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Nichtsdestoweniger sehen wir Rousseau nirgends bei jener Aktivität, die für den religiösen Fundamentalismus essentiell ist: der Reaktivierung und Mobilisierung der religiösen Tradition. Seine ganze Anstrengung richtet sich vielmehr darauf, diese Tradition zu entwerten, sie als religiöse Quelle zu entkräften (Cassirer 1991, 46). Rousseau verwirft die Offenbarungen, weil in ihnen Gottes Wort durch die Stimme des Menschen verfälscht werde. Er bezweifelt die Autorität der Propheten und der Kirchenväter, attackiert das Interpretationsmonopol der Theologen und die Überzeugungskraft der heiligen Texte (DI 389). Dem Literalismus, der überall eine Wurzel des religiösen Fundamentalismus ist, erteilt er eine Absage, wie sie schroffer nicht sein könnte: „Immer Bücher! Welch eine Manie! Weil Europa voll Bücher ist, betrachten die Europäer sie als unentbehrlich, ohne zu bedenken, daß man auf drei Vierteln der Erde niemals ein Buch gesehen hat. Sind nicht alle Bücher von Menschen geschrieben worden? Wozu braucht sie also der Mensch, um seine Pflichten kennenzulernen?“ (Emile 322/620)
Rousseau verwirft indes nicht nur die Tradition, an der eine Revitalisierung der Religion anzusetzen hätte. Er versperrt zugleich den Weg in die Weltablehnung, der zwar nicht die großen Kulturreligionen schlechthin charakterisiert, wohl aber ihre fundamentalistischen Umdeutungen. Rousseau übernimmt weder die gnostische Negativierung des Kosmos noch die patristische Modifikation derselben, nach der die Welt nicht an sich, sondern nur durch den Sündenfall böse sei. Er schließt sich statt dessen der spezifisch neuzeitlichen ontologischen Theodizee an, nach der Gott ebenso wie die von ihm geschaffene Welt gut ist (Kondylis 1979, 120 ff.). Kein böser Demiurg hat die Welt als ein von Grund auf miserables, vernichtungswürdiges Werk geschaffen; keine Erbsünde hat sie bis zum Jüngsten Gericht befleckt. Vielmehr: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen“ (Emile 9/245).
Rousseaus Insistenz auf der ursprünglichen Güte der Natur und des Menschen verbietet es, ihn in eine direkte Kontinuität mit dem religiösen Radikalismus zu stellen, wie dies Eric Voegelins Auffassung vom gnostischen Charakter der Aufklärung entspricht (Voegelin 1959, 10). Für ihn ist die Welt kein gottfernes Zwangssystem, Gefängnis oder Labyrinth, aus dem es zu entfliehen gilt. Sie ist ganz im Gegenteil ein Spiegelbild des Schöpfers, dessen Bonität sowohl für den Anfangszustand verbürgt ist, in dem die Menschen noch den Tieren nahe sind, als auch für einen großen Teil der folgenden Geschichte. Im Streit mit Voltaire über das Erdbeben von Lissabon hat Rousseau sich denn auch folgerichtig auf die Seite von Leibniz und Pope gestellt und Voltaires negative Verbindung von Gott und Natur zurückgewiesen (Brief an Herrn von Voltaire: Rousseau 1978, Bd. I, 315 ff./1059 ff.).
Die fehlende Weltablehnung, an der ein religiöser Fundamentalismus ankristallisieren könnte, wird durch eine um so vehementere Zeitablehnung kompensiert, die sich auf beinahe sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen erstreckt. Schon der Erste Diskurs greift das Selbstverständnis der Epoche frontal an, indem er bezweifelt, daß der Fortschritt der Wissenschaften die Tugend gefördert habe. Die folgenden Schriften relativieren diesen Vorwurf, erweitern aber die Anklage eher, indem sie nun auch andere Faktoren für die allgemeine Verderbtheit verantwortlich machen: das Privateigentum und die Arbeitsteilung, den Handel und die Entdeckungsfahrten, das Bevölkerungswachstum und die großen Städte; das Bedürfnis, mehr zu haben, als man zum Leben braucht; das Streben nach Ungleichheit, nach Reichtum, nach Macht. Rousseau macht seiner Zeit den Prozeß; und sein Urteil fällt so vernichtend aus, daß er nicht wenigen Zeitgenossen als ein moderner Anachoret erscheint, als ein politischer Sonderling, „der die Sekte des Diogenes nach zwei Jahrtausenden wieder zum Leben erweckt“8.
In seiner Verwerfung der Gegenwart stützt sich Rousseau auf verschiedene Gründe. Im Ersten Diskurs orientiert er sich an der Idee einer wahren, von der vertu durchdrungenen Kultur, in der die Handlungen des Menschen nicht zu eigengesetzlichen Sphären verdichtet, sondern Ausdruck seines Inneren, seines authentischen Selbst sind. Der Kern des ‚Rousseauismus‘ wird genau hier liegen: im Appell an die Ganzheit, im Wunsch, „die Trennungen des Subjekts von den gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierungen weitestgehend rückgängig zu machen, dem ‚homme‘ des gesellschaftlichen Zustands seine größtmögliche Authentizität und Unmittelbarkeit wiederherzustellen“ (Link-Heer 1986, 147). Im Zweiten Diskurs fungiert als Maßstab zunächst die Fiktion eines reinen Naturzustands, in dem die Menschen isoliert, ohne Sprache, ohne Familie, ohne Sozialverbände leben und eben deshalb gut sind; später das Konzept eines modifizierten, durch diverse ‚Revolutionen‘ veränderten Naturzustands, der durch eine die natürliche Unabhängigkeit nicht tangierende, ergo: gute Vergesellschaftung bestimmt ist (DI 301, 195). Von dieser Epoche, die durch Seßhaftigkeit, Sprache, Familien- und Nationsbildung, Differenzierung der Geschlechter und Vorformen des Eigentums geprägt ist, heißt es ausdrücklich, sie sei die glücklichste und dauerhafteste gewesen, da sie die rechte Mitte zwischen der Indolenz des Anfangszustands und der Entfesselung der Eigenliebe gehalten habe:
„Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr findet man, daß dieser Zustand der am wenigsten den Revolutionen ausgesetzte, der beste für den Menschen war und daß der Mensch nur aufgrund irgendeines unheilvollen Zufalls aus ihm herausgetreten sein muß, der sich zum allgemeinen Nutzen niemals hätte ereignen sollen. Das Beispiel der Wilden – die man beinahe alle an diesem Punkt angetroffen hat – scheint zu bestätigen, daß das Menschengeschlecht dazu geschaffen war, für immer in ihm zu verbleiben; daß dieser Zustand die wahrhafte Jugend der Welt ist; und daß alle späteren Fortschritte dem Scheine nach ebenso viele Schritte hin zur Vollendung des Individuums und in Wirklichkeit zum Verfall der Art gewesen sind“ (DI 193 f.).
Um angesichts dieses, in seinen Augen unumkehrbaren Verfalls der ‚guten Vergesellschaftung‘ noch über eine Einspruchsinstanz zu verfügen, rekurriert Rousseau nach dem Zweiten Diskurs zunehmend auf eine Eigenschaft des Individuums – eine Eigenschaft, die zwar auch dem historischen Wandel, insbesondere der Entwicklung der Einbildungskraft und des Verstandes, unterworfen sein, darüber hinaus aber über ein transhistorisches, in der anthropologischen Grundausstattung verankertes Fundament verfügen soll: das Gewissen. Rousseau übernimmt es aus der christlichen Tradition, wandelt es jedoch gründlich um. Es ist nicht mehr, wie bei den Gnostikern, der göttliche Funken, der den mit ihm Begabten den Ausweg aus dem Gefängnis der Welt eröffnet, nicht mehr, wie bei den kirchlichen Theologen, die Stimme eines jenseitigen Gottes als einer im nachhinein verurteilenden wie Gnade gewährenden Instanz; vielmehr ist es ein dem Menschen angeborenes Gefühl, eine spontane Fähigkeit, Handlungen im vorhinein, ohne Blick auf göttliche Belohnungen oder Strafen, als gut oder böse zu beurteilen, ein Mechanismus der Selbstüberwindung, der aus eigener Kraft das Opfer vollbringt und dafür schon im Diesseits ein Stück der ewigen Seligkeit empfängt: das gute Gewissen (Kittsteiner 1991, 277). Gott ist aus einer außerweltlichen zu einer innerweltlichen Größe geworden, zu einem Teil des Menschen, der sich sichtend und richtend auf seine übrigen Teile bezieht. Er hat damit selbst seine älteren Hierophanien in schwer verständlichen und mehrdeutigen Texten überflüssig gemacht und spricht nunmehr unmittelbar durch den guten Willen: Alle diejenigen, die an Gott glauben, so Rousseau in einem Brief aus dem Jahr 1769,
„meinen um des Heils willen, darauf mit einem Glaubenssatz antworten zu müssen, und sie antworten mit der Offenbarung. Ich, der ich an Gott glaube, ohne diesen Glauben für notwendig zu halten, sehe nicht, warum Gott ihn uns hätte geben müssen. Ich glaube, daß ein jeder einst gerichtet wird, nicht nach seinem Glauben, sondern nach seinen Taten, und ich glaube nicht, daß es zu Werken eines Lehrgebäudes bedarf, da es an seiner Statt das Gewissen gibt“9.
II.
Die Linie, auf der sich die Metamorphose des Fundamentalismus vollzieht, ist klar zu erkennen. Anstelle der alten religiös motivierten Weltablehnung tritt eine Kampfansage an die Gegenwart, die sich teils am reinen Naturzustand, teils an dessen Rudimenten orientiert; anstelle der buchstäblich interpretierten Offenbarung das Gewissen; anstelle der Kommunikation mit einem transzendenten Gott die ‚moralische Instrumentalisierung Gottes‘, die diesen zum Stifter einer rein innerweltlichen, von allen gut gesinnten, der Stimme ihres Herzens folgenden Laien zu verstehenden Moral erhebt (Kondylis 1986, 371). Zwar ließe sich argumentieren, daß Rousseau auch die Moral zu den entarteten Formen der Gesellschaftlichkeit rechnet, insofern er die Verteilung von Achtung und Mißachtung als ‚ersten Schritt hin zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster‘ identifiziert (DI 189). Doch erfolgt dieser Angriff auf einen Moralcode im Namen einer ebenfalls moralischen Codierung, die um die Unterscheidung von gut/schlecht bzw. gut/böse kreist. Die öffentliche Wertschätzung wird als böse perzipiert, weil sie den Menschen von anderen Personen, deren Meinungen, Absichten und Gefühlen abhängig macht; wodurch sie ihm das nimmt, was seine Stärke und Güte ausmacht: seine Unabhängigkeit (Meier, in: Rousseau 1993, LXV). Die Kritik an der Moral bleibt damit eine innermoralische, immanente Kritik, die den Code gut/böse gegen den Code Achtung/Mißachtung ausspielt.
Fundamentalistisch wird diese Position in dem Augenblick, in dem sich der Appell an den guten Willen mit dem Versprechen verbindet, das Böse, die Quelle allen Unheils, aus der Welt zu schaffen. Der erste Schritt hierzu wird getan, wenn ein ‚höherer Geist‘, der Gesetzgeber, die Aufgabe übernimmt, „gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum, das für sich ein vollendetes und einzeln bestehendes Ganzes ist, zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält; die Beschaffenheit des Menschen zu seiner eigenen Kräftigung zu verändern und an die Stelle des leiblichen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur empfangen haben, ein nur teilweises und geistiges Dasein (une existence partielle et morale) zu setzen“ (CS 46/381).
Die Überwindung des entarteten Naturzustands ist möglich, so Rousseaus Botschaft, wenn die durch die gleiche Entwicklung gesteigerte Vernunft sich in einem herausragenden Individuum inkarniert, das dann alle übrigen dazu zwingt, „ihren Willen der Vernunft anzupassen“ (CS 44/380). Ist eine solche Anpassung einmal erfolgt, haben sich die Menschen ihrer Sonderinteressen begeben und ganz auf das Allgemeine ausgerichtet, so kann der Gesellschaftsvertrag geschlossen werden – ein Vertrag, bei dem sich die Individuen so, wie sie sind, ohne jeden Vorbehalt, restlos der Gesamtheit überantworten, um dafür im Gegenzug von dieser als untrennbare Momente des Ganzen aufgenommen zu werden. Durch diesen Vertrag tritt an die Stelle der einzelnen Personen ein geistiger Gesamtkörper (un corps moral et collectif), der über ein gemeinsames Ich (moi commun) verfügt (CS 19/361).
Gewiß: die hier anvisierte Verschmelzung ist nicht vollkommen. Als moralisch-körperliche Doppelwesen können die Menschen nur ihre moralische, nicht aber ihre physische Vereinzelung aufheben, woraus sich eine unvermeidliche Spaltung ergibt: als citoyens sind die einzelnen Glieder des Kollektivsubjekts, als sujets dagegen isolierte Untertanen. Unbedingten Vorrang aber genießt in dieser Konstellation zweifellos das moi commun, ist doch nur sein Wille der allgemeine Wille, dem gegenüber dem Willen der einzelnen wie auch gegenüber der volonté de tous allein Wahrheit zukommt (CS 32/371). In ihm finden die Menschen in dieser Welt, was die religiöse Tradition nur jenseits derselben für möglich hielt: Absolutheit, Unfehlbarkeit, Unzerstörbarkeit. So endet, was als humane Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus begonnen hatte, mit einem erneuten Erlösungsversprechen, das nun ganz innerweltlich formuliert ist:
„Wenn die bisherige Zwangsform der Gesellschaft fällt, und an ihre Stelle die freie Form politisch-ethischer Gemeinschaft tritt – eine Form, in der jeder, statt der Willkür anderer unterworfen zu sein, nur dem allgemeinen Willen, den er als seinen eigenen erkennt und anerkennt, gehorcht – dann ist die Stunde der Erlösung gekommen. Aber vergeblich wird diese Erlösung durch äußere Hilfe erhofft. Kein Gott kann sie uns bringen; sondern der Mensch muß zu seinem eigenen Retter und im ethischen Sinne zu seinem Schöpfer werden. Die Gesellschaft hat in ihrer bisherigen Form der Menschheit die tiefsten Wunden geschlagen; aber sie allein ist es auch, die diese Wunden heilen kann und heilen soll“ (Cassirer 1989, 39).
Aus Cassirers Beschreibung geht klar hervor, daß der anvisierte Erlösungsweg derjenige der Selbsterlösung ist. Das läßt sich jedoch noch weiter eingrenzen. Von den verschiedenen Pfaden, in die sich dieser Weg gabelt, scheidet derjenige des Ritualismus aus, da die für Rousseau charakteristische Hinwendung zur moralischen Empfindsamkeit stets mit einer Abwendung vom Ritual einherzugehen pflegt (Douglas 1981, 37). Wegen der für den Deismus typischen Zurückweisung des göttlichen Voluntarismus, die sich bei Rousseau wie bei einigen anderen Deisten bis zu einer Neutralisierung Gottes zuspitzt (Kondylis 1986, 371 f.), kann man auch die beiden Heilswege der Askese und der Kontemplation ausschließen, die die Annahme eines allmächtigen, überweltlichen Gottes zur Voraussetzung haben. Asketische Züge im weiteren Sinne des Wortes, wie sie sich etwa im Konzept einer ‚natürlichen Askese‘ finden (Plake 1991, 14 ff.), sind damit freilich ebensowenig geleugnet wie mystische Elemente: erinnert sei hier nur an das von Rousseau mehrfach beschriebene Erleuchtungserlebnis von Vincennes im Jahre 1749, aus dem die beiden Diskurse und der Emile hervorgegangen sind (Ritter, in: Rousseau 1978, Bd. I, 7 ff.).
Es bleiben die Erlösung durch soziale Leistungen und durch Selbstvervollkommnung/Selbstvergottung. Für das erstere spricht das große Gewicht, das Rousseau der Brüderlichkeit zumißt, die er im Brief an Beaumont aus dem Christentum ableitet (ebd., 536), gleichwohl ganz unchristlich versteht, indem er sie von der Erbsünde und der Willkür der Gnade abkoppelt. Bei näherer Betrachtung aber wird deutlich, daß die sozialen Leistungen keinen Eigenwert haben, vielmehr eine Art offshoot der Selbstvervollkommnung darstellen, um die Rousseaus eigentliches Interesse kreist. Gewiß: sich in ein être moral zu verwandeln heißt aufzuhören, ein être absolu zu sein. Es heißt aber zugleich, dem göttlichen Instinkt zu folgen, der sich im moralischen Gewissen artikuliert und darauf drängt, alles Äußere, Mittelbare aufzuheben und in ein neues, größeres Selbst einzuschmelzen: das moi commun. Wenn dieses so eingerichtet ist, daß es den Kriterien der vollständigen Transparenz und der absoluten Genügsamkeit entspricht, haben wir es mit einer „Vorwegnahme des Reiches Gottes“ zu tun, wie sie Rousseau am Beispiel von Clarens in der Nouvelle Heloise geschildert hat (Starobinski 1988, 168). Im Prinzip kann dieses Ziel aber auch von einem einzelnen erreicht werden, der die vollkommene Ruhe der Genügsamkeit gewonnen hat. In der fünften ‚Träumerei eines einsamen Spaziergängers‘, die der Erinnerung an seinen Aufenthalt 1765 auf der Insel St. Peter im Bieler See gewidmet ist, beschwört Rousseau jene Augenblicke, da er im Kahn liegend oder am Ufer sitzend auf den See blickte:
„Und was genießt man in einer solchen Lage? Nichts, das außer uns selbst wäre, nichts als sich selbst und sein eigenes Dasein, und solange dieser Zustand währt, ist man, wie Gott, sich selbst genug“ (Rousseau 1978, Bd. II, 699).
III.
Es liegt auf der Hand, daß ein solches Verständnis von Erlösung der Verwirklichung des Gesellschaftsvertrags kaum zu überwindende Hindernisse in den Weg legt. Die Bürger, die ihn schließen sollen, müssen in möglichst identischen Verhältnissen leben, um nicht in wechselseitige Abhängigkeit zu geraten; sie müssen über größtmögliche Autarkie verfügen, denn nur, wenn sie sich selbst mit ausreichenden Subsistenzmitteln versorgen können, besteht die Gewähr dafür, daß sie frei sind. Lohnarbeit, komplexere Technologien und Luxusproduktion sind damit ausgeschlossen, ebenso Handel, Wucher, Profitstreben: „Aber gebt nur Geld her und man wird euch bald mit Ketten lohnen. Das Wort Finanzen ist ein Sklavenwort und in einem wirklichen Gemeinwesen unbekannt. In einem wahrhaft freien Land tun die Bürger alles mit ihren Armen und nichts mit dem Geld; weit entfernt, sich von ihren Pflichten freizumachen, würden sie noch dafür bezahlen, sie persönlich zu erfüllen“ (CS 106/429).
Eine weitere Voraussetzung scheint schließlich in einen ausweglosen Zirkel zu führen. Damit die Individuen sich zu der vom Contrat Social projektierten Gesellschaft zusammenschließen, ist verlangt, daß sie nicht durch eine lange Sklaverei, durch Luxus und Laster korrumpiert sind. Sie müssen, um die Vorteile des Zusammenschlusses überhaupt erkennen zu können, schon vorher über die erforderliche Vaterlandsliebe und den nötigen esprit social verfügen, um ihr Privatinteresse hintan zu stellen und sich vorbehaltlos dem Ganzen auszuliefern, was aber voraussetzte, daß die Wirkung zur Ursache würde, „daß der gesellschaftliche Geist, der das Werk der Verfassung sein soll, selbst den Vorsitz in der Verfassung führen sollte, und daß die Menschen schon vor dem Bestehen der Gesetze das wären, was sie erst durch dieselben werden sollen“ (CS 48/383). Allein ein solches Volk ist nach Rousseau zur Annahme von Gesetzen fähig, das durch Einheit des Ursprungs, der Interessen oder der Übereinkunft verbunden ist, ein Volk, das noch nicht das Joch der Gesetze getragen hat, nicht von Gewohnheiten und Aberglauben beherrscht wird, von seinen Nachbarn nichts zu befürchten hat und sich selbst zu genügen vermag; ein Volk schließlich, in dem jeder jedem bekannt ist und niemand eine schwerere Last zu tragen hat, als er vermag. Alle diese Bedingungen, bemerkt Rousseau, fänden sich selten beieinander, weshalb auch so wenige Staaten eine gute Verfassung hätten (CS 57 f./390 f.). Müssen wir angesichts solcher Bedingungen den Contrat Social nicht als eine chimère de spéculation ansehen, als eine leere Vorstellung, der keine geschichtliche Realisierungsmöglichkeit entspricht, weil sie das, was sie voraussetzt, immer erst selbst zu erbringen hat?
Rousseaus Haltung in dieser Frage ist ambivalent. Auf der einen Seite ist er Realist genug, um einzusehen, daß in entwickelten Großstaaten wie Frankreich die Chancen für eine Verwirklichung des Gesellschaftsvertrags nicht mehr gegeben sind und auch durch politische Eingriffe nicht wiederhergestellt werden können. Die menschliche Natur, schreibt er in einer späten Verteidigungsschrift, gehe nicht wieder zurück und niemals kehre man in die Zeiten der Unschuld und Gleichheit heim, wenn man sich einmal von ihnen entfernt habe. Es sei daher nie seine Absicht gewesen, zahlreiche Völker und große Staaten zu ihrer ursprünglichen Einfalt zurückzuführen, sondern lediglich, den Fortschritt derer aufzuhalten, deren Kleinheit und Lage dies noch ermögliche (Rousseau 1978, Bd. II, 569 f.). ‚Konservativ‘ ist dies nur dann, wenn man diesen Begriff in einem rein formalen Sinne versteht. Auf jeden Fall ist es eine Barriere gegen fundamentalistische Intentionen, da es darauf verzichtet, das Gestaltungspotential der Moral gegen den Status quo zu mobilisieren.
Auf der anderen Seite hält Rousseau unter bestimmten Bedingungen den Gesellschaftsvertrag doch für möglich. In Frage dafür kommen einmal die erwähnten Gemeinwesen, die über die erforderlichen Bedingungen der Kleinheit und der Lage verfügen – die Bauern des Wallis, die montagnons in der Nähe von Neuchâtel, Städte wie Genf oder eine Insel wie Korsika, das Rousseau schon im Contrat Social als das einzige Land in Europa bezeichnet, das noch einer guten Gesetzgebung fähig sei (CS 58/391). Für die Korsen, die ‚noch fast im Naturzustand leben und gesund sind‘, schreibt er 1765, aufgefordert von korsischen Patrioten, das Projet de la Constitution pour la Corse, in dem er die Grundideen des Gesellschaftsvertrags zum Verfassungsmodell einer agrarischen Demokratie konkretisiert, das alle negativen Tendenzen der Moderne eliminiert: Großgrundbesitz, Handel, Luxus, Konkurrenz, Mobilität, Herrschaft der Stadt über das Land (Rousseau 1981, 509 ff./901 ff.).
Im Unterschied zu diesen Beispielen bezieht sich Rousseaus Schrift über die Regierung Polens auf ein Land, das bereits sehr weit von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit entfernt ist. Es handelt sich um einen großen Flächenstaat mit starker Polarisierung zwischen arm und reich, ausgeprägten Herrschaftsbeziehungen bis hin zur Leibeigenschaft sowie einer Anarchie, wie sie für das Auflösungsstadium des Naturzustands charakteristisch ist. Rousseaus Empfehlungen kommt deshalb eine Bedeutung zu, die weit über seine sonstigen, eher ‚katechontischen‘ Ratschläge hinausgeht. Der polnische Staat soll in seinem Umfang erheblich reduziert und in eine Föderation kleinerer Staaten verwandelt werden. Das ökonomische System soll auf den Primat der Landwirtschaft ausgerichtet und so organisiert werden, daß möglichst wenig Geld gebraucht wird. Die Verwaltung soll vereinfacht werden, indem man die Beamtenbesoldung auf Naturaldeputate umstellt, die nötigen Infrastrukturmaßnahmen über Frondienste abwickelt und die staatlichen Geldleistungen minimiert. In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, das stehende Heer abzuschaffen und die Verteidigungsaufgaben einer Miliz zu übertragen.
Um die soziale Kohäsion zu sichern, soll der Abbau der Organisationen durch einen Ausbau des Erziehungswesens und eine Aktivierung des Patriotismus kompensiert werden. Rousseau propagiert eine Pädagogik, die ihre Objekte in permanenter Bewegung hält; eine ebenso permanente Mobilmachung der Bürger für die Sache des Vaterlandes in öffentlichen Festen, Kulten und Zeremonien; die rigorose Verbannung aller Zerstreuungen; die Etablierung gesellschaftlich verbindlicher Formen der Ächtung; und die Einschwörung der Bürger auf jene religion civile, für deren Verletzung schon der Contrat Social die drakonischsten Strafen vorsieht (CS 156/468). Und wie auch anders: Wenn der allgemeinste Wille immer der gerechteste und die Stimme des Volkes die Stimme Gottes ist (EP 232/246), kann, wer ihr nicht folgt, nur ein Teufel sein. Und gegen Teufel ist das härteste Mittel gerade recht.
Der moralische Fundamentalismus, das zeigen Rousseaus Vorschläge überaus deutlich, zielt nicht auf die Fundamente der schlechten Vergesellschaftung. Es gehe nicht darum, heißt es in der Korsika-Schrift, das Privateigentum völlig aufzuheben, sondern nur darum, es zu bändigen und dem öffentlichen Wohl unterzuordnen (Rousseau 1981, 541/931). Ebensowenig, präzisiert die Polen-Schrift, sei geplant, die Geldzirkulation zu unterdrücken; sie solle nur verlangsamt und von den polarisierenden Wirkungen auf die Sozialstruktur abgekoppelt werden (ebd., 621/1007 f.). Das Mittel für diese Zähmung der Wirtschaft ist die Hypertrophie der Moral: die öffentliche Belobigung der Gutmenschen durch Zensur- und Wohltätigkeitsausschüsse, die zu permanenter Buchführung über ihre Untertanen aufgefordert werden, die Manipulation der Meinungen, die – zwar nicht explizit geforderte, aber implizit in Kauf genommene – Diskreditierung derjenigen, die es an Einsatz fehlen lassen (ebd., 638/1025). Hobbes hatte sich noch damit begnügt, lediglich die Handlungen der Menschen durch den Leviathan kontrollieren zu lassen. Rousseau dagegen weiß, daß ein moralischer Staat auch auf das Innere Zugriff nehmen muß:
„Wenn es gut ist, zu wissen, wie man sich der Menschen, so wie sie sind, bedienen soll, so ist es noch weit besser, sie so zu bilden, wie man sie nötig hat. Die uneingeschränkteste gesetzmäßige Macht ist diejenige, welche bis in das Innerste des Menschen dringt und nicht weniger auf den Willen als auf die Handlungen einwirkt. Es ist gewiß, daß die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht“ (EP 237 f./251).