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Ein paar Minuten blieb es still zwischen Stukenberg, Lenz und Gina Gladow. Zu fürchterlich waren die Schilderungen des Leidensweges selbst für die beiden diensterfahrenen Männer. Wie traumatisch mussten sie also erst für die junge Kommissarin sein?
Entsprechend erstaunt war Lenz, als ausgerechnet sie sich als Erste wieder zu Wort meldete, und das auch noch in einem vollkommen unbeeindruckten Tonfall: »Können Sie uns noch etwas über die Bedingungen während der mehrtägigen Folter sagen?«
Stukenberg nickte. »Der Mageninhalt muss noch untersucht werden, aber viel hat der alte Mann nicht zu essen bekommen. Es gibt Anzeichen von beginnender Auszehrung. Nur mit Wasser ist er offenbar gut versorgt worden, sonst hätte er die Tortur den Berg hinauf nicht geschafft.«
»Keine Hinweise auf den Ort, an dem er gefangen gehalten wurde?«
»Nein.«
»Habt ihr euch die alte Mühle unterhalb der Burg an der Alme näher angesehen?«
»Haben wir. Nichts.«
»Gibt es Besonderheiten bei der Kleidung?«, klinkte sich Lenz wieder ein, dem die Befragung des Mediziners zu sehr an sich vorbeilief.
»Übliche Straßenkleidung eines Herrn gehobenen Alters: eine beigefarbene Stoffhose von Gardeur, dunkelbraune Strümpfe von Seidensticker, hellbraune Halbschuhe von Clarks, ein weißes Oberhemd von Boss. Sehr gediegen, das alles.«
»Gehobene Preislage also«, stellte Lenz fest. »Kein Sakko oder Mantel?«
»Wir haben nichts dergleichen gefunden.«
»Bei der Kälte heißt das, dass das Opfer von seinem Gefängnis direkt zur Burg gebracht worden sein muss«, schloss Gina Gladow.
Lenz nickte.
»So, das war’s«, beendete der Rechtsmediziner abrupt das Gespräch und gab seinem Gehilfen, der die ganze Zeit über schweigend abseits gestanden hatte, ein Zeichen, mit der Arbeit fortzufahren. »Mehr kann ich im Moment noch nicht sagen. Alles Weitere entnehmt ihr dann meinem Bericht.«
»Eine letzte Frage noch«, sagte Lenz. »Gibt es irgendwelche besonderen Kennzeichen, die uns bei der Identifikation des Mannes helfen könnten?«
»Nein.« Stukenberg zuckte bedauernd mit den Schultern. »Das heißt, eine Narbe haben wir gefunden, die nicht von den Misshandlungen stammt. Sie ist einige Jahrzehnte alt und befindet sich auf der Innenseite des linken Oberarms. Da muss dem Mann mal etwas wegoperiert worden sein. Ob Ihnen das allerdings weiterhilft, weiß ich nicht. Die Stelle ist nur sichtbar, wenn man besonders darauf achtet.«
»Vielen Dank, Herr Stukenberg.« Lenz war ehrlich beeindruckt. »Das war weit mehr, als in der Kürze der Zeit zu erwarten war.«
»Jederzeit wieder«, entgegnete der Gerichtsmediziner. »Man freut sich ja, wenn man nicht immer nur Nullachtfünfzehn-Leichen auf den Sektionstisch bekommt. – Und grüßen Sie den Kollegen Schröder von mir.«
Das Lachen des Mannes schien noch im Raum zu hängen, als die Kriminalbeamten bereits auf dem Weg nach draußen waren.
7
Den Vorgarten des eingeschossigen Flachdach-Bungalows in der Max-Planck-Straße im Hammer Stadtteil Berge konnte man ohne Übertreibung als die Visitenkarte des eintausend Quadratmeter großen Grundstücks bezeichnen. Allerdings war keine Horde von Gärtnern durch die Anlagen gerobbt und hatte sie akribisch von jedem unerwünschten Pflänzchen befreit, sondern Fabian Hellers Mutter hatte hier einen fast zwanghaften Gartenarbeitstrieb ausgelebt und dem Unkraut den Kampf angesagt. Dabei hatte sie die Haut der Erde immer wieder aufs Neue mit der Harke aufgekratzt und sich arbeitserleichternde Hilfsmittel wie etwa Rindenmulch verbeten. Nun aber, sechs Wochen nach ihrem Tod, deutete das ungehemmt durchbrechende Grün an, wer am Ende in der Natur immer den längeren Atem hatte.
Heller ging langsam und gegen seinen inneren Widerstand kämpfend über die Waschbetonplatten auf die große weiße Haustür aus Holz zu. Zwei Stufen führten hinauf. Als Kind hatte er sie mit einem Sprung genommen, jetzt fiel ihm jeder Schritt schwer, weil er ihn einer Konfrontation mit der Vergangenheit näherbrachte, die er lieber gemieden hätte.
Selbst das Schloss schien nicht einverstanden, als Heller nun mehrfach vergeblich versuchte, den hakenden Schlüssel zu drehen. Er rüttelte leicht daran und stemmte sich schließlich mit der Schulter gegen das Holz des feststehenden Flügels, während er an dem Schlüssel zog. Plötzlich gab das Schloss mit einem Ruck nach und die Tür schwang nach innen auf. Der muffige Geruch unbewohnter Räume schlug Fabian Heller entgegen, als er den kleinen Windfang betrat. Von hier führte eine Tür nach rechts zur Gästetoilette, eine nach links zu seinem alten Jugendzimmer und die geradeaus in den langgezogenen Flur.
Heller ließ die Haustür hinter sich laut krachend zufallen. Das Echo lief dumpf vibrierend durch den Bungalow und machte die Totenstille, die ihn direkt nach dem Betreten umfangen hatte, noch unheimlicher. Dem finsteren Flur vorerst noch ausweichend, betrat er als Erstes sein altes Jugendzimmer mit der breiten Alu-Fensterfront zur Straße hin, der hellbeigen Textiltapete und den weißen Hartfaser-Kassetten unter der Decke.
Hier schien die Zeit eingefroren. Nichts hatte sich verändert, nachdem er vor über zwanzig Jahren während seines Studiums ausgezogen war. Seine Mutter hatte sogar den alten Limba-Schreibtisch mit dem vorsintflutlichen Atari-Computer darauf penibel von Staub freigehalten. Neben dem schmalen Jugendbett stand der beige IKEA-Freischwinger, in dem er als Jugendlicher an verregneten Nachmittagen nach der Schule so oft gesessen und gelesen hatte. Er fühlte den ruhigen Stunden nach, die ihm jetzt fremd und wie aus einem anderen Leben erschienen. Den Kieferntisch mit Glasplatte zierte ein beiger Tischläufer, der ihm unbekannt vorkam. Sicher war er nach seinem Auszug der Vollständigkeit halber hinzugekauft worden und verstärkte nun den musealen Charakter des Raumes. Auf dem Ausziehsofa an der Wand daneben lag eine ebenfalls beige Tagesdecke sorgsam zusammengefaltet.
Sogar die uralte Kompaktanlage von Nordmende mit Plattenspieler, Radio und Doppel-Kassetten-Deck, mit dem er jeden Mittwochabend seine Mitschnitte aus Mal Sondocks Hitparade für seine Freunde kopiert hatte, stand staubfrei auf dem Plattenschrank rechts neben der Tür. Darunter reihten sich in einem Fach die alten Vinyl-Scheiben von Abba, Smokie, Sweet und Queen – mit dreizehn hatte Fabian Heller das Zeug gehört und BRAVO-Starschnitte gesammelt – und im zweiten Fach The Undertones, Sting und Fischer Z neben Konstantin Wecker, BAP, Hannes Wader und Wolf Biermann, die Musik einer umwelt- und friedensbewegten Generation. So nostalgisch er sich daran zurückerinnerte, so verschwendet schien ihm die damals eingesetzte Energie heute angesichts der zahlreichen Kriege, in die selbst Deutschland wieder involviert war. Die Welt schien in Zeiten ungehemmter Rüstungsexporte und eines nicht nur in der Flüchtlingshilfe auseinanderdriftenden Europa unsicherer denn je. All die Friedenscamps mit Solidaritätsbekundungen an die Unterdrückten überall in der Welt waren für die Katz gewesen. Schwerter zu Pflugscharen? Das Gegenteil schien der Fall zu sein.
Fabian Heller atmete tief durch und trat zurück in den Windfang. Mit einem unbestimmten Druck auf der Brust öffnete er die bleiverglaste Tür zum Flur, der ihn düster empfing mit seinem dunkelroten Teppichboden, der breiten Garderobenwand aus dunklem Nussbaum, der dunklen Nussbaum-Deckenvertäfelung und der braun-beigen Textiltapete. Hier war einfach alles nur finster. Wie ein enger Schlauch führte der Flur, einmal im rechten Winkel geknickt, durch das ganze Haus. Bleiverglaste Türen gingen zum Wohnzimmer, zum Esszimmer und zur Küche ab; dazu je eine geschlossene Holztür zum Bad, zum Büro seiner Mutter, zum Elternschlafzimmer und zum alten Jugendzimmer seines Bruders. Einhundertsiebzig Quadratmeter auf einer Ebene, dasselbe noch mal als Keller untendrunter.
So fremd ihm nun alles erschien, so glücklich waren doch Kindheit und Jugend gewesen, die Fabian Heller in diesem Haus verbracht hatte. Wie oft hatten er und sein Bruder den langen Flur genutzt, um mit ihren Pantoffeln als Schläger und einem Tennisball auf den Knien Hockey zu spielen! Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatten sie sich dabei in die Wolle gekriegt. Die lebhaften Jahre mit den immer überarbeiteten Eltern und den ständigen Streitereien mit seinem Bruder standen in krassem Gegensatz zu der bedrückenden Atmosphäre, die das leere Haus mit seinen dunklen Möbeln jetzt gefangen hielt.
Heller betrat das großflächige Wohnzimmer, das wegen seiner Tiefe immer etwas schummerig wirkte, obwohl die gesamte Gartenseite aus hohen Aluminium-Fenstern bestand. An der gegenüberliegenden Wand schluckte ein fünf Meter langer Schrank aus Nussbaum das letzte Restlicht, das die dunkle Holzdecke, das dunkelbraune Cordsofa – eine sogenannte Rundecke – und der niedrige Nussbaumtisch in der Mitte des Raumes noch übrigließen.
Heller mied die Schranktüren, hinter denen, wie er wusste, Unmengen von Gläsern für jede Gelegenheit aufgereiht waren. Auch das Barfach mit dem ihm vertrauten Vorrat an Kräuterlikör, Apfel-, Kirsch- und Weizenkorn mied er. Er musste den Trauerschub ja nicht herausfordern. Außerdem gab es noch genügend Schranktüren, hinter denen sich all das verbarg, von dem seine Mutter sich nicht hatte trennen können, weil es für sie mit der Zeit verbunden war, als Fabian und sein Bruder noch Kinder gewesen waren und ihr Mann noch gelebt hatte, der viel zu früh – mit achtundvierzig Jahren – an Lungenkrebs verstorben war. Heller erkannte mit einem Mal, was ihn die ganze Zeit über schon so bedrückte: In diesem Haus war ein vergangenes Menschenleben zu einer Momentaufnahme eingefroren. Und dieses Leben hatte dem Menschen gehört, mit dem er naturgemäß am engsten verbunden gewesen war.
In den Schubladen fanden sich das gute Silberbesteck und eine braune, geflochtene Ledermappe mit Papieren, die Heller herausnahm und auf den Tisch legte. Dann flüchtete er aus der emotionalen Enge des Wohnzimmers durch den Flur ins Büro, weil er sich durch das geschäftsmäßige Ambiente wieder etwas mehr Distanz versprach.
Aber auch hier war seine Mutter allgegenwärtig: in den sauber angespitzten und parallel aufgereihten Bleistiften auf dem Schreibtisch ebenso wie in den per Hand beschrifteten Aktenordnern im Regal. Der alte Schrank mit den Glasscheiben – der erste Wohnzimmerschrank seiner Eltern von vor über fünfzig Jahren – enthielt die Heidi-Bücher aus der Kindheit seiner Mutter. Dieser Raum zeichnete mehr als alle anderen im Haus ihr gesamtes Leben nach. Als dann noch Fabians Blick auf Fotos seiner Eltern an der Wand fiel, war es um ihn geschehen. Er ließ sich auf den Bürostuhl fallen und flennte wie ein kleines Kind. Dabei hatte er sich selbst bei der Beerdigung seiner Mutter auf dem Friedhof als herzlos beschimpft, weil er nicht hatte weinen können. Mit einem Schlag wurde ihm nun bewusst, dass mit seiner Mutter die Letzte aus der Generation vor ihm verschwunden war. Ein Gefühl von Verlassensein und Einsamkeit sorgte dafür, dass sich alle Schleusen öffneten.
Schließlich wischte er sich die Tränen ab und wandte sich dem alten Schrank zu. Was nützte es? Irgendwann musste er sich den Tatsachen stellen und je eher er es tat, desto schneller war es überstanden. In einem der Fächer fand er, was er gesucht hatte: die Fotoalben, deren verschossene hellblaue und orangene Leinenbezüge darauf hindeuteten, dass sie sehr alt waren. Ein erstes zaghaftes Durchblättern bestätigte das, denn es handelte sich auf den von transparentem Seidenpapier getrennten Seiten überwiegend um Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern in vergilbten Fotoecken. Auf einigen Bildern war das kleine Mädchen zu sehen, an das er sich vorhin im Stau auf der Autobahn erinnert hatte. Glücklich und unbeschwert lächelte es in die Kamera und präsentierte stolz ihre Zöpfe, die bis zu den Hüften hinunterreichten.
Schnell schlug Heller das Album wieder zu, weil er in Sachen Emotionen heute für nichts mehr garantieren konnte. Stattdessen wandte er sich den Schubladen zu und entnahm ihnen alles, was nach wichtigen amtlichen Unterlagen aussah. Zuletzt fand er noch neben einem alten Gesangbuch und einem Rosenkranz aus Holz, die er unberührt ließ, ein in Seidenpapier eingeschlagenes langes Päckchen. Er zog es hervor, wunderte sich über die Flexibilität des Inhalts und wickelte es vorsichtig aus. Es enthielt Zöpfe – die Zöpfe seiner Mutter, die er eben noch auf den Fotos gesehen hatte. Warum verwahrte eine Frau ein Leben lang die Zöpfe ihrer Kindheit? Fabian Heller schüttelte verständnislos den Kopf und wickelte die blonde Haarpracht wieder ein. Dann griff er nach einer großen, stabilen Stofftasche, steckte das Seidenpapierpäckchen, die Papiere und die Fotoalben hinein und ging zurück ins Wohnzimmer, um auch die dort auf dem Tisch deponierten Unterlagen dazu zu stopfen.
Er blickte sich noch einmal um, fühlte die Enge in seinem Brustkorb und kämpfte wie schon seit Wochen immer wieder mit der Frage, was er mit dem Haus machen sollte. Einziehen würde er hier sicher nicht. Sein Bruder schon gar nicht, denn der lebte in Berlin. Also verkaufen? Sich endgültig davon trennen? Was war das nur, das ihm die Antworten so schwermachte? Was stieß ihn hier so ab, dass er den Aufenthalt in diesem Haus nicht ertrug? Und was fesselte ihn gleichzeitig so sehr, dass er den sauberen Schnitt nicht schaffte?
Heller beschloss, heute nichts mehr zu beschließen und überhaupt keine Entscheidung zu treffen, solange er sich in emotionaler Schieflage befand. Er würde sich mit etwas Abstand Gedanken darüber machen, wie es mit dem Haus weitergehen sollte.
Derart vorerst einer Entscheidung enthoben, verließ er das Mausoleum seiner Kindheit.
8
Lenz hatte seine Leute im Besprechungsraum versammelt und berichtete von den vorläufigen Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Sektion. Je grausamer die Details wurden, desto mehr drückte die Stille unter den Kollegen auf den Raum.
»Das Opfer ist also über einen Zeitraum von etwa drei Tagen gefoltert worden«, fasste Lenz zusammen. »Die Folterwerkzeuge sind ungewöhnlich: eine mehrsträngige Lederpeitsche, ein Stock und ein Instrument, von dem wir nur wissen, dass es mit zehn Zentimeter breiten Fesselungsmanschetten versehen ist. Das lässt darauf schließen, dass der Mann an einem abgeschiedenen Ort gefangen gehalten wurde, an dem niemand die Schreie hören konnte. Wir können weiterhin davon ausgehen, dass das Mordopfer etwa neunzig Jahre alt war und in guten Verhältnissen gelebt hat. Darauf müssen wir die Suche eingrenzen.«
»Könnte sein, dass ich da schon etwas habe«, meldete sich Gisbert Henke zu Wort. Der Kriminalkommissar blätterte in einigen Papieren, die er vor sich liegen hatte, und tippte schließlich auf einen der Zettel. »Ich bin die aktuellen Vermisstenmeldungen durchgegangen und da gibt es tatsächlich eine, die zu unseren Kriterien passt. In der Seniorenresidenz Friedenstal in Büren ist seit drei Tagen ein vierundneunzigjähriger Mann namens Anton Kottmann abgängig.«
»Sehr gut, Kollege«, lobte Lenz. »Wissen wir Näheres über die Umstände des Verschwindens?«
»Nur dass der alte Herr nach dem Freigang …« Henke stutzte kurz und blickte seinen Nebenmann an. »Nennt man das im Altersheim auch Freigang? Na, egal … Jedenfalls hat der alte Mann zwei Stunden am Nachmittag draußen im Park verbracht und war danach verschwunden.«
»Dann sollte umgehend jemand dorthin fahren und der Sache nachgehen«, sagte Lenz.
»Die Kollegin Gladow und ich werden gleich im Anschluss nach Büren fahren«, brummte Schröder, der bislang schweigend in der Runde gesessen hatte und regelrecht zu schmollen schien.
»Leider ist ja nun von dem Gesicht des Toten nichts mehr zu erkennen«, wandte Gina Gladow ein. »Wir müssen sehen, dass wir in der Residenz DNA-Material von Anton Kottmann bekommen, um einen Abgleich mit dem Opfer machen zu können. Aber das dürfte ja kein Problem sein.«
»Richtig«, bestätigte Lenz und wandte sich wieder Kriminalkommissar Henke zu. »Sonst gibt es keine Meldung, die auf unseren Toten zutreffen könnte?«
»Nein.« Henke blätterte noch einmal vor und zurück, als müsse er sich selbst davon überzeugen, und schüttelte dann den Kopf. »Nichts.«
»Gibt es schon erste Erkenntnisse bezüglich vergleichbarer Fälle in den letzten Jahren?« Lenz blickte die anderen Beamten direkt an.
»Dafür müssen ja nun erst mal die Akten hier sein«, meckerte Oberkommissar Steinkämper zurück.
»Entschuldigung!« Lenz hob beide Handflächen in Richtung des Kollegen. »In Zeiten der Digitalisierung hätte es ja sein können.«
»Wir sind hier in der Provinz«, wandte Oberkommissar Jakobsmeier ein, dem die harsche Reaktion seines Kollegen sichtlich unangenehm war.
»Nun gut, wir sollten trotzdem keine Zeit verlieren.« Lenz erhob sich von seinem Stuhl. »Solange wir keinen weiteren Treffer haben, werden Sie, Kollege Henke, alles über diesen Kottmann in Erfahrung bringen, was Sie finden können. Außerdem brauche ich zur ersten Orientierung möglichst schnell eine kurze Zusammenfassung über die Umgebung des Tatortes. Sprechen Sie sich bitte untereinander ab, wer welche Aufgabe übernehmen will. Also, Kollegen, an die Arbeit.«
Während die drei Männer den Raum verließen, hielt Lenz die junge Kommissarin und Hauptkommissar Schröder zurück. »Wir beide, Frau Gladow, werden nach Büren in die Senioren-Residenz fahren. Sie, Herr Schröder, bleiben hier und koordinieren die Arbeit.«
Ohne sich weiter um den immer noch schmollenden Hauptkommissar zu kümmern, nickte er seiner jungen Kollegin zu, die auch gleich aufsprang und den Raum verließ. Lenz folgte ihr am Aufzug vorbei zur Treppe, deren Stufen sie in einem Tempo nahm, dass er Mühe hatte, ihr zu folgen.
»Moment, Kollegin!«, rief Lenz, als sie im Erdgeschoss an der Tür zum Verkehrskommissariat vorbeikamen. Er gab ihr ein Zeichen, betrat die Abteilung für die Verkehrsanzeigenbearbeitung und suchte die Tür des Leiters, neben der auf einem Wandschild KHK Steinbrecher stand.
Das kurze Klopfen an die Tür und das Eintreten waren eine Bewegung. Gina Gladow folgte ihm dicht auf den Fersen. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters mit Stoppelschnitt und harten Gesichtszügen. Steinbrecher passt, dachte Lenz und ging direkt auf ihn zu. »Kollege Steinbrecher, nehme ich an.« Er hielt ihm die Hand entgegen. »Ich bin Stefan Lenz, der neue Leiter des KK1.«
»Angenehm«, entgegnete Steinbrecher förmlich und ergriff die Hand, ohne sich zu erheben. »Was kann ich für Sie tun? Oder machen Sie nur die Runde, um sich vorzustellen?«
»Nee nee!« Lenz winkte lachend ab. »Ich bin im Grunde noch gar nicht hier. Erst ab Montag. Aber ich habe ein konkretes Anliegen – unter Kollegen sozusagen.« Er zwinkerte Steinbrecher verschwörerisch zu und senkte die Lautstärke. »Heute Morgen bin ich auf der B1 in Höhe der Autobahnauffahrten geblitzt worden. Ist ja reichlich unübersichtlich, die Stelle; und dann war da noch so ein aufdringlicher Porsche an meinem Hintern. Kurz und gut: Ich wollte nur Bescheid sagen, wen es da erwischt hat. Damit ihr das Ticket nicht irrtümlich noch rausschickt.« Er lachte einmal kurz auf.
Steinbrecher lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fragte mit zusammengezogenen Brauen verständnislos: »Wo, bitte schön, wäre da der Irrtum, wenn wir es an Sie versenden würden? Oder möchten Sie, dass wir es persönlich zu Ihnen hochbringen, um der Behörde das Porto zu sparen?«
»Na, ich bitte dich, Kollege. Ich bin einer von euch und war außerdem auf dem Weg hierher.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Mussten Sie da zu schnell fahren? Waren Sie im Einsatz? War Gefahr in Verzug oder so etwas?«
»Abgesehen davon, dass Kriminaldirektor Heitkamp mich erwartete und ich spät dran war, nicht – wenn du verstehst, was ich meine.« Lenz kniff Steinbrecher erneut ein Auge zu und lächelte verschmitzt, bewirkte dadurch aber keinerlei Veränderung der gefühlskalten Beamtenmimik seines Gegenübers. »Soll dein Schaden auch nicht sein«, fügte er deshalb vorsichtshalber hinzu. »Was trinkst du? Red Label?«
»Ich bin mir zwar nicht so sicher, ob ich das jetzt verstehen muss, aber eines ist für mich klar: Der Gebührenbescheid geht raus. Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, dass ich in Ihrem Fall eine Ausnahme machen sollte, zumal ich das auch gar nicht darf.«
»Sagen Sie mal«, wechselte Lenz jetzt ebenfalls in die distanzierte Anredeweise, »wie seid ihr hier eigentlich drauf? Oben verarscht ein Vorgesetzter seine Mitarbeiter und hält sich offenbar für tabu, was Kritik angeht, und ihr hier unten bei der Verkehrswacht haut Kollegen in die Pfanne? In Hamm würde keiner von euch im Dienst auch nur zwei Tage alt. Und in Dortmund würde man euch geteert und gefedert aus der Stadt jagen.«
Steinbrecher lächelte breit. »Sie meinen das tatsächlich ernst, was? Sie erwarten wirklich, dass ich Ihre Geschwindigkeitsübertretung nur deshalb unter den Tisch fallen lasse, weil Sie Polizeibeamter sind? Das ist Vorteilsnahme im Amt, Herr Kollege. Dafür sind in Paderborn schon ganz andere einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren unterworfen und mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde belegt worden. Und jetzt muss ich Sie bitten, mich weiterarbeiten zu lassen. Sie haben ja sicher auch Besseres zu tun, als Ihre Freizeit auf der Dienststelle zu verbringen.«
Lenz konnte es nicht fassen. ›Einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren unterworfen‹, dachte er, ›mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde belegt‹. Was ist das denn für ein Kollegenschwein? Kopfschüttelnd drehte er sich zur Tür und verzichtete diesmal selbst auf den Handschlag.
»Und bestellen Sie dem Oberkreisdirektor einen schönen Gruß von mir«, hörte er Steinbrecher noch rufen. »So leicht lasse ich mich nicht aufs Glatteis führen.«
Einen Moment lang war Lenz versucht, ins Dienstzimmer zurückzukehren und sich die letzte Bemerkung erklären zu lassen, aber dann entschloss er sich anders. Hier schien unter der Oberfläche irgendetwas zu gären, das er noch nicht verstehen konnte. Die trauten sich hier gegenseitig nicht über den Weg. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Kriminalhauptkommissar Steinbrecher ihm die Sachlage näher erläutern würde.
Seufzend folgte er der grinsenden Gina Gladow über den Flur. »Was ist das denn für ein Sesselfurzer?«, fragte er sie auf dem Weg nach draußen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie mich so direkt fragen, gibt es da ja wohl zwei Möglichkeiten. Entweder steht er nicht auf Johnny Walker, oder er kann Ihre Schimanski-Tour nicht ab. Ich tippe ja eher auf Letzteres.«
Darüber musste Lenz einen Augenblick nachdenken. Unsinn, beschloss er, die haben hier einfach nur alle den Arsch offen!
Auf dem Parkplatz steuerte Gina Gladow einen silberfarbenen VW Passat an, drückte auf die Fernbedienung und ging wie selbstverständlich zur Fahrerseite. Lenz überlegte einen Moment, ob er sie auf den Beifahrersitz verbannen sollte, aber dann ließ er es. Erstens wollte er kein weiteres Ticket riskieren, zweitens verstieß er womöglich schon wieder gegen irgendein ungeschriebenes Paderborner Gesetz, wenn er sich nicht von seiner Untergebenen chauffieren ließ, und drittens kannte er sich im Kreis Paderborn ja auch gar nicht aus.
Die junge Beamtin fuhr zügig und sicher, während Lenz die wenig einladende Vorstadt mit den Bahngleisen zu seiner Linken an sich vorbeiziehen ließ. Dabei musste er sich zwingen, nicht in den Ausschnitt seiner Kollegin zu starren, der in seiner Blickrichtung prangte und eine magnetische Anziehungskraft auf ihn hatte. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Profil seiner Kollegin. Ihr geringes Alter stand für ihn im Widerspruch zu ihrem selbstbewussten Auftreten. Das hätte eher zu einer fünfundzwanzigjährigen Diensterfahrung gepasst. Offenbar hatte Lenz es hier mit einer geborenen Kriminalbeamtin zu tun, die sich ihres Handelns instinktiv sicher war. Und obendrein wurde man in der Polizeiführungsakademie in Münster auch ganz hervorragend ausgebildet.
Die junge Kommissarin räusperte sich vernehmlich und sagte, ohne ihn dabei anzusehen: »Wenn Sie mir weiter so auf die Titten starren, trete ich Ihnen bei nächster Gelegenheit in die Eier.«
Lenz war gleichermaßen irritiert wie belustigt. Gina Gladow liebte das Direkte offenbar genauso wie er. Darauf ließ sich doch aufbauen. Grinsend wandte er sich nach vorne und sah durch die Windschutzscheibe auf die Straße. »Entschuldigung, Frau Kollegin. Betrachten Sie das bitte als Kompliment.«