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»Was?«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Dass ein alter Knacker wie Sie seine Augen nicht im Griff hat?«
»Alt? Also bitte! Ich bin Mitte vierzig.«
»Sag ich doch. Sollten Sie allerdings einen Sohn haben, dürfen Sie ihn mir gerne vorstellen.«
»Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihn von Frauen wie Ihnen fernhalten.«
»Dann gehen Sie mal mit gutem Beispiel voran, Papi«, konterte Gina Gladow unbeeindruckt.
Lenz merkte, wie sich seine Stimmung von Minute zu Minute verschlechterte. Kriminaldirektor Heitkamp spielte den unantastbaren Despoten; Steinkämper fühlte sich auf den Schlips getreten, wenn er nach Ermittlungsergebnissen gefragt wurde. Schröder hatte offenbar beschlossen, für den Rest seiner Dienstzeit zu schmollen, weil Lenz ihm vor die Nase gesetzt worden war; der Verkehrsfuzzi Steinbrecher hatte sich gleich bei ihrer ersten Begegnung als Kollegenschwein entpuppt. Und Gina Gladow nahm jedes Kompliment direkt als Belästigung am Arbeitsplatz auf. Mit diesem Menschenschlag sollte er bis zur Pensionierung in zwanzig Jahren zusammenarbeiten? War der Wechsel hierher in Wirklichkeit eine Strafversetzung und Lenz hatte das bislang nur noch nicht begriffen?
Er wünschte sich schon jetzt ins Ruhrgebiet zurück. Da war alles so einfach: Kollegen waren noch wirkliche Kollegen, auf die man sich jederzeit verlassen konnte und die einem nicht ans Bein pinkelten. Die unübersichtliche Verkehrssituation auf der B1 am Ortseingang war offenbar geradezu sinnbildlich für die ganze Stadt. Scheiß Paderborn!
Grummelnd wandte sich Lenz dem rechten Seitenfenster zu, während sie nun auf der gut ausgebauten Ausfallstraße zügig in Richtung Büren fuhren. Nach etwa zwanzig Kilometern, auf denen sie den Flughafen Paderborn/Lippstadt linkerhand passiert hatten und auch die Auffahrten auf die A44 in die Richtungen Dortmund und Kassel, erreichten sie einen Kreisverkehr. Rechts ging es nach Steinhausen und Geseke, geradeaus nach Rüthen und links nach Büren. Überall um sie herum drehten sich Windräder in einer Art von Niemandsland aus Feldern, die zu dieser Jahreszeit trist und öde in einer diesigen Endlosigkeit versanken. Ein Funkmast stach vor der Silhouette eines Gewerbegebietes in den grauen Himmel. Kein Zweifel, das hier war der Arsch der Welt.
»Das langgestreckte Gebäude da hinten im Industriegebiet ist übrigens der Puff«, meldete sich Gina Gladow, ließ aber offen, was sie mit diesem Hinweis bezweckte. Lenz hatte das unbestimmte Gefühl, dass er besser nicht nachfragen sollte. Von den Spitzen seiner Kollegin hatte er vorerst die Nase voll und er konnte auch nicht dafür garantieren, dass er selbst noch lange an sich halten konnte.
Die Kommissarin lenkte den Wagen bergab an einer kleinen Kapelle vorbei. Nun weitete sich der Blick über ein Tal, in dessen Mitte sich das Städtchen Büren ausbreitete. Die Häuser lagen dicht gedrängt wie ins Loch geschüttet zwischen sanften Hügeln und wurden von zwei schlanken Flüsschen in die Zange genommen. Recht malerisch machte sich in der Mitte eine Art Schloss aus, das zusammen mit zwei Kirchen quasi das Zentrum des Talkessels bildete.
»Büren im Loch, wir finden dich doch«, verkündete Gina Gladow unvermittelt. »Als ich noch Streife gefahren bin, hatte ich einen Kollegen aus Steinhausen. Der hat das jedes Mal gesagt, wenn wir den Kapellenberg runtergefahren sind.«
»Na prima«, knurrte Lenz. »Erst lande ich am Arsch der Welt und dann fahre ich auch noch direkt ins Loch.« Und das alles an der Seite einer Kampf-Emanze, fügte er in Gedanken hinzu.
Gina Gladow lachte hämisch, als wollte sie sagen: Jeder so, wie er es verdient.
Nach einer 90-Grad-Kurve erreichten sie schließlich das Ortseingangsschild. Was Lenz nun zu sehen bekam, zerstörte schlagartig den positiven Eindruck, den er von oben aus eben noch gehabt hatte. Schön geht anders, dachte er und betrachtete die gammeligen Häuser, die den Anfang der Bahnhofstraße säumten. Als er dann nach der Feuerwehr auch noch vier bunte und dicht an dicht gebaute Einfamilienhäuser mit kitschigen Säulen und zusammenstoßenden Veranden erblickte, wusste er, dass es sogar noch hässlicher ging als am Ortseingang. Es folgten ein Getränkemarkt, der obligatorische Lidl, links eine zugegebenermaßen wunderschöne, nostalgisch anmutende Bruchsteinkirche mit knallrotem Ziegeldach und dann, an einen Park mit Teichen anschließend, das Schloss, das er schon vom Hügel aus gesehen hatte.
Gina Gladow folgte der Hauptstraße, die sich geradeaus durch den Ort zog und nun wieder leicht anstieg. Oben machte sie mehrere Windungen, bis rechts ein langgestrecktes Gebäude aus roten Ziegeln auftauchte. »Da sind wir. Das ist die Senioren-Residenz Friedenstal«, verkündete die Kriminalkommissarin und parkte den Wagen am Straßenrand.
In der Empfangshalle plätscherte ein kleiner Wasserfall über Schieferplatten in ein Bassin mit Goldfischen, die nach Lenz’ Ansicht für ein Altersheim unangemessen lebendig herumschwammen und glubschäugig blöde aus dem Wasser glotzten. Große Fenster und helle Farben sorgten für ein einladend freundliches Ambiente. Am Empfangstresen saß ein etwa zwanzigjähriges Bob-Marley-Double mit verfilzten Haarsträhnen und einem viel zu weiten bunten Hemd und starrte unter rhythmischen Kopfbewegungen auf seinen Computermonitor. Als er Gina Gladow und Stefan Lenz bemerkte, zog er sich einen Stöpsel aus dem linken Ohr und lächelte die Kommissarin entzückt an.
Die schien für derartige Avancen zugänglich zu sein. Vielleicht galt das Knistern, das sie nun zwischen sich und dem Filz-Man zuließ, aber auch einzig als Signal an Lenz. Der konnte darüber nur müde lächeln, denn er war Realist genug, um zu wissen, dass ihm eine Beziehung zu einer derart jungen Frau ohnehin zu anstrengend wäre.
»Was kann ich für Sie tun?« Bob Marley richtete sich an Gina Gladow und ignorierte Lenz völlig.
Mit mir nicht, Bürschchen, dachte der. »Kripo Paderborn«, reagierte er in unangemessen autoritärem Tonfall und hielt dem Schnösel seinen Dienstausweis entgegen. »Kriminalhauptkommissar Lenz und Kriminalkommissarin Gladow. Wir möchten mit der Leitung des Hauses sprechen.«
»Da steht aber nicht Paderborn«, wandte der Knabe altklug ein, »da steht Hamm. Sind Sie hier überhaupt zuständig?«
»Sieh mal an«, sagte Lenz erstaunt zu seiner Kollegin. »Der Wackeldackel kann lesen.«
Die Kommissarin zwinkerte dem jungen Mann schelmisch zu.
»Dann werde ich Sie mal anmelden.« Wieder kein Blick zu Lenz, nur dieses balzende Lächeln in Gina Gladows Richtung. Aber immerhin griff der Jüngling zum Telefon. »Frau Finke, hier sind zwei Leute von der Polizei für Sie. Eine äußerst attraktive junge Dame und ein …« er taxierte Lenz abschätzend von Kopf bis Tresenoberkante, »… eher unscheinbarer älterer Herr. – Ja, ist gut.« Er legte auf und kündigte an: »Frau Finke kommt sofort.« Lächeln, balzen, Filzsträhnen präsentieren.
Gina Gladow lachte und schüttelte leicht den Kopf.
Arschloch, dachte Lenz. Er atmete erst auf, als eine Frau von etwa Anfang bis Mitte vierzig die Treppe herunterkam und ihn aus dem nervigen Geknister erlöste. Sie trug helle Freizeitkleidung, was Lenz, der automatisch in solchen Einrichtungen immer mit Krankenschwesternkitteln rechnete, erfreut zur Kenntnis nahm. Auch die sportliche Art, mit der sie ihnen entgegenfederte, gefiel ihm.
»Kerstin Finke«, stellte sich die Frau mit Handschlag vor. »Ich bin die Leiterin dieses Hauses. Kommen Sie wegen Herrn Kottmann?«
»Richtig, Frau Finke. Mein Name ist Stefan Lenz, das ist meine Kollegin Gina Gladow.« Lenz drehte dem Bob Marley für Arme betont den Rücken zu. »Können wir uns in Ihrem Büro weiter unterhalten?«
»Natürlich. Kommen Sie.« Sie federte ihnen voraus die Treppe hinauf und bog nach links in einen Flur ab, an dessen Glastür in schwarzen Klebebuchstaben Verwaltung stand.
Auch das Büro der Residenz-Leiterin hatte so gar nichts von dem üblichen Krankenhaus- oder Altersheim-Ambiente, wie Lenz es aus dem Ruhrgebiet kannte. Es war hell und farbenfroh und atmete eher die Atmosphäre eines CEO-Büros in einem aufstrebenden Internet-Startup. Vor dem Fenster breitete sich ein Schreibtisch mit einer Glasplatte aus, auf der ein stylischer Apple-PC coole Eleganz repräsentierte. Großformatige, hochglänzende Architektur-Fotos hinter Glasrahmen hingen an den Wänden. Die linke Seite des Raumes wurde von einer schwarzen Ledergarnitur mit Glastisch eingenommen. Dorthin wies Frau Finkes einladende Hand. Offenbar handelte es sich bei der Seniorenresidenz Friedenstal um eine exklusive und sicher sehr teure Einrichtung.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Cappuccino, Wasser?«
»Ein Cappuccino wäre nett«, antwortete Lenz erfreut und nahm auf dem Sofa Platz.
»Für mich bitte ein Glas Wasser.« Gina Gladow setzte sich in einen der beiden Sessel und schlug sofort die Beine übereinander.
Lenz, der sich mit körpersprachlichen Signalen auskannte, nahm erfreut zur Kenntnis, dass sich seine Kollegin zwischen Frau Finke und ihm nicht wohlfühlte und hinter einer Mauer verschanzte. Sogar die Arme verschränkte sie nun vor ihrer Brust. Prima, den Moment würde er auskosten. Wer konnte schon wissen, wie oft er noch Gelegenheit dazu bekommen würde?
Kerstin Finke bediente einen Kapselautomaten und während rauschend und zischend nacheinander zwei Cappuccino-Tassen vollliefen, öffnete sie eine Flasche Mineralwasser und stellte sie mit einem Glas vor Gina Gladow auf den Tisch. Nachdem auch Lenz versorgt war, setzte sie sich mit ihrer Tasse in beiden Händen in den anderen Sessel und blickte ihn fragend an.
»Tja, Frau Finke«, begann er vorsichtig. »Wir haben heute Morgen einen alten Mann in Wewelsburg aufgefunden. Ob es sich dabei um Ihren Bewohner Anton Kottmann handelt, wissen wir leider nicht.«
Die Residenzleiterin blickte ihn verständnislos an. »Konnten Sie ihn nicht fragen? Ist etwas mit ihm passiert? – Was heißt überhaupt ›aufgefunden‹?«
»Nun, der Mann ist tot.«
Frau Finkes Cappuccino schwappte in der Tasse, als sie sie hart auf der Glasplatte absetzte. Mit heiserer Stimme fragte sie: »Was ist passiert?«
»Das wissen wir noch nicht. Fest steht bislang nur, dass es kein natürlicher Tod war.«
»Das heißt …«
»Jemand hat den Mann ermordet.«
»Ermordet?« Kerstin Finke schüttelte leicht den Kopf, während sie versuchte, das Gehörte langsam zu verarbeiten. »Und wie? Ich meine …«
»Er wurde mit einem Stein erschlagen«, kam es hart von Gina Gladow, während Lenz noch nach einer rücksichtsvollen Formulierung suchte.
»Erschlagen? Mit einem Stein?« Ungläubig wanderte Kerstin Finkes Blick zwischen Lenz und seiner Kollegin hin und her.
»Nachdem er zuvor ausgepeitscht und gefoltert worden ist«, ergänzte die Kommissarin kalt. »Und der Stein war auch eher ein Felsbrocken. War kein schöner Anblick. Das Gesicht ist nicht mehr zu erkennen.«
Lenz blitzte sie an. Es war nun wirklich nicht nötig, derart ruppig mit der armen Frau umzugehen. Schlimm genug, dass es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen ihrer Schützlinge handelte. Diese Details hätte man der Frau doch wohl ersparen können.
Konnte man nicht, fand seine junge Kollegin offenbar und zeigte Kerstin Finke zwei Tatortfotos auf ihrem Handy. Entsprechend schockiert zuckte die Residenz-Leiterin in ihrem Sessel zurück.
Gina Gladow zog mit zwei Fingern ein Foto auf. »Erkenne Sie vielleicht, ob es sich bei der Kleidung um die von Herrn Kottmann handelt?«
»Nein«, antwortete die Residenzleiterin wie paralysiert. Schließlich stand sie auf und ging ein paarmal schnell im Raum auf und ab. Zweimal blieb sie vor Lenz stehen, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, konnte das dann aber nicht und nahm ihren Weg wieder auf. Während Lenz der Tigerei besorgt folgte, drückte Gina Gladows Gesicht so etwas wie Belustigung aus, aber sie enthielt sich zu Lenz’ Erleichterung eines Kommentars.
Als Kerstin Finke endlich wieder saß und mit zittrigen Fingern abwesend an ihrem Cappuccino nippte, signalisierte der Hauptkommissar seiner Kollegin mit drohend erhobenen Augenbrauen, dass sie sich nun zurückhalten sollte, und erntete dafür ein Stirnrunzeln. »Hat Herr Kottmann irgendwelche besonderen Merkmale, die uns Sicherheit bringen könnten?«, fragte er.
»Besondere Merkmale? Nein.«
»Hat er vielleicht eine Narbe an der Innenseite des linken Oberarmes?«
Die Residenzleiterin sah ihn verständnislos an und hob und senkte die Schultern. »Da müsste ich unser Personal fragen. Allerdings bezweifle ich, dass Ihnen jemand diese Frage beantworten kann. Herr Kottmann benötigt nämlich keine Unterstützung bei der täglichen Pflege.«
»Tja, dann kann uns nur noch eine DNA-Probe weiterhelfen«, stellte Lenz fest, »vielleicht ein Kamm oder seine Zahnbürste. Um keine Zeit zu verlieren, möchten wir uns außerdem schildern lassen, wie Herr Kottmann aus Ihrer Residenz verschwunden ist. Die genauen Umstände und zeitlichen Abläufe könnten für uns gegebenenfalls bei der Suche nach dem Täter von Bedeutung sein.«
»Ja, natürlich.« Kerstin Finke atmete tief ein und aus und sammelte sich. »Also, das war am Dienstag. Unser Bufdi Mario hat die Bewohner, die noch fit genug sind, nach der Mittagsruhe hinunter in den Park gebracht. Das Wetter war ja für diese Jahreszeit ungewöhnlich schön, nicht zu kalt, kein Wind, die Sonne schien, eigentlich ideal. Das war so gegen fünfzehn Uhr. Als unser Pfleger Wolfgang sie dann gegen siebzehn Uhr wieder reinholen wollte, war Herr Kottmann nicht mehr da.«
»Wie: nicht mehr da?«, hakte Gina Gladow verständnislos nach. »Einfach weg? Können die hier ein- und ausgehen, wie sie wollen? Guckt denn zwischendurch niemand nach den alten Leuten?«
Lenz hätte sie erwürgen können, als er registrierte, wie Kerstin Finke bleich wurde und betroffen den Blick senkte.
»Doch, natürlich. Wann Herr Kottmann verschwunden ist, wissen wir nicht genau. Mario hat den Rest des Nachmittags am Empfang gesessen. Dort ist er nicht vorbeigekommen.«
»Gibt es noch einen anderen Zugang zum Park?«, beeilte sich Lenz mit der Nachfrage, weil Gina Gladow schon wieder den Mund öffnete.
»Ja, zur Seite des Gebäudes ist noch eine Zufahrt. Aber das Tor dort ist immer abgeschlossen und das war es auch am Dienstag. Ich habe das sofort kontrolliert.«
»Der alte Mann kann ja nicht verdunstet sein«, stellte Gina Gladow lapidar fest.
Lenz räusperte sich vernehmlich. Er würde nachher ein ernstes Wort mit seiner Kollegin wechseln. Offenbar musste die doch noch viel lernen. Vor allem, Anweisungen von Vorgesetzten zu folgen; selbst dann, wenn die nur mimisch ausgedrückt wurden. »Dann möchten wir mit Mario und Wolfgang sprechen«, stellte er an Kerstin Finke gewandt fest.
»Ja, natürlich.« Die Residenz-Leiterin sprang auf, ging zum Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer. »Gitta? Schickst du mal bitte jemanden runter zum Empfang, damit er Mario ablöst? Und dann sollen Mario und Wolfgang in mein Büro kommen. – Nein, nicht gleich, jetzt sofort! Danke.«
Lenz gefiel die professionelle Art, in der sie in kürzester Zeit die Fassung wiedergewonnen hatte. Dass er sie bewundernd anstarrte, merkte er erst, als er ihren fragenden Blick auf sich ruhen fühlte. Verlegen lächelte er sie an und konzentrierte dann seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen Cappuccino.
Mario war also der Filz-Heini. Bufdi, das war eine passende Bezeichnung, rein phonetisch und völlig unabhängig von der eigentlichen Bedeutung. Das Bild des hämisch grinsenden Jünglings geisterte vor ihm herum und ließ sich zu seinem Ärger nicht wieder vertreiben. Er blickte zur Seite und stellte fest, dass Gina Gladow die Leiterin mit Genugtuung fixierte, die schweigend und mit gesenktem Kopf an ihrem Schreibtisch lehnte.
Nach wenigen Minuten klopfte es kurz an die Bürotür und zwei junge Männer traten ein: Filz-Mario in seinem Schlabberlook und ein etwa fünfundzwanzigjähriger muskelbepackter Hüne mit Bürstenschnitt, T-Shirt, Jeans und weißen Crocs. Der Gegensatz hätte kaum deutlicher ausfallen können. Sie blieben nebeneinander mit etwa zwei Metern Abstand vor ihrer Chefin stehen und warteten schweigend.
»Die Herrschaften von der Polizei haben Fragen zu dem Verschwinden von Herrn Kottmann«, erklärte sie mit belegter Stimme.
»Setzen Sie sich bitte«, forderte Lenz die jungen Männer auf und deutete auf das Sofa, während er selbst hinüber in den freien Sessel wechselte.
Als sie der Aufforderung gefolgt waren, wandte er sich zunächst an Mario. »Frau Finke hat angegeben, Sie hätten Herrn Kottmann gegen fünfzehn Uhr hinunter in den Park gebracht. Ist Ihnen dabei etwas aufgefallen? War da jemand im Park, der kein Bewohner ist? Ein Besucher vielleicht oder ein Angehöriger?«
»Nein, alles war wie immer. Der Kottmann hat sich auf eine Bank in der Sonne gesetzt.«
»Herr Kottmann«, korrigierte Kerstin Finke.
»Und ich bin dann gleich wieder rein, um die anderen zu holen«, fuhr Mario ungerührt fort.
Lenz fixierte den Filz-Bufdi kalt. »Später hatten Sie Dienst am Empfang?«
Mario nickte.
»Hat während Ihres Dienstes jemand das Haus betreten, der hier nicht wohnt oder arbeitet?«
»Keine Ahnung. Nachmittags kommen häufig Angehörige oder die Sozialtanten von der Caritas. Da achten wir nicht so drauf. Angesprochen hat mich jedenfalls keiner.«
»Welche ›Sozialtanten von der Caritas‹?«, hakte Lenz bei Kerstin Finke nach und machte dabei schon durch seine Betonung deutlich, dass er den verfilzten Mario für einen Kotzbrocken hielt.
»Er meint die Damen, die sich um unsere alten Leute kümmern, sich mit ihnen unterhalten, ihnen etwas vorlesen und so.« Sie wandte sich dem Bufdi zu und blitzte ihn grimmig an. »Ich habe dir schon mehrfach gesagt, Mario, dass deine Ausdrucksweise unangemessen ist. Wenn du nicht ab sofort respektvoller mit anderen Leuten umgehst, werde ich deinen Bundesfreiwilligendienst hier bei uns beenden!«
»Jaja«, machte Mario. »Ich werd’s mir merken.«
Lenz zwinkerte der Leiterin anerkennend zu. »Und Sie?«, fragte er dann den Pfleger. »Wann haben Sie sich um Herrn Kottmann gekümmert?«
»Ich bin um vier Uhr in den Park gegangen und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist. Sobald die Sonne weg ist, ist es ja noch ziemlich kalt draußen. Da hat Herr Kottmann mit Herrn Merschhaus und Frau Körting an einem der Gartentische gesessen und sich unterhalten. Um fünf habe ich angefangen, die Herrschaften wieder in ihre Zimmer zu begleiten. Da wurde es dunkel und ab halb sechs gibt es Abendessen.«
Lenz stellte fest, dass die respektvollere Ausdrucksweise Wolfgang keinerlei Schwierigkeiten bereitete und auch nicht aufgesetzt klang. Der junge Mann hat ein anderes Format als Gammel-Bufdi Mario, dachte er. »Als Sie in den Park kamen, um Herrn Kottmann zu holen, war er nicht mehr da?«, fuhr er fort.
»Nein. Ich habe zunächst angenommen, dass er alleine raufgegangen ist. Herr Kottmann gehört zu unseren agilsten Bewohnern, obwohl er schon vierundneunzig ist. Aber als er weder in seinem Zimmer noch im Aufenthaltsraum war, habe ich Frau Finke Bescheid gesagt.«
Sie nickte. »Wir haben das ganze Haus abgesucht und ihn nicht gefunden. Ich habe sofort Mario und Wolfgang in die Stadt geschickt. Es kommt schon mal vor, dass der eine oder andere unserer dementen Bewohner unbemerkt am Empfang vorbeikommt und durch die Stadt läuft. Herr Kottmann ist zwar nicht dement, aber es hätte ja sein können, dass er bei Rossmann oder Combi etwas einkaufen wollte. Aber auch da hat ihn niemand gesehen. Also habe ich die Polizei informiert.«
»Ist Ihnen irgendetwas komisch vorgekommen, als Sie im Park waren?«, fragte Lenz den Pfleger. »Leute, die da nicht hingehörten, zum Beispiel?«
»Nein, alles war wie immer. – Entschuldigen Sie, ist irgendetwas passiert? Ich meine, Sie sind doch nicht hier, weil Sie uns all das noch einmal fragen wollen, was Ihre Kollegen auf der Wache schon gefragt haben.«
Kluger Junge, dachte Lenz. Super-Mario ist offenbar schlichter gestrickt und hat nicht so weit gedacht. Oder sollte der Aushilfs-Marley schon wissen, was passiert war? Aufmerksam behielt Lenz den Unsympathen im Auge, als er die jungen Männer über den Leichenfund und die Möglichkeit informierte, dass es sich bei dem Toten um Anton Kottmann handeln konnte. Wenn er auf verräterische Zeichen gewartet hatte, wurde er nun enttäuscht. Beide Männer waren gleichermaßen überrascht und bestürzt.
Für einen Moment verschlug es Mario sogar den Atem. Er keuchte schwer und flüsterte: »Mein Gott.«
Entweder ist er ein guter Schauspieler, dachte Lenz, oder seine coole Fassade ist nur aufgesetzt.
Gina Gladow schob Mario ihr Wasserglas hinüber, das noch halb gefüllt war. Dankbar versuchte er ein Lächeln, das aber misslang, und trank in kleinen Schlucken.
»Gut«, schloss Lenz, »wenn niemand von Ihnen mehr etwas zu sagen hat, das vielleicht sachdienlich sein könnte, wird meine Kollegin nun draußen Ihre Personalien aufnehmen.«
Gina Gladow zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, während Mario und Wolfgang aufsprangen und mit gesenkten Köpfen das Büro verließen.
Lenz blickte die Kommissarin direkt an und ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Anweisung gehandelt hatte. »Lassen Sie sich bitte von Wolfgang zu Herrn Merschhaus und Frau Körting bringen«, fügte er hinzu. »Vielleicht haben die etwas bemerkt. Ich komme dann nach, wenn ich hier fertig bin.«
Er verfolgte nun seinerseits belustigt, wie seine Kollegin trotzig den Kopf in den Nacken warf, den beiden jungen Männern folgte und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ – gerade laut genug, um ein Zeichen zu setzen, ohne eindeutig subordinär zu wirken.
»So, Frau Finke.« Lenz deutete auffordernd mit der Hand auf den freien Sessel. »Jetzt erzählen Sie mir mal etwas über Ihre beiden jungen Mitarbeiter.«
»Was wollen Sie wissen?« Kerstin Finke nahm Platz.
»Alles. Was sind das für Typen? Wie sind Sie mit ihrer Arbeit zufrieden? Wo liegen ihre Stärken, wo ihre Schwächen?«
»Da weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wo Sie wollen. Ich habe Zeit.« Lenz legte sein charmantestes Lächeln auf und stellte erfreut fest, dass es wirkte.
Kerstin Finke entspannte sich etwas, holte tief Luft und lehnte sich zurück. »Also, der Mario ist seit etwa einem halben Jahr bei uns. Er ist nicht gerade das, was ich unter einem gewissenhaften Bundesfreiwilligendienstler verstehe, aber er macht seinen Job. Sie haben ja selbst erlebt, dass er etwas … sagen wir: unkonventionell auftritt.«
»Respektlos«, korrigierte Lenz. »Unverschämt und distanzlos.«
»Na ja.« Kerstin Finke ließ ihren Kopf hin- und herpendeln. »Er wirkt so, das stimmt. Aber unter der coolen Fassade ist er, glaube ich, kein übler Kerl. Wir müssen leider heutzutage nehmen, was wir kriegen können. Wenn wir zu wählerisch wären, wäre der Pflegenotstand noch größer. Und was da in den letzten Jahren vor allem von den Gymnasien kommt … also Leistungsbereitschaft, Selbstdisziplin und Benehmen haben die jungen Leute kaum noch. Zum Glück sind wir ja bei unserer Arbeit nicht darauf angewiesen, dass sie rechnen, schreiben und lesen können. Damit ist es ja selbst bei Abiturienten nicht mehr so weit her.« Sie lachte.
»Wolfgang ist ein anderer Typ«, formulierte Lenz seine Frage wie eine Feststellung.
»Oh, ja. Wolfgang ist, verglichen mit seinen Altersgenossen, extrem gut erzogen, diszipliniert und sehr beliebt bei den Bewohnern. Die alten Leute halten viel von Respekt und Höflichkeit. Vor allem die, denen ich Wolfgang zugeteilt habe.«
»Und sonst gibt es keine Pflegekräfte auf der Station?«
»Doch, Pflegerin Michaela. Aber die hat momentan Urlaub und war nicht im Haus, als Herr Kottmann verschwunden ist. Deshalb muss Mario ja auch aushelfen, wenn Wolfgang Unterstützung braucht. Ab 20 Uhr beschäftigen wir reines Nachtpersonal. Für den Trakt B ist Rotraut Schumacher zuständig. Aber auch die war ja zum Zeitpunkt des Verschwindens von Herrn Kottmann nicht im Haus.«
Lenz notierte sich die Namen. »Hat Ihrer Ansicht nach einer von den beiden jungen Männern irgendeinen Fehler gemacht, so dass Herr Kottmann Ihnen verlorengehen konnte?«
»Nein. So etwas lässt sich einfach nicht verhindern. Das ist ja kein Gefängnis hier und keine geschlossene Anstalt. Unsere Bewohner bewegen sich absolut frei und ohne jede Bevormundung, sofern sie noch rüstig genug sind. Nur auf die Demenzkranken haben wir ein besonderes Auge. Natürlich auch nur in dem Rahmen, in dem wir das personell bewerkstelligen können. Ich gehe davon aus, dass Herr Kottmann aus eigenem Antrieb unser Gelände verlassen hat. Erst danach muss irgendetwas passiert sein.«