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»Tut mir leid, Chef«, sagte KOK Jakobsmeier. »Ich muss nach Hause und auf die Kleine aufpassen. Meine Frau hat heute Mädelsabend. Einmal im Monat zieht sie mit ihren Freundinnen um die Häuser. Der Abend ist ihr heilig.«
»Ich kann auch nicht«, schloss sich KOK Steinkämper an, ohne das näher zu erläutern.
KHK Schröder murrte: »Auf mich müssen Sie auch verzichten. Hat ja schließlich keiner damit rechnen können, dass Sie hier heute aufkreuzen.«
Gina Gladow schwieg, allerdings sah Lenz ihr an, dass ihr in der Situation nicht ganz wohl war. Vielleicht konnte er bei ihr Punkte sammeln, wenn er sie nicht auch noch persönlich ansprach.
»Gut, Kollegen, dann holen wir das ein anderes Mal nach«, schloss Lenz so beiläufig wie möglich. »Dann mit etwas mehr Vorlauf. Schönen Feierabend!«
Stühle wurden geschoben, Papier raschelte, Schröder stürmte hinaus, die anderen Kollegen unterhielten sich leise, während sie ebenfalls den Besprechungsraum verließen. Lenz ging zu seinem Vorzimmer, wo Frau Gellert mit einem Headset vor ihrem PC-Bildschirm saß.
Als er eintrat, nahm sie die Kopfhörer ab und blickte ihn lächelnd an. »Sie haben sich Ihren Einstand auch anders vorgestellt, was? Noch bevor Sie richtig da sind, schon das volle Programm.«
Lenz winkte ab. »So ist das nun mal in unserem Job. Wenn ich es anders haben wollte, wäre ich zum Finanzamt gegangen. Aber ich fürchte, beliebter wäre ich dann auch nicht.«
Frau Gellert lachte.
»Sagen Sie«, Lenz bemühte sich um einen angemessen hilflosen Gesichtsausdruck, »Sie haben heute Abend wohl keine Zeit, mir das eine oder andere lohnende Lokal in Paderborn zu zeigen? Ich kenne mich ja noch nicht aus und habe keine Lust, einsam durch die Stadt zu irren.«
Wieder lachte Frau Gellert, schüttelte aber den Kopf dabei. »Ich bin sicher, dass Sie sich auch ganz schnell alleine zurechtfinden werden.«
Lenz seufzte theatralisch und verließ mit hängenden Schultern den Raum.
Die Wohnung in der Kiesau empfing ihn düster und kalt. Lenz warf seine Reisetaschen, in denen sich seine gesamte Kleidung befand, gleich im Flur in eine Ecke und drehte erst einmal eine Runde durch die Räume. Er hatte die Wohnung gemietet, ohne sie sich vorher angesehen zu haben, und so war er einigermaßen erschrocken über die Möblierung in Eiche Brutal, die sich durch alle Zimmer zog. Am schlimmsten war die Schrankwand im Wohnzimmer, die seine Augen neben der kackebraunen Farbe auch noch mit der goldschimmernden Bleiverglasung einer Vitrine traktierte. Übertroffen wurde das allenfalls von der Sitzgarnitur, deren beiger Bezug geradezu stachelig wirkte. Alles im Raum atmete den Verwesungsbrodem der alten Frau, die hier jüngst verstorben war.
Das Schlafzimmer war ähnlich grauenhaft. Lenz ärgerte sich, dass er den Kollegen für den kommenden Tag einen Besuch in Wewelsburg versprochen hatte. Wenn er das alles hier sah, hätte er besser einen Möbelwagen gemietet, den ganzen Schrott abgerissen und zur Müllkippe gebracht und wäre dann direkt zu IKEA gefahren. Es schüttelte ihn, wenn er daran dachte, auch nur eine Nacht in dem Mördertrumm von Ehebett schlafen zu müssen.
Die Küche war erwartungsgemäß klein, aber umfänglich ausgestattet. Das Bad schreckte mit glänzenden dunkelgrün-braun-marmorierten Fliesen ab, aber immerhin gab es in der Badewanne sogar einen Duschvorhang, wenn auch mit lila Blütenmuster. Der würde sich schnell auswechseln lassen. Und dann gab es noch ein kleines Zimmer mit Fenster zur Straße, in dem Lenz einen alten Sekretär vorfand. Dieses Möbelstück würde er, abgesehen von der Küche, wohl als einziges behalten.
Lenz trat an das beschlagene Fenster, drehte den Heizkörper darunter auf und blickte hinunter auf die Straße. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Nebenan lag das Deutsche Haus, ein Restaurant der gutbürgerlichen Art. Daneben befanden sich Studentenkneipen. Direkt gegenüber lag der Lockvogel, eine Art Bistro, das von hier aus so modern wie gemütlich wirkte. Etwas weiter die Straße hinauf, das hatte Lenz beim Einparken gesehen, gab es ein Paderborner Brauhaus mit angrenzendem Biergarten. Die vielfältige Gastronomie in direkter Nähe und die zentrale Lage am Pader-Quell-Gebiet, nur fünf Minuten Fußweg von der Innenstadt entfernt, waren durchaus geeignet, ihn zumindest vorübergehend mit dem Umzug nach Paderborn zu versöhnen.
Lenz gab sich einen Ruck. Was sollte er den Abend in der Tristesse seiner Wohnung verbringen, wenn da draußen das Leben tobte? Er stieß sich von der Fensterbank ab und verließ seine Eichegruft, um das Brauhaus einer intensiven ersten Recherche zu unterziehen.
*
Stade, den 30. Oktober 1939
Mein lieber stolzer Offizier!
Nun liegt wieder ein lieber Brief von Dir vor mir auf dem Tisch, den ich gleich beantworten will.
Was habe ich mich über Deine Beförderung gefreut! Ich habe gleich den Kindern davon erzählt, dass der Vati nun Sturmführer ist und sogar den Reichsführer persönlich kennt, und da ist der Anton durch die Stube marschiert und war auch Sturmführer. Der Junge vermisst Dich ganz besonders.
Was Du von dem Fluchtversuch geschrieben hast, hat mich schon erschreckt, aber Ihr habt den Verbrecher ja zum Glück wieder eingefangen. Und wenn Du Dir Sorgen darüber machst, was ich über die Härte denke, die Du ihm angedeihen lassen hast, so unterschätzt Du Dein Mütterchen aber gewaltig. Es ist nur gut, daß Du ihn gleich erschossen hast. Das hat er nicht besser verdient und wird den anderen Häftlingen eine Lehre sein. Nicht auszudenken, wenn jeder einfach so ausbrechen und im Volk sein Unwesen treiben könnte!
Ich stelle mir vor, dass Dein Dienst hart ist mit all den Verbrechern, die Du dort bewachen mußt. Laß ihnen die nationalsozialistische Erziehung nur recht deutlich angedeihen.
Als ich dem Anton von Deiner Versetzung nach Ostwestfalen erzählt habe, hat er gleich mit dem Baukasten Vatis Wewelsburg nachgebaut. Und dann hat er mit dem Lastwagen und den Soldaten KZ gespielt und gar viele Gefangene auf der Flucht erschossen. Der Junge ist mir eine rechte Freude und erinnert mich immer sehr an Dich. Nun steht es für ihn fest, daß auch er zur SS will.
Mein lieber Vati, nun steht auch bald der Winter vor der Tür, bei Dir in Oranienburg wohl sicher eher als hier bei uns im hohen Norden. Zieh Dich nur immer warm an, wenn Du nach draußen zur Arbeit gehst. Hast Du auch genügend warme Unterwäsche, soll ich Dir etwas schicken?
Nun haben wir gerade einmal zwei Monate Krieg und schon wird bei uns an der Heimatfront die Versorgungslage immer schlimmer. Im Moment ist die Butter knapp und es gibt keine Seife mehr zu kaufen. Nur die Frauen mit Säuglingen bekommen noch welche. Im »Völkischen Beobachter« hat aber gestanden, daß es bald eine Einheitsseife geben soll. Der Führer hat das Problem erkannt und angeordnet, daß Abhilfe geschaffen wird. Da siehst Du es: Er will ein reinliches Volk haben, nicht nur im Blut, auch äußerlich.
Sag mal, lieber Vati, warum bekommt Ihr im KZ eigentlich nur 50 Pfennige pro Tage für die Verpflegung? An der Front haben sie eine Mark. Da bleibt was übrig, das sie nach Hause schicken können. Das ist doch ungerecht, wo doch Dein Dienst so wichtig ist, damit uns die Juden und die Politischen nicht in den Rücken fallen wie im Ersten Weltkrieg.
Zum Glück wird das mit Deiner Beförderung nun anders. Ich habe mich erkundigt: Als Offizier bekommst Du 350 Reichsmark Bekleidungsgeld. Musst Du davon nur die Uniform kaufen oder auch die Unterwäsche? Wenn man bedenkt, dass Du dazu täglich 2 Reichsmark ausgezahlt bekommst! Das läppert sich.
Die letzte Woche war auch bei uns sehr ereignisreich. Ich war mit den Kindern bei Oma und Opa. Es gab Kaffee und Kuchen, Obst und Apfelsaft und auch Rumgrog gegen die Kälte. Überhaupt war wieder alles, als wäre gar kein Krieg. Zu Weihnachten wird Opa wieder schlachten und dann kriegen auch wir unseren Teil ab.
Für Gretchen habe ich auf dem Speicher eine alte Puppenküche und einen kleinen Herd gefunden. Das wird sie nun zu Weihnachten bekommen. Nur muss ich es erst noch in Ordnung bringen.
Wenn Du an Weihnachten nach Hause kommst, wirst Du Deine Kinder bestimmt nicht wiedererkennen. Sie haben sich im Wesen so verändert. Anton und Gretchen streiten immerzu. Nur die kleine Marie ist mir eine Freude, der kleine Hosenscheißer. Es wird Zeit, daß auch sie bald stubenrein wird. Aber nein, ich bin ungerecht. Auch Anton und Gretchen können ganz lieb sein, wenn wir am Abend zusammensitzen, vom Weihnachtsmann und vom Vati im KZ erzählen und Weihnachtslieder singen.
Schreib mir, wenn Du etwas brauchst. Und schick ein Telegramm, wenn Du auf Urlaub kommst. Ich hole Dich dann am Zug ab, auch wenn Du in der Nacht eintriffst. Du fehlst uns schon sehr. Möge der Führer dafür sorgen, daß unsere Feinde im Innern und auch außerhalb recht bald bekommen, was sie verdienen, damit wir Frauen unsere Männer zurückbekommen und die Kinder ihre Väter.
So, mein lieber Hausvater, nicht nur die Butter wird knapp, auch Packpapier und Paketband sind kaum noch zu kriegen und selbst das Schreibpapier ist Mangelware und so werde ich Dir von nun ab nicht mehr so lange Briefe schreiben.1
Aber eine Frage will ich Dir dann doch noch schnell beantworten: Was soll ich mir wohl vom Weihnachtsmann wünschen, außer daß der Krieg bald aus ist und alle Muttis ihre Vatis wieder zu Hause haben? Sonst weiß ich wirklich nicht, was ich mir wünschen könnte, außer vielleicht 4711 und ein paar Pralinen und vielleicht Parfum und Schüsseln und Töpfe für die Küche.
Die Kinder wünschen sich nur, daß Du zu Weihnachten zu Hause bist.
Ich umarme und küsse Dich in Gedanken!
Auf immer Dein Muttchen!
1) Das Deutsche Reich war zu Kriegsbeginn wirtschaftlich am Ende. Bereits am 25. September 1939 wurden Lebensmittelkarten eingeführt, mit denen die Zuteilung der knappen Nahrungsmittel gesteuert werden sollte. Am 14. November folgte der Verkauf von Kleidung nur noch über Bezugskarten.
11
Es gibt Dörfer, in denen die Zeit stillgestanden zu sein scheint. Wewelsburg war ein solches Dorf, das sich nur vordergründig durch Richtungsschilder wie Fernverkehr oder eine Volksbankfiliale aus viel Glas als modernes Städtchen zu tarnen versuchte. Das Umfeld der Burg sprach eine ganz andere Sprache und entlarvte den Verkehr und die modernen Fassaden entlang der beiden Hauptstraßen als Kulisse eines großangelegten Fakes. Angesichts der historischen Gebäude fühlte sich Fabian Heller augenblicklich in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, wenn nicht gar ins Mittelalter zurückversetzt.
Die Burgfassade bestand aus Bruchstein, wie er früher in dieser Region üblich gewesen war, ebenso das ehemalige Kommandantur-Gebäude der SS, in dem sich heute das Kreismuseum befand. Eine gemauerte Brücke mit hüfthoher Balustrade führte vom Vorplatz über den Burggraben, allerdings ohne Wasser. Machte das alte Gemäuer angesichts seiner geringen Größe auf Heller einen eher gemütlichen Eindruck, so wirkte der Innenhof geradezu beengend auf ihn. Der eingekesselte Platz war ohnehin schon sehr schmal und lief dann auch noch vor einem in Relation zur Burggröße mächtigen Rundturm spitz zu, so dass er insgesamt eine dreieckige Form hatte. Über eine kleine Freitreppe gelangte man zur Eingangstür im linken Seitenflügel, neben der das Schild der Jugendherberge an der Mauer hing, die seit Jahrzehnten hier untergebracht war. Zu allem Überfluss befand sich an der stumpfen Seite des Hofes auch noch ein Eingang zum Heimatmuseum.
Unschlüssig blickte Heller sich um. Bei so viel Geschichte wusste man ja gar nicht, wo man anfangen sollte. Außerdem war das definitiv nichts für einen nüchternen Magen. Heller hatte noch nicht gefrühstückt und beschloss, erst einmal auf die Suche nach einer Tasse Kaffee und ein oder zwei belegten Brötchen zu gehen, bevor er sich die Burg ansehen würde. Zudem musste er sich um eine Unterkunft kümmern, bevor hier alles vom Dornröschenschlaf nahtlos ins lethargische Wochenende übergehen würde.
Also ließ er sein Auto auf dem Parkplatz zurück und erkundete zu Fuß die nähere Umgebung. Zwei Straßen weiter stieß er auf einen kleinen Gemischtwarenladen mit Stehtischen, eine Fusion aus Bistro und Tante-Emma-Laden. Bei der jungen Verkäuferin bestellte er zwei Körnerbrötchen mit Käse und einen Cappuccino und bekam auch noch ein freundliches Lächeln gratis dazu.
»Sind Sie wegen der Ausstellung hier?«, fragte die Frau neugierig. »Oder machen Sie Urlaub in Wewelsburg?« Sie lachte leichthin, als sei Letzteres so undenkbar wie witzig.
»Wie man’s nimmt«, antwortete Heller. »Ich bin Journalist und wegen des Mordes hier.« Er reichte ihr über die Theke hinweg die Hand. »Fabian Heller.«
»Freut mich. Julia Grote.« Dann drehte sie sich zu dem Vollautomaten um und schob eine Cappuccino-Tasse unter die Düsen. »Schlimme Sache«, kommentierte sie über ihre Schulter hinweg, während sie den Kaffeeautomaten bediente, der zischend vor sich hin sprotzte, und nickte die volllaufende Tasse an. »Der Mann soll ja ganz furchtbar ausgesehen haben. Überall Blut und Gehirnmasse und so.« Mit den letzten Worten schob sie die Tasse über die Theke. Dann machte sie sich daran, die Körnerbrötchen aufzuschneiden, mit Margarine zu bestreichen und zu belegen. »Der Mörder soll den Mann ja sogar ausgepeitscht haben.«
»Kannten Sie das Opfer?« Heller nippte vorsichtig an dem heißen Cappuccino.
»Nein, der war nicht von hier.«
»Er soll früher im Konzentrationslager gearbeitet haben, als Wachmann«, kramte Heller die spärlichen Informationen hervor, die er von Brenner bekommen hatte. Der Chefredakteur war wie immer sehr gut informiert. Heller hatte sich schon oft darüber gewundert, dass er offenbar überall seine Quellen und Informanten hatte und nicht selten mehr wusste als die ermittelnde Polizei. Aber das machte einen guten Journalisten wohl aus und irgendwie musste Brenner ja an seinen Posten gekommen sein.
»Davon, dass er hier Wachmann gewesen sein soll, weiß ich nichts.«
Kam es Heller nur so vor, oder klang das schon wieder etwas verschlossener? »Wo war das Lager denn eigentlich genau?«
»Hinter dem Dorf.« Julia Grote wedelte mit der Hand ungenau aus dem Laden hinaus. »Davon ist aber heute nichts mehr übrig. Nur den Appellplatz mit dem Mahnmal gibt es noch. Wenn das nicht wäre, würden Sie nichts mehr von dem Lager sehen.«
Heller überlegte, was sie wohl mehr bedauerte: dass von dem Lager fast nichts mehr übrig war, oder dass man die Reste nicht auch spurlos beseitigt hatte. »Kommt es öfter vor, dass ehemalige SS-Männer das Dorf besuchen?«
Julia Grote zuckte mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste. Früher hat es oft Ärger mit Neonazis gegeben. Aber seit die im Museum aufpassen und die Glatzen immer gleich rausschmeißen, ist es ruhig im Dorf. Bei Gedenkveranstaltungen sind manchmal ehemalige Häftlinge dabei, aber Nazis …« Sie schob den Teller mit den Brötchen über die Theke und deutete auf Hellers Tasse, die inzwischen leer war. »Noch einen?«
»Ja, gerne. Der Cappuccino ist prima.«
»Bleiben Sie länger hier?« Sie stand wieder mit dem Rücken zu ihrem Kunden und bediente den Vollautomaten.
»Wenn ich eine Unterkunft finde, ja. Gibt es hier eine Zimmervermittlung oder so was?«
»Hm, das nicht. Aber meine Tante Gerda vermietet Zimmer. Wenn Sie wollen, rufe ich sie mal an und frage. Zu dieser Jahreszeit hat die garantiert noch was frei.«
»Das wäre super.« Heller nahm die Tasse entgegen und stellte sich mit seinem Frühstück an einen der Stehtische.
Die junge Frau verschwand in einem angrenzenden Raum. Heller hörte, wie sie leise telefonierte. Dann kam sie zurück. »Geht klar. Nur frühstücken müssten Sie dann bei mir hier im Laden. Das schafft meine Tante in ihrem Alter nicht mehr. Sie hätten es auch gar nicht weit. Das Haus liegt an der Straße direkt unterhalb der Burg, in der Waldsiedlung.«
»Ist doch super. Dann bekomme ich jeden Morgen so einen hervorragenden Cappuccino.« Heller blinzelte Julia Grote zu und freute sich über den leichten Anflug von Rosa auf ihren Wangen.
Als er eine Viertelstunde später bezahlt hatte, machte er sich auf den Weg zurück zum Parkplatz und steuerte seinen Wagen über den Burghof und dann am Museum vorbei den Berg hinunter. Julia Grote hatte nicht zu viel versprochen. Am Hang unterhalb der Burg reihten sich schmucke Häuschen im Dreißiger-Jahre-Stil mit kleinen Gärten aneinander, in denen zu einer anderen Jahreszeit sicher die buntesten Staudengewächse blühten. Gleich gegenüber weitete sich der Blick über das Almetal. Heller stellte seinen Wagen ab und ließ seine Augen noch einen Moment über das Flüsschen, eine Brücke mit Bruchsteinbalustrade, eine alte Wassermühle und die ausladenden Wiesen bis hinüber zum Wald auf der anderen Seite des Tales streifen. Das hier war nun wieder Idylle pur. Vielleicht war Wewelsburg ja doch der ideale Ort für ihn, um ein oder zwei Wochen die Seele baumeln zu lassen.
*
Wewelsburg, den 17. Dezember 1939
Mein liebes, treues Hausmütterchen!
Nun bin ich also auf dem neuen Posten und will Dir berichten, wie ich mich hier eingerichtet habe.
Wewelsburg ist ein kleines Dorf mit etwa 1000 Einwohnern, so richtig ostwestfälisch und fast wie aus dem Märchenbuch. Und dann die Burg! Was hat unser Reichsführer doch für einen guten Geschmack! Das gewaltige Bauwerk erhebt sich in 50 Metern Höhe über dem ganzen Land und wird nun von einer privaten Firma vollständig überholt.
Unsere Baracken liegen etwa 500 Meter von der Burg entfernt. Zum Essen gehen wir immer in die Burg, aber das ist nicht einfach nur ein Essen, das man uns hier serviert, das ist ein Diner. Ich sage Dir, mein Muttchen, wenn Du Dich in Zukunft nicht anstrengst mit dem Kochen, bleibe ich für immer hier. Noch dazu wird uns das Essen in diesen gewaltigen Räumlichkeiten von niedlichen BDM-Mädchen serviert, da schmeckt es gleich doppelt so gut. So lässt sich der Krieg aushalten!
Neben dem SS-Wachdienst kommt nun auch noch die Verwaltungsarbeit dazu. Da werde ich in Zukunft wohl nicht mehr so viel Zeit zum Briefeschreiben haben wie in Sachsenhausen. Es gibt eben doch immer wieder auch negative Seiten, wenn man seinen Dienst ernst nimmt.
Gestern Abend hatten wir unsere Julfeier. Wir haben uns aus dem Wald einen herrlichen, vier Meter großen Baum besorgt und auch Lichter und Schmuck waren schnell zur Stelle. Nach einem ergreifenden offiziellen Teil kam die Fidelitas. Zum Essen gab es Kartoffelsalat und Eier. Die Baufirma, die die Burg überholt, hat Rauchwaren und Moselwein gestiftet. Die Stimmung war hervorragend. Wir haben gesungen und völkische Vorträge gehört.
Heute haben wir einen Rundgang durch die Umgebung der Burg und des Lagers gemacht. Danach hatte ich eine Menge Bürokram. Am Abend bin ich wieder auf der Burg eingeladen. Zum Glück habe ich meine neue Uniform, denn ich verkehre nun in den besten Kreisen.
Ach, Du mein Hausmütterchen, wie freue ich mich auf die paar Tage über Weihnachten, wenn ich bei Euch sein kann und Du mich so recht verwöhnen darfst!
Behalt mich lieb bis dahin.
Dein treuer Vati
12
Stefan Lenz hing durch, und das in mehrfacher Hinsicht: Die Matratze, auf der er aufwachte, bildete eine Kuhle wie eine Hängematte und schien direkt auf dem Boden zu enden; in seinem Schädel kippte gerade ein Lastwagen Schottersteine ab; seine Augenlider wurden von Lichtspeeren durchbohrt und ließen sich nicht öffnen; und direkt neben ihm wütete ein Grizzly. Letzteres kam ihm seltsam vor.
Lenz zwang sich, den Kopf in Richtung der größten Bedrohung zu wenden, ihn leicht anzuheben und wenigstens durch einen Sehschlitz von vielleicht einem halben Millimeter zu blinzeln. Dass er beides besser nicht getan hätte, wurde ihm schlagartig klar, als der Schmerz in seinem Schädel derart explodierte, dass er auf das Kopfkissen zurückgeworfen wurde. Sturmerprobt und schicksalsergeben wartete er auf das Abbranden der Pein, die – seine Erfahrung ließ gar keinen anderen Schluss zu – nur von allzu engagierter Alkoholvernichtung herrühren konnte.
Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich an irgendetwas zu erinnern, das diese Schlussfolgerung bestätigen konnte. Aber da war nichts als dröhnende Leere, die in seinem Schädel von Wand zu Wand widerhallte. Und dann ging der Grizzly dem Brummen nach zu urteilen auch noch zum Angriff über. Lenz trotzte dem Schmerz und riss die Augen auf. Zwanzig Zentimeter von sich entfernt erblickte er an Stelle des erwarteten Bären einen Hinterkopf mit dunklem Kurzhaarschnitt. Von dort kam der bedrohlich tiefe Laut, der sich nun als Schnarchen identifizieren ließ. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! War er irgendwann in der Nacht so besoffen gewesen, dass er einen Kerl mit nach Hause genommen hatte? Oder schlimmer noch: eine Transe? Die bärtige Fratze von Conchita Wurst tauchte vor seinem geistigen Auge auf und erzeugte augenblicklich so etwas wie Panik in dem Hauptkommissar. Hätte nicht der Schmerz in seinem Kopf davor gewarnt, wäre Lenz mit einem Satz aus dem Bett gesprungen und hätte den größtmöglichen Abstand zwischen sich und das Grauen gebracht.
So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Furchtbaren zu stellen. Möglicherweise spielte ihm ja auch nur eine Art von Delirium einen Streich. Lenz fasste allen Mut, den er in einer solchen Lage aufbringen konnte, und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Vorsichtig tastete er sich zu der Decke seines Bettgenossen vor und hob sie sanft an. Was er sah, erfüllte seine schlimmsten Befürchtungen. Ein nackter Rücken wandte sich ihm zu, splitterfasernackt bis hinunter zu den Arschbacken. Entsetzt ließ Lenz die Decke fallen und hangelte sich langsam rückwärts aus der Liegekuhle seines Bettes. Mit wackeligen Beinen umrundete er das rustikale Trumm, während sich das Schnarchen seines Bettgenossen zu einem furioso brutale steigerte.
Als er die andere Seite des Bettes erreichte, erblickte er auf dem Kissen wenigstens nicht die bärtige Conchita, sondern ein schlankes, fein geschnittenes Gesicht. Der Lidschatten war etwas verlaufen und aus dem halboffenen Mund rann ein Speichelfaden, der das Kopfkissen mit zuverlässig ständig nachströmender Feuchtigkeit versorgte. Ein Schauer lief über Lenz’ Rücken. Da hatte er doch tatsächlich eine Transe in sein Bett gelassen! Und dass auch er selbst splitterfasernackt war, wie er nun feststellte, machte die Sache nicht besser. Das hatte er nun von seinem ausufernden Lebenswandel. Scheiß Alkohol! Lenz stöhnte hingebungsvoll.
Sein Bettkumpan röhrte noch einmal auf, brach dann mitten in dem Ton ab, schnorchelte Speichel, drehte sich auf den Rücken und war schlagartig kein Grizzly mehr, sondern ein Krokodil, das nach einem unvorsichtigen Pavian schnappte, der sich zu nah an den Fluss herangetraut hatte. Dann schnarchte er einige Dezibel leiser, dafür aber mindestens noch eine Oktave tiefer weiter. Im Widerspruch dazu wirkte das Gesicht nun deutlich weicher und irgendwie weiblich.
Dies war der Moment, in dem ein kleiner Funken Hoffnung in Lenz aufflackerte. Vorsichtig hob er die Bettdecke an und schlug sie weit zurück. Wohlgeformte, straffe Brüste gerieten in sein schräges Blickfeld. Nun gut, das musste ja nichts heißen. Die plastische Chirurgie kannte schließlich nicht nur in ihrem Preis keine Grenzen. Aber auch weiter unten wurde Lenz angenehm überrascht. Dass dort ebenfalls nur weibliche Geschlechtsmerkmale zu entdecken waren, ließ einen Stein von der Größe des Watzmanns von seiner Brust fallen und ebnete prompt den Weg zu einer ausgeprägten ersten Erektion an diesem Tag, was Lenz erfreut zur Kenntnis nahm.
Einen Moment lang rang er mit sich, angesichts der greifbaren Verlockungen wieder in sein Bett zu kriechen, aber dann bahnte sich die Vernunft ihren Weg in sein Gehirn. Also schlich er aus dem Zimmer, um erst einmal aufs Klo und unter die Dusche zu gehen. Alles Weitere würde sich dann schon ergeben.
Als er fünf Minuten später in der Wanne unter dem heißen Wasserstrahl stand, öffnete sich die Badezimmertür. Durch die beschlagene Duschfolie und im Wasserdampf, der durch den Raum waberte, identifizierte Lenz lediglich einen Schattenriss, der sich vor seine Toilette stellte. Verflucht, also doch eine Transe! Wie hatte er das eben übersehen können? Der Schatten löste sich vom Klo, während die Spülung rauschte, und kam auf den Duschvorhang zu. Eine Hand langte in den Spalt und schob die Folie auf. Lenz wich automatisch zurück, bis sein Rücken die kalten Fliesen berührte.