- -
- 100%
- +
»Sieht nach unglaublichem Hass aus«, stellte Kriminalhauptkommissar Schröder gerade fest, als Heitkamp und Lenz den Raum betraten.
Auf einem Smartboard lief eine Diashow mit Tatortfotos ab, bei der viel Blut und wenig Mensch zu erkennen waren. Um einen u-förmigen Tisch saßen drei Männer und kritzelten Notizen auf ihre Blöcke, eine junge Frau tippte flink auf einem Tablet herum.
Schröder ignorierte die Neuankömmlinge und fuhr fort: »Der Täter hat gezielt den Kopf des Opfers zerstört und die Hände. Man darf annehmen, dass er dadurch eine Identifizierung zumindest erschweren wollte. Außerdem gibt es frische Verletzungen auf dem Rücken, die auf Folter hinweisen und offenbar von einer Peitsche herrühren. Genaueres wird die Obduktion ergeben.«
Lenz betrachtete das aktuelle Foto und war sofort wie elektrisiert, als er den völlig zermalmten Schädel sah, beziehungsweise das, was einmal ein Schädel gewesen sein musste. Das war mal was anderes als die Schuss- und Stichverletzungen, mit denen er es in den letzten Jahren im Hammer Südstraßen-Milieu überwiegend zu tun gehabt hatte.
»Dürfen wir kurz stören?«, unterbrach Kriminaldirektor Heitkamp ungeduldig, wobei sein Tonfall schon voraussetzte, dass ein Nein undenkbar war. Entsprechend wartete er nicht auf eine Antwort. »Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen den neuen Leiter des Kriminalkommissariats 1 vorstellen. Kriminalhauptkommissar Lenz wechselt von der Polizeidirektion Hamm nach Paderborn und wird am Montag seinen Dienst bei uns antreten. – Herr Lenz, das hier ist also Ihre neue Mannschaft.«
Als wäre gerade eben eine Handgranate explodiert und hätte nichts als Vernichtung hinterlassen, herrschte augenblicklich absolute Stille im Raum. Alle Augen richteten sich distanziert auf Lenz. Dann machte sich Gemurmel breit und die Kollegin und Kollegen blickten KHK Schröder an, als erwarteten sie von ihm nun eine eindeutige Reaktion. Der stand jedoch wie versteinert vor dem Smartboard und war offenbar zu keiner Regung in der Lage.
Oha, dachte Lenz, der hat bis eben geglaubt, dass er den Job kriegt. Er deutete Heitkamp mit dem Kopf an, dass er ihn auf dem Flur zu sprechen wünsche. Irritiert wanderten die Augen des Kriminaldirektors zwischen Lenz und Schröder hin und her, dann nickte er kurz und trat hinaus. Lenz folgte und zog die Tür hinter sich zu.
»Auf ein Wort, Herr Kriminaldirektor«, begann Lenz und blickte seinem Vorgesetzten direkt in die Augen. »Ich bin es von meinen bisherigen Dienststellen in Dortmund und Hamm so gewohnt, dass nichts hinter dem Rücken der Kollegen geschieht. Und ich bin ein Verfechter des offenen Wortes. Deshalb muss ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Vorgehensweise nicht in Ordnung finde.«
Kriminaldirektor Heitkamp fixierte Lenz mit hochgezogenen Brauen. »Wie darf ich das verstehen?«, fragte er mit lauerndem Unterton.
»Ich hatte eben den Eindruck«, fuhr Lenz unbeirrt fort, »dass kein Mensch in meiner neuen Abteilung darauf vorbereitet worden ist, jemanden von außen vor die Nase gesetzt zu bekommen. Das geht nicht. Es erschwert meine Arbeit hier, bevor ich noch richtig angefangen habe. Und ich kann es noch nicht einmal jemandem verübeln, wenn er mich im Regen stehen lässt, denn Ihr Vorgehen ist in höchstem Maße unkollegial den anderen Anwärtern gegenüber. In Zukunft erwarte ich von Ihnen, dass Sie mir und meinen Mitarbeitern mit offenem Visier begegnen. Schließlich erwarten auch Sie Loyalität von uns.«
Kriminaldirektor Heitkamps Augen hatten sich während der letzten Sekunden zu Schlitzen verengt. Sein Gesichtsausdruck war kalt und versteinert. »Herr Lenz«, entgegnete er mit drohend leiser Stimme, »Sie sind neu hier und kennen mich noch nicht, deshalb werde ich Ihnen diese Unverschämtheit nicht nachtragen. Aber lassen Sie sich für die Zukunft eines gesagt sein: Hier bei uns gilt der Richtspruch: ›Man beißt nicht die Hand, die einen füttert‹. Bedenken Sie das bitte, bevor Sie noch einmal derart subordinär werden.«
Damit wollte er sich grußlos entfernen, doch das ließ Lenz nicht zu. »Kann es sein, Herr Kriminaldirektor, dass Sie einem Irrtum unterliegen?«
Heitkamp drehte sich halb herum und schaute ihn erstaunt an. »Welcher Art sollte der sein?«
»Sie scheinen zu glauben, dass ich Ihnen Dank schulde, weil Sie mir die Leitung des Kommissariats anvertraut haben.«
Nun drückten Heitkamps groß aufgefahrene Augen so etwas wie Erstaunen darüber aus, dass jemand das anders sehen könnte als er.
»Dem ist aber nicht so«, fuhr Lenz standhaft fort. »Sie haben mich auf den Posten geholt, weil ich ein sehr guter Bewerber war und über erstklassige Beurteilungen verfüge. Das Einzige, was ich Ihnen dafür schulde, ist sehr gute Arbeit. Das hat für Sie den Vorteil, dass Sie mir für meine Dienstausübung ebenfalls nichts weiter schuldig sind, als dafür zu sorgen, dass ich die nötigen Kapazitäten zur Verfügung habe, und dass das Land mir mein Gehalt pünktlich überweist. Ich denke, auf der Basis lässt sich wunderbar zusammenarbeiten, solange ich nicht ständig das Gefühl haben muss, dass Sie noch etwas in petto haben.«
»Dann strengen Sie sich mal an, damit Sie auch Erfolge liefern, Herr Lenz, sonst sehe ich auf mittlere Sicht Schwarz für eine gute Zusammenarbeit. Der aktuelle Fall bietet Ihnen eine gute Gelegenheit dazu. Ich schlage vor, Sie fangen sofort an. Für mich sahen die Tatortfotos so aus, als würde die Bildung einer Mordkommission notwendig. Ich erwarte dann zeitnah Ihren Bericht. Guten Tag!«
Super Einstand, fluchte Lenz innerlich und blickte dem davoneilenden Kriminaldirektor nach. Dann zuckte er die Achseln und ging zurück in den Besprechungsraum.
Schröder hatte sich inzwischen offenbar gefangen und den Bericht fortgesetzt. Nun schaute er fragend auf. Lenz gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er sich nicht unterbrechen lassen solle, und setzte sich auf einen freien Stuhl. Die anderen Beamten fixierten betont angestrengt ihre Schreibblöcke, nur die junge Kollegin sah ungeniert neugierig zu Lenz herüber.
Schröder räusperte sich und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Der Tote konnte noch nicht identifiziert werden, weil er keine Ausweispapiere bei sich trug. Eine Anfrage bezüglich vermisster Personen bei den Kollegen läuft und bringt uns hoffentlich bald weiter. Solange wir noch keinen Anhaltspunkt haben, werden wir nach ähnlichen Fällen suchen, zunächst rückwirkend für die letzten zehn Jahre. Hier im Kreis Paderborn ist mir kein vergleichbarer Fall bekannt, deshalb beziehen wir die Nachbarkreise mit ein und zapfen auch die Datenbank des LKA an.«
Lenz ahnte, was in den Köpfen der Kollegen vor sich ging. Niemand vergrub sich gerne in alten Akten und stocherte im Ungewissen. Umso erstaunter war er über die Disziplin, die in dieser Dienststelle an den Tag gelegt wurde: Alle nickten zustimmend, niemand stöhnte oder verzog auch nur das Gesicht. Da war er aus Hamm Anderes gewohnt.
Schröder wechselte zu dem nächsten Foto, das einen blutigen Felsbrocken auf Kopfsteinpflaster zeigte. »Die Kriminaltechnik konnte inzwischen anhand eindeutiger Spuren nachweisen, dass der Stein, mit dem das Opfer erschlagen wurde, von dem bewaldeten Hang unterhalb der Burg stammt. Vielleicht lassen sich Fingerabdrücke darauf sichern, aber ich fürchte, die Chance, dass der Täter sich auf dem Stein verewigt hat, ist denkbar gering. Tja, Kollegen, mehr haben wir momentan leider noch nicht. Hat jemand eine Frage?«
»Wenn ich die Örtlichkeiten richtig vor Augen habe«, meldete sich einer der jungen Beamten zu Wort, »dann befindet sich der Tatort doch in der Nähe von Wohnhäusern.«
»Das ist richtig«, antwortete Schröder. »Gegenüber der Burgmauer befinden sich einige wenige Häuser, allerdings mit ihrer Rückseite. Von den Anwohnern hat niemand etwas gehört oder gesehen.«
»Was auf einen Tatzeitpunkt hindeutet, der irgendwann zwischen zwei Uhr nachts und fünf Uhr morgens liegen dürfte«, stellte der junge Kollege fest. »Also in einem Korridor, in dem der Täter nahezu sicher sein konnte, dass niemand mehr wach ist und noch keiner für die Frühschicht aufgestanden ist.«
»Davon ist auszugehen, ja.« Schröder nickte. »Allerdings ist die Umgebung der Burg auch nicht gerade das Zentrum des Dorfes. Wer nicht im Kreismuseum oder in der Jugendherberge arbeitet, benutzt die Zufahrtstraße nicht.« Er blickte in die Runde und wartete auf weitere Fragen. Als niemand Anstalten machte, sich zu Wort zu melden, sah er Lenz herausfordernd an.
Der nickte, stand auf und ging nach vorne. Er stellte sich neben Schröder und nahm der Reihe nach Blickkontakt zu jedem der Anwesenden auf.
»Liebe Kolleginnen und Kollegen«, begann er dann, »mir ist natürlich nicht entgangen, dass Sie von meinem Erscheinen überrascht worden sind. Ich war davon ausgegangen, dass Kriminaldirektor Heitkamp Sie vorher informiert hat. Nun gut … Dass das nicht geschehen ist, ändert nichts an der Tatsache, dass wir ab sofort zusammenarbeiten werden. Über die Struktur unseres Kommissariats mache ich mir Gedanken, wenn ich mir einen Überblick verschafft habe. So lange bleibt der Kollege Schröder übergangsweise mein Stellvertreter.«
»Was soll das heißen: übergangsweise?« Schröder drehte sich Lenz mit schräggelegtem Kopf halb zu und stemmte die Fäuste in die Seiten. Die leichte Röte seiner Wangen verriet, dass seine anfängliche Versteinerung sich in einen gesunden Zorn verwandelt hatte. »Ich bin der dienstälteste Beamte hier und habe das Kommissariat bisher stellvertretend und seit der Pensionierung Kriminalrat Schultes kommissarisch geleitet.«
»Das heißt genau das, was ich gesagt habe. Ich werde eine Neuordnung des Kommissariats vornehmen, sobald ich einen hinreichenden Überblick habe. – Und nun, Herr Kollege, stellen Sie mir bitte alle Anwesenden vor.«
Schröder hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. Er biss sich auf die Unterlippe und atmete schwer. Lenz ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich wieder zu fangen, und sah sich derweil um. Dabei entging ihm nicht, dass die junge Beamtin, die Mitte oder höchstens Ende zwanzig sein konnte, auffallend hübsch war mit ihren dunklen, nach hinten zum Pferdeschwanz zurückgebundenen Haaren und rehbraunen Augen. Sie hatte ein schlankes Gesicht mit deutlich strukturierenden Wangenknochen, aber nicht hager, sondern sehr schön proportioniert. Ihre fast schon provokativ körperbetonte Kleidung wirkte so sportlich wie leger: Zu einer dunklen Bluse, deren obere Knöpfe nicht geschlossen waren, trug sie knallenge Jeans und knöchelhohe dunkelrote Lederstiefel. Außerdem begegnete sie Lenz’ Blick mit einem spöttischen Grinsen, wie der nun peinlich berührt feststellen musste.
Schröder, der sich inzwischen wieder gesammelt hatte, stellte sie ihm als Kriminalkommissarin Gina Gladow vor. Die männlichen Beamten waren Kriminalkommissar Gisbert Henke und die Oberkommissare Jochen Steinkämper und Franz-Georg Jakobsmeier. Gemessen an ihrer Kollegin sahen sie durchschnittlich aus und wären Lenz auf der Straße sicher nicht näher aufgefallen. Allerdings schienen alle Beamten sich in einem Alterskorridor zwischen Mitte dreißig und vierzig zu bewegen, von Gladow und Schröder einmal abgesehen. Ein junges Team, dachte Lenz, da würde es ihm nicht schwerfallen, sich von Anfang an Respekt zu verschaffen. Nur mit Hauptkommissar Schröder musste er angesichts seines Dienstalters umsichtig sein, das war ihm klar.
»Danke, Herr Schröder.« Er wandte sich den jungen Kollegen zu. »Wir werden genau so verfahren, wie der Kollege Schröder vorgeschlagen hat, und erst einmal klären, wer das Opfer ist. Die Mordkommission wird vorerst von unserem Kommissariat gebildet. Die Arbeitseinteilung nimmt Herr Schröder vor, da er Ihre individuellen Kompetenzen besser einschätzen kann als ich. Sollte sich herausstellen, dass wir weitere Expertise aus anderen Abteilungen oder eventuell sogar aus benachbarten Kreisen benötigen, werden wir die Moko ausweiten. Sie, Kollege Schröder, leiten das gegebenenfalls unbürokratisch in die Wege. Ich möchte allerdings vorab informiert werden.«
Er sah zuerst Schröder und dann einem nach dem anderen kurz in die Augen, stellte aber keinen Widerspruch fest. »Gut. Sie, Frau Gladow, zeigen mir mein Büro und machen uns eine Verbindung mit der Rechtsmedizin. Meiner Erfahrung nach kann es nicht schaden, den Brüdern da etwas Druck zu machen. Alles klar so weit? – Keine weiteren Fragen? – Prima. Dann, Kollegen, an die Arbeit!«
»Entschuldigung, aber hat Kriminaldirektor Heitkamp nicht gesagt, dass Sie erst am Montag anfangen?«, wandte Schröder angriffslustig ein.
»Der Kriminaldirektor und ich haben es uns eben auf dem Flur anders überlegt.« Lenz’ Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er keinen weiteren Widerspruch duldete und auch nicht bereit war, die Veränderung näher zu erläutern. »Kommen Sie, Frau Gladow?«
Er ließ der Kollegin den Vortritt und folgte ihr, ohne sich weiter um Schröder zu kümmern. Wenn von Anfang an klar war, wer das Sagen hatte, würde die Zusammenarbeit in Zukunft umso besser klappen. Die Zügel lockern konnte er später immer noch. Das jedenfalls war Lenz’ Erfahrung. Und warum sollte, was überall gültig war, in Paderborn nicht funktionieren?
5
Die A 44 war dicht. Auf der ganzen Strecke vom Kreuz Wünnenberg-Haaren bis hinter Soest hatten Lkw die rechte Spur blockiert und jetzt, in der Baustelle vor dem Kreuz Werl, ging auch links absolut nichts mehr. Fabian Heller fluchte. Wäre er doch über Bielefeld und die A 2 in Richtung Dortmund gefahren. Aber davor hatte ihn der Verkehrslagebericht auf WDR 2 gewarnt. Von dem Stau auf der 44 war nicht die Rede gewesen. Auf nichts war mehr Verlass.
Da er also zum Stillstand verurteilt war, während in der Gegenrichtung jenseits der Mittelleitplanke der Verkehr reibungslos floss, nutzte er die Zeit, um den Prozessverlauf noch einmal zu rekapitulieren. Das würde ihm nachher beim Schreiben des Berichtes Zeit sparen.
Dieser Reinhold Hanning war also – mutmaßlich – an 170.000 Morden beteiligt gewesen. Er hatte gewusst, was passierte, und das Verbrechen aus eigener Entscheidung unterstützt. Zum ersten Mal hatte Heller jemanden live erlebt, der zu den Rädchen im Getriebe des Holocausts zählte. Und dann wirkte ausgerechnet dieser Mann so harmlos und überhaupt nicht wie eine Bestie. Offenbar war das Bild, das Heller aus dem Geschichtsunterricht und all den Hollywood-Filmen von den Naziverbrechern hatte, nicht so realitätsnah, wie es ihm bislang erschienen war. Vielleicht waren diese Massenmörder ja im Wesentlichen gar keine teuflischen Monster, sondern tatsächlich Menschen wie du und ich – genauso simpel, genauso armselig, genauso feige und hinterhältig, überhaupt nichts Besonderes.
Hanning war Jahrgang 1921. In den Anfangsjahren des Dritten Reichs war er im HJ-Alter gewesen und mit der braunen Milch gesäugt worden. Aber war das Erklärung genug? Andere junge Leute waren unter demselben Einfluss aufgewachsen und nicht zu Massenmördern geworden, auch nicht zu Hilfswillis der Henker. Hellers Eltern zum Beispiel. Was war bei denen anders gelaufen als bei Hanning?
Auf diese Frage konnten seine Eltern ihm nicht mehr antworten. Sein Vater war seit Langem tot und seine Mutter vor sechs Wochen gestorben. Er hatte die Chance verstreichen lassen, sie über ihre Kindheit auszufragen. Das war das Schicksal heute: Die Zeitzeugen starben langsam aus. Nach ihnen würde es keine Möglichkeit mehr geben, Fragen zu stellen und Antworten aus erster Hand zu bekommen. Genau deshalb waren Prozesse wie der gegen Reinhold Hanning ja so wichtig, weil sie eine letzte Chance darstellten und quasi in letzter Sekunde stattfanden.
Bei Heller zu Hause hatten sie früher nur sehr selten über die Kindheit der Eltern gesprochen, allenfalls wenn die Großmutter zu Besuch gekommen war. Die hatte oft von den Bombennächten erzählt, von der Flucht in den Hochbunker mit dem kleinsten Kind, Fabians Mutter, an der einen und dem Koffer mit den wichtigsten Papieren in der anderen Hand, während die größeren Kinder schon vorwegliefen und einen Platz im dicht besetzten Bunker sicherten. Und von den Verwandten in Medebach im Sauerland hatte die Großmutter geschwärmt, weil da keine Bomben gefallen und die Kinder dort im letzten Kriegsjahr sicherer gewesen waren.
Heller erinnerte sich an Fotos aus den Kindertagen seiner Mutter. Sie hatte wie ein unbeschwertes, glückliches Mädchen darauf ausgesehen. Während um sie herum die Nazis ihr mörderisches System errichtet und einen Vernichtungskrieg geführt hatten, hatte sie mit ihren Freundinnen genauso unschuldig gespielt, wie Kinder es heute taten. Das Bild eines kleinen Mädchens mit langen blonden Zöpfen tauchte vor Heller auf – in Schwarz-Weiß. Die Fotos gab es noch. Sie mussten sich in Alben irgendwo in den Schränken seiner Mutter befinden. Im Stau vor dem Kreuz Werl beschloss Fabian Heller, nicht in seine Wohnung, sondern zum Haus seiner Mutter zu fahren, um das er seit sechs Wochen einen großen Bogen gemacht hatte, und danach zu suchen.
6
Für den Landgerichtsbezirk Paderborn war das Institut für Rechtsmedizin in Münster zuständig. Allerdings musste der Leichnam nicht dorthin transportiert werden, sondern die Obduktion wurde, wie in solchen Fällen üblich, im Sektionssaal des Johannisstifts in Paderborn durchgeführt. Die Gerichtsmediziner aus Münster reisten normalerweise extra zu diesem Zweck an. Da Hermann-Josef Stukenberg aber bereits zum Tatort gerufen worden war, war er gleich vor Ort geblieben und hatte umgehend mit der Obduktion begonnen, wie Gina Gladow telefonisch erfahren hatte.
Als Lenz und seine junge Kollegin den Sektionssaal des Johannisstifts betraten, hatten Stukenberg und sein Gehilfe den Leichnam bereits der Länge nach aufgeschnitten und beugten sich gerade über das Innenleben des menschlichen Körpers. Der Gerichtsmediziner blickte nur kurz auf und nickte dem Kriminalbeamten zu.
Lenz stellte sich als neuer Leiter des Kommissariats vor, worauf Stukenberg schmunzelte und, ohne den Blick von ihm zu nehmen, sagte: »Sieh an, das Wunder ist tatsächlich geschehen?«
Was meint er?, bedeutete Lenz’ Blick an seine Kollegin, die aber nur mit den Schultern zuckte und die Lippen zusammenkniff. Mit dem Gefühl, dass hier etwas hinter seinem Rücken stattfand, das nicht unbedingt freundlich sein musste, erkundigte sich Lenz kurz angebunden nach ersten Untersuchungsergebnissen. »Oder seid ihr noch nicht so weit?«, schob er angriffslustig nach.
»Oh doch«, entgegnete Stukenberg, in dessen Gesicht dieses süffisante Schmunzeln eingemeißelt zu sein schien. »Wir haben sogar schon eine ganze Menge, sofern Sie mit äußeren Tatmerkmalen zufrieden sind. Die Sektion der Organe dauert noch etwas. Ich schicke euch dann den Bericht. Allerdings glaube ich nicht, dass wir da eine Überraschung erleben werden. – Kommen Sie mal einen Schritt näher, dann wird das alles für Sie deutlich plastischer.«
Stukenberg schob seinen Mitarbeiter sanft zur Seite. Nun wurde für Lenz das ganze eklige Ausmaß der Arbeit eines Rechtsmediziners sichtbar. Nicht nur, dass der Leichnam keinen Kopf mehr hatte – der bunte Mischmasch in einer schmalen Stahlwanne an dessen Stelle musste das sein, was Stukenbergs Männer vom Kopfsteinpflaster gekratzt hatten –, auch der Rest des Körpers sah einfach nur blutig, rissig und teilweise blau-schwarz verfärbt aus. Zudem hatten die Rechtsmediziner dem Körper bereits einige Organe entnommen, so dass der Brustraum einer blutigen Schüssel aus organischem Material glich.
»Lecker«, murmelte der Hauptkommissar.
»Nicht wahr?«, freute sich Stukenberg. »Wäre das hier ein Fernsehkrimi, hätte ich auch noch eine deftige Leberwurststulle in der Hand, aber das bleibt euch in der Realität zum Glück erspart. Also: Die Todesursache ist eindeutig, nämlich grobe Gewalteinwirkung mittels eines Felsbrockens auf den Schädel des Opfers, das zweifellos sofort tot war. Vorher wurden ihm aber noch beide Hände mit schweren Stiefeln zerquetscht und zwar, indem die Sohlen mehrfach auf dem Handrücken und den Fingern hin und her gedreht wurden. Spätestens der damit verbundene Schmerz dürfte dem Opfer gnädig die Sinne geraubt haben.«
Lenz hatte den Eindruck, dass der Rechtsmediziner einen ganz eigenen Spaß an seinem Beruf hatte.
»Anschließend ist der Täter auf den Rücken des Opfers gesprungen. Wirbelsäule mehrfach gebrochen, sämtliche Rippen zerborsten und in die inneren Organe gebohrt.« Er deutete auf unzählige weiß-gelbe Splitter, die in der blutigen Brühe schwammen. »Da hat sich einer so richtig ausgetobt. – Wie Sie unschwer erkennen können, handelt es sich übrigens um eine männliche Leiche.« Stukenbergs behandschuhter Zeigefinger wies auf die schrumpeligen Genitalien. »Der Mann dürfte etwa neunzig Jahre alt gewesen sein, eher noch etwas älter. Wir haben uns die äußerlichen Verletzungen genauer angesehen. Es gibt mehrere Altersstufen. Die jüngsten sind diese Risse hier, die vermutlich von einer mehrsträngigen Lederpeitsche herrühren.« Stukenberg drehte den Oberkörper etwas auf die Seite, ohne auf die Sauerei zu achten, die er damit auf dem Stahltisch anrichtete, und deutete auf Striemen, die aussahen, als wäre die Haut regelrecht aufgeplatzt. »Stofffetzen in den Wunden belegen, dass das Opfer sein Oberhemd trug, als es ausgepeitscht wurde. Dann haben wir aufgeplatzte Hautstellen, die von Stockschlägen herrühren, wobei das Opfer dabei offensichtlich nackt war. Unterschiedlich verkrustete Wunden dieser Art befinden sich auf dem Gesäß des Toten und im Bereich des unteren Rückens. Der Mann dürfte über einen Zeitraum von etwa drei Tagen immer wieder diesen Schlägen ausgesetzt gewesen sein, wobei die Haut auf unnatürliche Weise gespannt gewesen sein muss, denn sie ist über eine größere Länge regelrecht aufgeplatzt.«
»Das heißt, das Opfer wurde etwa drei Tage lang mit Stock- und Peitschenschlägen gefoltert«, fasste Lenz zusammen, »bevor es schließlich mit dem Stein erschlagen wurde.«
»Richtig. Und in dem Zusammenhang sind Fesselspuren an den Hand- und Fußgelenken von Bedeutung. Dabei handelt es sich nicht um übliche Fesselungsmaterialien wie Seile oder Kabelbinder, sondern um etwa zehn Zentimeter breite Lederriemen.« Stukenberg hielt eine Hand hoch, von der zerquetschte Fingerreste herabbaumelten, und deutete auf die blau angelaufenen Einblutungen am Handgelenk. »So etwas kennen wir sonst nur von den Fixierungen in psychiatrischen Anstalten. Das Opfer hat heftig an den Fesseln gezerrt, möglicherweise während es geprügelt wurde. Entsprechend finden sich in den Wunden an Hand- und Fußgelenken Lederpartikel, die aber auch erst noch genauer untersucht werden müssen.« Stukenberg ließ diese Erkenntnisse einen Moment im Raum stehen, als wollte er sicher sein, dass Lenz sie auch vollständig verarbeitet hatte, bevor er fortfuhr: »Kommen wir nun zur Tatwaffe: Der Stein ist etwa fünfzehn Kilogramm schwer und trägt ein paar Fingerabdruckfragmente, die ausschließlich vom Opfer stammen. So viel konnten wir aus den zertretenen Fingern noch abnehmen.«
»Moment«, unterbrach Lenz, »heißt das, das Opfer hat den Stein selbst an den Tatort getragen?«
»Genau das heißt es«, bestätigte Stukenberg. »Sofern wir nicht davon ausgehen wollen, dass die Abdrücke entstanden sind, als er sich selbst erschlagen hat.« Der Rechtsmediziner lachte trocken auf. »Und jetzt halten Sie sich fest, denn es kommt noch dicker: Der Stein stammt eindeutig vom Berghang unterhalb der Burg. Das Opfer hat ihn den ganzen Weg hinaufgeschleppt, was für einen Mann in dem hohen Alter eine fast übermenschliche Anstrengung gewesen sein muss. Allerdings hat er das nicht freiwillig gemacht. In der Zusammenschau mit den anderen Wunden liegt es nahe, dass er von Peitschenhieben den Weg hinaufgetrieben worden ist. Oben hat er den Stein dann fallen gelassen und ist selbst einige Minuten vor der Burgmauer am Boden liegen geblieben. Die Blutlache dort belegt das. Doch dann ist er auf allen vieren an der Mauer entlang bis zum späteren Auffindeort der Leiche gekrochen. Der Stein ist folglich vom Täter hinterhergetragen worden. Es finden sich schwarze Glattlederreste darauf, was auf Handschuhe hindeutet. Am Ende der Mauer hat der Täter dem Opfer in der vorhin beschriebenen Weise die Hände zermalmt und ihm zum guten Schluss den Stein aus etwa zwei Metern Höhe auf den Kopf geworfen. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich nicht um einen Riesen gehandelt hat, der den Brocken aus zwanzig Metern Höhe fallen gelassen hat, hat er ihn über seinen Kopf gehoben und dann mit Schwung nach unten geschleudert. Blutspritzer und Gehirnmasse waren rundherum auf dem Kopfsteinpflaster und an der Mauer verteilt. Man kann das wohl letztlich als Hinrichtung bezeichnen.«