind Fächer, mit denen man in der Wirtschaft unterkommen kann. Ich hätte dir bei einem entsprechenden Studium einen guten Posten bei der SMB besorgt. Aber du wolltest nicht. Nun gut. Magister ist besser als nichts. Daher auch von mir die besten Glückwünsche.«
»Dir ist nichts gut genug, weder dein Sohn noch dein Enkel. Timo hat Tag und Nacht gelernt, um es den Professoren zu zeigen. Du solltest stolz sein«, keift Gerhard.
Opa verdreht die Augen und winkt ab.
»Seid ruhig. Wie kann man sich an diesem Tag nur streiten. Mein Geburtstag und Timos Examenstag. Wenigstens heute sollten wir ohne Zank feiern«, bittet Mama.
Alle stoßen an, ich mit – und schäme mich maßlos für meine Feigheit. Selbst vor Onkel Udo. Der Mann ist zwar ein Idiot, aber auf seine Art ehrlich.
»Prostatata!«, tönt er.
»Und warum ist dein permanent alkoholisierter Bruder hier? Du weißt, dass solche Leute nicht dem Niveau der Singers entsprechen.«
»Was?«, fragt Udo.
»Das finde ich garstig«, schaltet sich Tante Gerti ein. »Udo kann doch nichts für sein kleines Alkoholproblem. Er ist krank.«
»Krank im Kopf«, erwidert Opa und stößt mit seinem Stock aufs Parkett.
»Halt die Klappe, du alter Geldsack!«, keift Udo.
Ich nehme mir auch einen Jägermeister. Schmeckt gar nicht so schlecht. Ich kippe einen zweiten hinterher, sonst kann ich das alles nicht aushalten.
»Jetzt hört aber auf. Mir geht es nicht gut«, wirft Mutter ein.
Das bringt die Streithähne zur Ruhe.
»Was hast du denn?«, fragt Oma Ilse.
»Ich habe seit zwei Wochen Schmerzen in der Magengegend. Die kommen und gehen in unregelmäßigen Abständen. Mein Hausarzt hat mir ein Mittel gegen Sodbrennen verschrieben. Das hilft aber nicht wirklich. Ich werde morgen zu einem Facharzt gehen.«
»Toi, toi, toi! Wenn du einen wirklich guten Internisten brauchst, kann ich mit Doktor Lappmann sprechen. Der weiß, wer zur Crème de la crème gehört«, zeigt sich Oma hilfsbereit.
»Lass mal. Doktor Poggenbühl soll auch sehr gut sein. Klara Steinbach geht zu ihm und ist sehr zufrieden. Ein kompetenter Mann, und du hast keine Wartezeiten.«
»Na, Ihr seid doch auch privat versichert, da sollten die Ärzte Termine sowieso einhalten. Wie läuft die Ehe der Steinbachs? Die hatten doch Probleme, habe ich gehört.«
»Die haben sich mittlerweile zusammengerauft«, plaudert Mama aus dem Nähkästchen. »Klaus ist mit seiner Firma verheiratet, das wird sich nie ändern. Aber er hatte zwischenzeitlich eine Affäre mit einer Sekretärin angefangen. Das hat sich, wie Klara erzählt, mittlerweile erledigt. Sie gehen jede Woche zur Paartherapie. Das hilft.«
Ich trinke noch einen Jägermeister.
Onkel Udo nickt mir aufmunternd zu. »Kommscht auf den Geschmack, Timo, wasch?«
Mein Nicken verläuft bereits ein wenig unkoordiniert, da ich keinen Alkohol gewöhnt bin, zumindest nicht in erhöhter Taktzahl.
»Wo ist eigentlich Nadine?«, fragt mich Oma Ilse. Alle im Raum verstummen.
Nun kommen wir zu einer weiteren Geschichte, für die ich mich maßlos schäme. Ich möchte eine Freundin haben, nichts lieber als das. Aber durch meine Angstzustände, das Zittern, Stottern, Schwitzen beim geringsten Anzeichen von Attraktivität war es mir bisher unmöglich, eine Beziehung zu einem weiblichen Wesen einzugehen.
Nun fragte meine besorgte Familie andauernd, was mit einer Freundin sei.
»Willst du nicht?« – »Du solltest mal, wir möchten gerne eine Schwiegertochter und später Enkelkinder.« – »Mach dir nichts draus. Du bist halt nicht der Allerschönste. Aber irgendwann. Du weißt: Jeder Topf findet einen Deckel.« – »Wenn du vom anderen Ufer bist, das ist kein Problem für uns. Wir sind tolerant.«
Irgendwann nervt das. Vor allem wenn die Fragen gut gemeinten Aktionen weichen. Zuerst wurden mir Kontaktanzeigen von Parship und Elitepartner zugesteckt. Natürlich ganz unauffällig. Ich ging bei meinen Eltern auf die Toilette, da lag eine Anzeige auf dem Klodeckel. Intelligenter, solventer Akademiker Ende zwanzig sucht repräsentative Sie. Aussehen zweitrangig. Daneben war mit Kuli geschrieben: »Die Gebühren für die Vermittlung würden wir übernehmen.« Super.
Mein Vater gibt sich immer progressiv, doch hat er quälende Ängste, dass ich homosexuell bin. Das würde er nie offen zugeben. Aber in seinen Erzählungen von der wilden Studienzeit spielen die schwulen Unikumpel immer nur witzige bis blamable Rollen. Er versichert hinterher immer, dass seine Generation auch die Schwulen von der Geißel der Gesellschaftsdoktrinen befreit habe, doch überzeugend klingt seine liberale Haltung nicht.
Da musste eine Lösung her. Und die hieß Nadine – wie in dem Song der irischen Bluesröhre Rory Gallagher. Und es war reiner Zufall. Ich war auf der Party eines Kommilitonen in der List, nicht weit von meinem Elternhaus entfernt. Nadine war mir gleich zu Anfang aufgefallen: hochgewachsen, schlank, schwarze Lackstiefel, dazu ein Ledermantel, wie ihn SS-Offiziere getragen hatten. Sehr provokativ. Dazu trug sie ihre dunklen Haare wie die Filmstars der Vierziger und besaß ein loses Mundwerk. Sie sah einfach fantastisch aus, als sie zu Whole lotta love abtanzte.
Durch mehrere Wodka-Redbulls ermutigt, traute ich mich, sie anzusprechen.
»Ich bin die Gitarre und du meine Blues-Harp. Lass uns gemeinsam im Takt der Liebe grooven», artikulierte ich ohne Stottern. Den Spruch hatte ich aus einem Buch mit dem Titel Angriff auf die Frau – Flirten für Dumme. Sie musterte mich von oben nach unten und wieder retour.
»Mit einem hässlichen Ekelschlumpf wie dir würde ich nicht mal die Toilette abputzen. Verpiss dich.«
Ich habe gelesen, dass langfristige Beziehungen oft mit Missverständnissen beginnen. Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Julia Romeo »Ekelschlumpf« genannt hat. Selbst Nancy dürfte Sid Vicious freundlicher begrüßt haben. Dennoch, das war sie: meine große Liebe. Ich nahm ihr die reservierte Reaktion auf meinen Anmachspruch nicht krumm und beschloss, die Zeit für mich spielen zu lassen. Ich setzte mich in eine Ecke und beobachtete meine Wunderfrau beim Tanzen, Trinken und Chillen. Um ein Uhr begann sich die Fete zu leeren. Nadine hatte gut getankt, wie ich bemerkte. Sollte sie ihren Spaß haben. Irgendwann kam sie auf mich zugetorkelt. Selbst betrunken wirkte sie eleganter als die Dietrich.
»Ey«, sagte sie. Mir wurde ganz schummrig, und das lag nicht am Alkohol. »Was spannste mich die ganze Zeit an. Biste ein Stalker?«
Ich fasste Mut. Du wirst mit dieser fantastischen Frau eine Beziehung eingehen. Sie wird dich lieben und ehren, dachte ich, und …
»Ey, mach das Maul auf, wenn ich mit dir rede, Spacken«, zischte sie. »Spacken« klang freundlicher als »Ekelschlumpf«. Machte unsere Beziehung Fortschritte?
»Sag einmal: Hast du schon eine Schlafgelegenheit? Bei mir wäre was frei, gibt auch Frühstück ans Bett.« Direkter war ich noch nie bei einer Frau geworden. Würde mein Mut belohnt werden?
Sie überlegte, schaute mich mit immer kleiner werdenden Augen an. Schließlich sagte sie: »Du hast recht. Ich muss eigentlich noch nach Bremen. Aber warum nicht hier pennen. Geht klar. Aber eins sag ich dir vorneweg: Anpacken ist nicht. Komm nicht auf dumme Gedanken. Und du schläfst in einem anderen Raum. Capisci?«
»Gebongt, ich will dir nur helfen«, sagte ich. Ich dachte aber, da geht bestimmt etwas. Spätestens morgen sieht sie in mir den Mann, der sie durchs Leben begleitet, sie auf Händen bis in eine gemeinsame Wohnung trägt.
Ich rief ein Taxi und half Nadine ins Auto, da sie nicht mehr sicher stehen konnte.
»Finger weg, Spargelaffenarsch!«, zischte sie.
Meine Ma sagt immer: »Was sich liebt, das neckt sich.« Wurden die ersten Zeichen von Liebe immer deutlicher?
»Bitte, Madame.« Ich ließ mich nicht beirren. Fünf Minuten später bezahlte ich den Taxifahrer.
»Wow, ihr hat ein schönes Haus. Wohnst du noch immer bei deinen Eltern?«, sagte sie, als ich sie den Treppenaufgang hochschleppte.
»Nein, ich lebe mit einem Kumpel in einer Zweier-WG in Limmer. Aber die wird zurzeit renoviert, daher schlafe ich bei meinen Eltern. Nichts Dauerhaftes.«
Unsere Männerbude wollte ich ihr erst zeigen, wenn die Beziehung gefestigter war.
Ich führte sie mit einigen Schwierigkeiten zu meinem Zimmer in der ersten Etage. Meine Eltern schienen zu schlafen. Gott sei Dank. Nadine warf sich angezogen auf mein Jugendbett und flüsterte noch: »Denk daran, Säger. Anpacken verboten und anderes Zimmer.« Dann schlief sie schon. Ich malte ein Schild »Nicht stören!!! Damenbesuch!!!« und hängte es an die Tür. Doch wo sollte ich bleiben? Ach, egal. Ich nahm eine Decke und legte mich auf den Boden. Nadine bekam sowieso nicht mit, dass ich im selben Raum nächtigte. Vor Aufregung bekam ich kaum ein Auge zu, schlief aber irgendwann auch ein.
»Was machst du Clerasilantiwerbung in einem Zimmer mit mir? Hast du mich angefasst? Ich trete dir gleich in die Klöten!« So charmant wurde ich geweckt.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte ich. »Die Decke ist sehr kuschelig. Frühstück?«
Wenn Blicke töten könnten, wäre es um mich schlecht bestellt gewesen. Was hatte die Frau? Wir waren füreinander bestimmt. Und daher gab ich die Hoffnung nicht auf. Ma bereitet ein ausgezeichnetes Frühstück. Und Liebe geht durch den Magen. Das habe ich gelesen, Beweise habe ich aber noch nicht.
»Warum nicht«, zeigt sich Nadine besänftigt. »Ich könnte etwas zwischen den Kauleisten gebrauchen.« Ah, die These über Liebe und Magen stimmt, freute ich mich.
»Moment«, sagte ich.
Ich rannte aus dem Zimmer. Im Esszimmer führte Gerhard mit der Linken einen Toast mit Leberwurst zum Mund, mit der Rechten verrührte er Milch im Kaffee. Mutter legte gerade das vierte Gedeck auf.
»Moin. Nadine frühstückt mit. Keine dummen Fragen, bitte.«
Gerhard grinste wie die halslose Katze aus Alice in Wonderland. »Guten Morgen, Casanova. Geht klar, unsere Lippen sind versiegelt«. Er knuffte mich verschwörerisch.
Auch Mutter konnte sich das Strahlen nicht verkneifen.
»Unser Sohn hat eine Freundin, das muss ich gleich Tante Gerti erzählen.«
Mir wurde mulmig. »Halt doch mal den Ball flach, Mutter. Das ist kein großes Ding.«
Gerhard hob beschwichtigend die Hände. »Der Junge hat recht, Ingrid. Wir haben es damals doch auch wild getrieben. Da müssen wir jetzt kein Fass aufmachen.«
Mir schwante Übles, aber da musste ich durch. Ich stiefelte in mein Zimmer, wo Nadine sich gerade einen Joint baute.
»Frühstück ist angerichtet. Kommst du?«, lächelte ich. Irgendetwas hatte die Frau, das meine Angstzustände ausschaltete. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart völlig frei.
»Der Johnny war als Nachtisch gedacht«, zeigte sie sich begeistert. »Kann nicht schaden, den Magen zu füllen. Hoffentlich labern mich deine Eltern nicht voll. Da kann ich gar nicht drauf. Boah, meine Birne platzt gleich. Ich sollte bei Alkohol echt kürzertreten.«
Im Esszimmer dienerte mein Vater vor Nadine. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. So einen Mist machte er sonst nie.
»Herzlich willkommen in unseren bescheidenen Hallen«, faselte er. Hatten sie mir nicht versprochen, die Klappe zu halten.
Nadine musterte ihn mit schiefem Blick und hielt meiner Mutter die Hand hin. Bevor Ma sie ergreifen konnte, zog meine Angebetete sie wieder weg.
»Nadine. Sorry, mir ist heute nicht nach Quatschen. Habt ihr Bircher-Müsli? Da kann ich mich reinlegen. Wäre super.«
»Tut mir leid«, sagte Ma. »Aber Rührei mit Schinken haben wir. Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen? Ich bin Ingrid.«
»Alles roger. Eigentlich stehe ich nicht auf Cholesterinbomben, aber man lebt nur einmal, frau auch. Warum nicht. Vielleicht wirkt sich das positiv auf meinen Schädel aus. Scheiß Kater.«
»Natürlich duzen wir uns.« Vater war ganz aus dem Häuschen. »Ich bin Gerhard. Mensch, und mit Quatschen hatten wir es in eurem Alter auch nicht. Aber Achtundsechzig war das völlig normal. Wir haben gekifft, gesoffen und gefickt, was das Zeug hält. Heute nimmt doch kein Jugendlicher solche Wörter in den Mund, ohne rot zu werden. Das habe ich auch immer meinen Schülern erzählt: Ich ficke gerne und bin völlig frei.«
Nadine schaufelte sich Rührei auf den Teller und starrte Gerhard mit großen Augen an. »Alles klar«, sagte sie. »Nimmst du heute noch Drogen, Alter?« Sie schmierte sich ein Brot und träufelte Honig auf die Butter.
Gerhard fühlte sich geschmeichelt. Mensch, war mein Erzeuger peinlich. Mutter schaute auf die Tischdecke, als sprächen die Rosenornamente zu ihr.
»Nicht mehr regelmäßig, aber ab und an schon. Wir ficken dafür regelmäßig, nicht wahr, Ingrid.«
Meine Mutter murmelte unverständlich. Es ist für Kinder unvorstellbar, dass ihre Eltern Geschlechtsverkehr haben. Aber dass mein Vater auch noch andauernd darüber redete, war unerträglich.
»Wir haben nicht nur die Gesellschaft revolutioniert, auch unsere Körper haben wie Kerzen den Sommer der Liebe entzündet. Mit Jimi Hendrix, den Beach Boys, den Stones. Die Beatles waren uns zu mainstreamig, was, Ingrid?«
»Mensch, Alter. Die Stones sind alte Säcke, wenn die nicht Mainstream sind, wer dann. Hör lieber moderne Mucke wie Jupiter Jones oder Tomte. Dann schwimmst du im Groove der Zeit.« Bei Nadine konnte er wenig Eindruck schinden.
»Die Stones waren damals knorkomat, richtig grovy, das kannst du mir glauben«, ereiferte sich Gerhard. »Obwohl nie Mick Jagger der Philosoph der Stones war. Er war das Sprachrohr, aber nie der Kopf. Keith Richards war der Adorno des Rock’n’Roll«, fantasierte er jetzt auch noch. Warum musste ich immer in solch schrägen Filmen landen.
»Hat er dir das bei einem gemeinsamen Trip verraten?«, gab Nadine zurück und schaufelte sich einen Löffel Rührei zwischen die schneeweißen Zähne.
»Du wirst lachen. Ich hatte einen Kumpel, dessen Bruder eine Frau kannte, die mit Keith in die Kiste gesprungen ist. Das war bei einem Auftritt in Hamburg. Und da hat er ihr die unglaublichsten Geschichten erzählt. Da hätte ich gerne Mäuschen gespielt.«
Mutter hielt sich an ihrer Tasse fest, und auch ich war mit Dads Erzählchen restlos überfordert.
»Genug geplaudert», sprang Nadine auf. »Interessant bei euch, aber zu Hause wartet meine Katze auf Verköstigung. Hasta la vista.«
»Ich bring dich zur Tür«, sagte ich und eilte ihr nach.
Als wir auf der Treppe standen, meinte sie: »Alter, mach dir nichts draus. Dein Vater ist ein viel größerer Idiot als du. Das erklärt alles. Danke für Bett und Futter. Trotzdem hoffe ich, dass man sich nie wiedersieht.»
Als ich an die elterliche Tafel zurückkehrte, sagte Gerhard:
»Ich hoffe, dass ich sie nicht vertrieben habe. Vielleicht ist sie zart besaitet und verträgt die offene Sprache der Apo-Studenten nicht.« Meine Mutter hatte ihn anscheinend ordentlich zusammengestaucht.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich und verfluchte ihn im Stillen.
Aber Nadine, die ich übrigens nie wiedersehen sollte, benutzte ich. Jede Woche erzählte ich meinen Eltern, wie toll sich die Beziehung mit Nadine entwickelte: Ich lernte ihre reizenden, vollkommen normalen Eltern kennen, wir fuhren nach Paris, tanzten die Nächte durch und verlobten uns auf einem Kreuzfahrtschiff vor der finnischen Küste. Ohne Familie und voller Romantik. Meine Eltern luden sie jede Woche ein. Doch Nadine arbeitete als Projektmanagerin für eine internationale Werbeagentur. Immer war sie unabkömmlich. Ich sagte meinem Vater, dass die Plädoyers für freie Liebe Nadine nicht besonders gefallen hätten. Sie sei eher zartbesaitet. Da verringerte sich die Häufigkeit der Erkundigungen über das Wohlergehen meiner Liebsten. Und der beste Effekt dieser kleinen Schwindelei: Die Kontaktanzeigen auf dem Lokus waren passé.
Das ist meine Liebesgeschichte mit Nadine, die in Zeitraffer vor meinem inneren Auge abläuft.
»Hallo, jemand zu Hause?«, holt mich Großmutter aus meinen Träumen.
»Nadine beaufsichtigt Werbeaufnahmen in Los Angeles«, flunkere ich. »Die ist etwa drei Wochen in den Staaten.«
»Also, ich weiß nicht, ob diese Nadine die Richtige für dich ist«, unkt Oma. »Immer auf dem Jück. Das hält doch die beste Beziehung nicht aus. Habt ihr euch schon mal über Familie ausgetauscht? Nun hast du eine feste Stellung, da wird es höchste Zeit für den nächsten Schritt.«
Ma springt mir zur Seite. »Nun setz den Jungen doch nicht unter Druck. Wir sind froh, dass Timo überhaupt eine Freundin hat. Das ergibt sich alles von selber. Erst einmal ist wichtig, dass er sein Studium geschafft hat und auf eigenen Füßen steht. Der Rest kommt.«
»Wir hatten es damals auch nicht so mit dem Heiraten«, bringt sich Gerhard in die Diskussion ein. Hoffentlich erzählt er nichts vom Summer of Love. »Die Zeiten haben sich gewandelt, Gott sei Dank.«
Ich gebe auch meinen Senf dazu: »Wir wollen uns Zeit lassen. Nadine ist nicht der Hochzeits-Typ, ich übrigens auch nicht.«
Oma schaut Opa tief in die Augen. Der nickt.
»Ja, so seid ihr jungen Leute«, lächelt Oma. »Aber wir haben uns etwas ausgedacht, um euch eine Hochzeit schmackhaft zu machen.«
Opa stößt mit dem Stock auf den Boden. »Nur ordentliche Verhältnisse führen zu Erfolg. Ich habe deine Großmutter in jungen Jahren geehelicht und es nicht bereut. Ich habe auch schwierige Zeiten durchgemacht. Da hat deine Oma mir immer den Rücken freigehalten. Es geht nichts über eine gesunde Ehe.«
Was meine Großeltern da sagen, kommt mir Spanisch vor. Was wollen die von mir? Gleich soll ich es erfahren.
»Es hat uns sehr missfallen, wie sich dein Vater in seiner Studentenzeit verhalten hat. Zum Schluss hat seine Rumtreiberei« – Oma wirft Gerhard einen finsteren Blick zu – »doch ein gutes Ende gefunden. Aber da mussten wir nachhelfen. Wir haben deinen Eltern dieses Haus geschenkt, damit sie heiraten. Im Grunde sind alle Menschen Kapitalisten, auch wenn sie anders daherreden.« Sie lächelt finster.
Was haben die bloß mit Heiraten. Onkel Udo hat in diesem Moment die Augen geschlossen, so dass ich ihm problemlos seinen Jägermeister klauen kann. Das Zeug schmeckt wirklich gut, finde ich jetzt. Nicht zu süß, nicht zu bitter, was will man mehr von einer Spirituose?
»Dein Vater hatte ja mit deiner Mutter eine feste Freundin, bei der man erwarten konnte, dass die Ehe hält. Bei dir Timo, kennen wir deine Nadine nicht persönlich. Deine Eltern erzählen zwar, dass sie ein nettes Mädchen ist. Aber ansonsten macht sie sich rar. Vielleicht will sie nichts mit deiner Familie zu tun haben. Nun gut. Die Zeiten haben sich geändert, die Frauen auch. Deine Großeltern sind durchaus moderne Menschen. Um es kurz zu machen: Wir schenken dir zweihunderttausend Euro, wenn du dich innerhalb von drei Monaten verlobst. Es muss nicht diese Nadine sein. Aber wir möchten gerne Urenkel haben.«
Mein Vater schluckt. »Ihr könnt meinen Sohn nicht kaufen. Der verdient sein eigenes Geld. Wenn er sich verlobt, tut er das aus freien Stücken.«
»Dich haben wir auch durch unser kleines Geschenk positiv beeinflusst«, sagt Oma kalt. »Jetzt hältst du den Mund, Gerhard.«
»Und als Zubrot«, grinst Opa »erhältst du einen Posten im Aufsichtsrat meiner Firma. Dann weiß ich, dass sich zumindest einer mit dem Familienerbe auseinandersetzt. Das gibt neben deinem Zeitungsgehalt ein schönes Sümmchen, mit dem du locker vier Personen ernähren kannst.«
Ich nehme die Jägermeisterflasche, setze an und trinke. Nach einer gefühlten Minute setze ich ab und komme mir sternhagelvoll vor.
»Jungchen«, sagt Oma. »Mit dem Alkohol solltest du dich etwas zurückhalten.«
Mensch, was wollen die von mir? Ich bekomme nichts gebacken. Keinen Studienabschluss, kein Job, keine Freundin. Wie soll ich in drei Monaten verlobt sein. Wenn ich nicht so breit wäre, hätte ich Panikattacken. Aber so ist mir alles egal.
»In dr-ei Monnaden bin isch verlobt«, lalle ich. »Oppa, mach den Scheck fettig.«
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