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»Das Geld kommt in den Topf da vorne«, fuhr der Kojenwärter fort und deutete auf eine Edelstahlschale, die an einem Pfosten angebracht war.
»Wie viel?«, keuchte Heinz.
»So viel Sie wollen. Was es Ihnen wert ist. Nach oben sind natürlich keine Grenzen gesetzt. Nur Scheine sind schlecht, die schwimmen beim nächsten Regen weg …«, und als Heinz Baginski keine Anstalten machte, nachzufragen: »Wir warten nämlich immer, bis es geregnet hat, bevor wir die Schale leeren. Geldwäsche, Sie verstehen?«
Diesen Spruch musste wohl jeder Besucher über sich ergehen lassen, genauso wie das nun folgende schallende Lachen.
»Dann passen Sie mal gut auf, dass angesichts der aktuellen Finanzkrise heute Nacht kein Grieche in Ihrer Schale taucht«, kam es von hinten, was wiederum schallendes Gelächter auslöste.
Heinz drehte sich um und blickte in das Strahlen eines Familienvaters, dem seine Frau und drei Kinder wie eine Entenfamilie folgten. Derart angetrieben, warf Heinz Baginski schnell zwei Euro in die Schale und setzte seinen Weg fort.
»Moment«, rief der Kojenwärter hinter ihm her. »Nehmen Sie die Beschreibung mit, sonst wissen Sie doch gar nicht, wo Sie hin müssen, und am Ende verlaufen Sie sich noch.«
Er reichte Heinz ein in Klarsichtfolie verpacktes Blatt Papier, das auf der einen Seite die Geschichte des Entenfangs wiedergab, auf der anderen Seite eine Grafik mit der gesamten Boldixumer Vogelkoje und dem rot eingezeichneten Weg. In der Mitte der Anlage befand sich der quadratische Kojenteich, da wollte Heinz hin. Zuerst musste er links an einer sogenannten Pfeife vorbeigehen. Das war ein drahtummantelter geschwungener Wasserarm, der vom Hauptteich abzweigte und an dessen Ende ein Käfig angebracht war. Hier hinein sollten die von zahmen Artgenossen angelockten Wildenten schwimmen, um dann geringelt zu werden. Abgeschirmt wurde die Pfeife vom Weg durch schräggestellte Strohwände, hinter denen sich der Entenjäger verstecken konnte, bis die Wildenten weit genug geschwommen waren und durch sein plötzliches Auftauchen in den Käfig gescheucht wurden. All das entnahm Heinz Baginski der Beschreibung auf dem Zettel.
Am Ende der Pfeife, respektive an ihrem Anfang, befand sich also der Teich, den Heinz erreichen wollte. Dazu musste er ein paar Holzstufen erklimmen, um sich nun an einem Aussichtsplatz vom Niveau her leicht über dem Wasserniveau wiederzufinden. Links stand eine Bank, und dorthin verfrachtete er seine Kamera, froh, das Gewicht endlich nicht mehr am Hals zu haben. Nach so einem Ausflug war die ganze Massage vom Morgen gleich wieder beim Teufel; der leicht stechende Kopfschmerz, der seinen Ursprung im Nacken hatte, bestätigte das.
Aber für wehleidige Selbstbeobachtung war jetzt keine Zeit. Heinz Baginski klappte das Stativ auf, fuhr die Beine aus und zog die Mittelsäule hoch. Dann stellte er es an das Geländer vor dem Teich, nahm seine Kamera, schraubte die Stativklemme darunter und setzte sie auf das Manfrotto. Jetzt den Objektivdeckel ab, die Kamera einschalten und los geht’s. Dachte Heinz. Aber ganz so einfach war das nicht, denn zunächst einmal mussten Enten da sein, und die waren eben nicht da.
Hinter sich, am Fuße der Treppe und damit noch im Bereich der Pfeife, tönten laut die Stimmen der Familienmitglieder, die hinter Heinz in die Koje gekommen waren.
»Da sind Enten!«, schrie eines der Kinder und rannte offenbar mit seinen Geschwistern hinter ein paar Tieren her, die sich in der Pfeife versteckt zu haben schienen und jetzt von den kreischenden Stimmen aufgescheucht wurden. Denn nun hob ein vielstimmiges Geschnatter an, und mit heftigen Flügelschlägen liefen ein paar Enten regelrecht aus der Pfeife über das Wasser auf den offenen Teich.
Gute Kinder, dachte Heinz und legte mit dem Objektiv auf das Federvieh an, revidierte sein Urteil aber sofort wieder, als die schreienden Bälger, gefolgt von den ebenfalls begeisterten Eltern, die Treppe hinaufstürmten und sich an das Geländer warfen, um direkt vor Heinz’ Linse herumzuspringen. Die Enten quittierten das erneut mit heftigem Geschnatter, Flügelschlagen und übereilter Flucht in eine gegenüberliegende Pfeife, die den Blicken der Besucher verborgen und auch nicht öffentlich zugänglich war.
»Oh, schade!«, rief die Mutter der ungezogenen Blagen. »Jetzt sind sie weg.«
»Komisch«, knurrte Heinz leise. »Wie das wohl kommt.«
Nun hieß es warten – darauf, dass die Kinder verschwanden, und darauf, dass die Enten zurückkehrten. Heinz Baginski ließ sich seufzend auf der Bank nieder. Er übte sich in Geduld und in der Bauchatmung, die Ronny Lange ihm beigebracht hatte, um sich im Extremfall selber wieder zur Ruhe bringen und Herzanfälle vermeiden zu können. Die Familie trat den Rückzug an, enttäuscht, dass es auf dem Teich nichts mehr zu sehen gab, und die Enten blieben da, wo sie sicher waren. Heinz Baginski wartete …
Als er schon kurz davor war aufzugeben, tauchten die Tiere wieder auf. Einträchtig schwammen sie ins offene Wasser hinaus und versenkten ihre Köpfe abwechselnd, um auf dem Boden des Teiches nach Algen zu gründeln. Heinz erkannte überwiegend Stockenten, nichts Besonderes also, denn die gab es auch in Bottrop in rauen Mengen. Aber ein Vogel war anders: pechschwarz mit weißer Brust. Eine Krickente, da war Heinz sich sicher. Sorgfältig richtete er seine Kamera aus, visierte das begehrte Objekt an und wollte gerade auslösen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.
»Feierabend, junger Mann«, sagte der Kojenwärter. »Zwölf Uhr. Ich mache jetzt dicht.«
Es war zum Verzweifeln.
»Kann ich nicht noch eben …«, begann Heinz, aber der Kojenwärter winkte bestimmt ab und begleitete dies mit einem heftigen Kopfschütteln.
»Neenee, da müssen Sie morgen wiederkommen. Ich habe hier jetzt noch eine Menge zu tun.«
Was es angesichts der Handvoll Enten hier zu tun gab und inwiefern ein Besucher dabei störte, erschloss sich Heinz Baginski zwar nicht, aber da war wohl jeder Widerstand zwecklos, zumal das Federvieh dank der lauten Stimme des Kojenwärters bereits wieder in einer der Pfeifen verschwunden war. Also baute der Erfolglose seine Ausrüstung ab und hängte sich seine Geräte nach bewährter Art um den Hals.
»Gucken Sie doch mal am Vorland«, riet der Wärter noch, als Heinz durch den Buschtunnel zurück zu seinem Fahrrad trottete. »Da sind auch immer viele Möwen.«
Möwen, dachte Heinz, ich will keine Möwen, ich will Enten, und die kriege ich auch – und zwar heute, verlass dich drauf, du Kojen-Schimanski!
Er war selbst erstaunt, denn ihm hatte sich eine Idee eingeschlichen, ein Plan gar, und der sah so aus: Heinz Baginski würde nicht zurück nach Wyk radeln. Er würde, wie ihm der Kojenwärter geraten hatte, am Deich entlang zum Midlumer Vorland fahren und dort abwarten. Später, wenn der Kojenwärter sicher verschwunden war, würde er dann zur Vogelkoje zurückkehren und die Enten fotografieren. Das würde ihm morgen einen ganzen Vormittag sparen und dazu den erneuten Eintritt.
Henning Leander saß in der Küche seines kleinen Fischerhäuschens in der Wilhelmstraße mit einer Kaffeetasse in der Hand am Küchentisch und schaute in den Garten hinaus. Das heißt, eigentlich schaute er in die Wildnis hinaus, die sein Großvater dereinst als Garten angelegt hatte. Leander wohnte nun ein gutes halbes Jahr in diesem Häuschen, das seit dem Tod des alten Heinrich ihm gehörte, und in der ersten Zeit war der Winter sein Freund gewesen, wenn es darum ging, einen Grund zur Vermeidung der Gartenarbeit zu finden. Aber dieser Winter war, so unerbittlich und unwirtlich er sich diesmal auch in die Länge gezogen hatte, seit einiger Zeit vorbei. Der Frühling hatte für ein üppiges Pflanzenwachstum gesorgt. Dabei hatte Leander sich gezielt an den Blüten der Obstbäume erfreut, wenn er morgens durch das Küchenfenster geschaut hatte, und die Wiese, die Woche für Woche höher wurde, einfach ignoriert. Doch das ging nun nicht mehr: Der Sommer war gekommen, die Bäume hatten ihre Blüten gegen Fruchtknoten getauscht, die langsam zu ganzen Früchten heranwuchsen, und nichts mehr lenkte das an Ästhetik gewöhnte Auge von der Wildnis ab, die den Garten zu verschlingen drohte. Sogar die Holzhütte im hinteren Teil, zu der Leander im Schnee noch mühelos vorgedrungen war, wenn er Brennholznachschub geholt hatte, entschwand allmählich ganz dem Blick des Betrachters. So ging das nicht weiter.
Leander seufzte, schenkte sich aber zunächst noch einmal Kaffee nach, bevor er sich zu der unvermeidlichen Erkenntnis durchrang, dass die Ruhe nun ein Ende haben musste. Die Bürden des Haus- und Gartenbesitzers harrten seiner, und sie taten dies mit einer Unerbittlichkeit, derer er sich nicht länger erwehren konnte. Kurz und gut: An diesem Sommermorgen fasste der frühere Hauptkommissar des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein, der einst für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zuständig gewesen war, den Entschluss, ab sofort die Rekonvaleszenz seines Burn-out-Syndroms zu beenden und in eigener Sache therapeutisch-produktiv tätig zu werden. Er würde jetzt und hier der auf natürliche Weise organisierten Wildnis des Gartens und der Wirrnis seiner Psyche den Kampf ansagen; er würde mit Sichel und Sense zu Werke gehen – für die Astschere war es zum Glück zu spät im Jahr. Und er wollte auch den Umgang mit dem Spaten nicht scheuen, wenn es denn unbedingt nötig würde.
Er trank den letzten Schluck Kaffee. Das Ausspülen der Tasse bot noch eine kurze Galgenfrist, und auch die Suche nach seinen alten Klamotten in den Untiefen des Kleiderschrankes hatten etwas derart Herauszögerndes, dass sich bereits das schlechte Gewissen zu rühren begann. Doch einige Minuten später stand Henning Leander in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen in seiner Wildnis, die zum Glück noch einigermaßen im Schatten lag.
Er genoss in der Wärme des Sommermorgens einen Moment lang das Vogelgezwitscher in den Obstbäumen, bevor er sich endgültig einen Ruck gab. Zunächst einmal musste er sich einen Weg durch das hohe Gras zum Schuppen bahnen, ohne die Halme über Gebühr plattzutreten, denn schließlich wollte er sie ja mit der Sense abschneiden, und das ging nur in aufgerichtetem Zustand. Im Kampf mit dem rostigen Schloss der Holztür blieb er Sieger, und auch in der Finsternis des Schuppens, der für einen großgewachsenen Mann wie Leander reichlich niedrig war, wurde er nach einigem Suchen fündig. Natürlich hing die Sense in der hintersten Ecke an der Wand, und einsatzbereit sah sie eigentlich auch nicht aus. Das Blatt war rostig, die Schnittkante schartig, und so suchte Leander nach dem Amboss und dem Dengelhämmerchen, die er dank der Ordnung seines Großvaters auf einem Arbeitstisch rechts neben der Tür fand. Die Drahtbürste entfernte den gröbsten Rost, der Hammer glättete die Schneide einigermaßen. Mit dem Schleifstein zog Leander sie nach und hoffte, dass er das gute Stück am Ende nicht ganz zuschanden gemacht hatte. Schließlich sah sie wieder genauso schartig aus wie vorher, nur schärfer und ein wenig blanker schien sie zu sein.
Ein erster Test direkt vor der Tür war denn auch so erfolgreich, dass sich Leander mit neuem Schwung und frischer Hoffnung ans Werk machte. Zunächst schnitt er einen Weg vom Schuppen zum Haus frei und nutzte diesen dann als Basislinie für die Expedition in den Dschungel zwischen den Obstbäumen. Leander hatte noch nie mit einer Sense gearbeitet, sein ganzes Wissen stammte aus Heimatfilmen im Fernsehen und einem einigermaßen ausgeprägten Verständnis für Physik und Technik. Und dennoch wirkte der Schwung, den er nach und nach ausfeilte, auf ihn fast schon fachmännisch. Das hohe Gras wich einer holperig geschnittenen Wiese, die gelegentlich eher gerupft aussah, aber immerhin war das Gras nach seinem Einsatz deutlich kürzer als vorher.
»Das wurde aber auch Zeit!«, hörte er die schneidend eisige Stimme seiner Nachbarin Johanna Husen, die augenblicklich die Vögel zum Schweigen brachte und die Wärme aus dem Garten vertrieb.
Als er sich umdrehte, erblickte er ihren dürren Hals und ihr Warangesicht direkt über der Ligusterhecke zum Nachbargarten. Johanna Husen war seinem Großvater in treuer und unerbittlicher Nachbarschaft verbunden gewesen und hatte ihm den Haushalt geführt, was allein deshalb viele Jahre gut gegangen war, weil sie den alten Hinnerk vergöttert und er dies zu nutzen gewusst hatte. Nach seinem Tod hatte sie dann keine Mühen gescheut, Leander unmissverständlich klarzumachen, wie er sich in seinem neuen Heim zu verhalten habe, wenn er sich des Andenkens an seinen Großvater würdig erweisen wollte. Dies drohte aber zu scheitern, denn Leander war weder ein alter Mann noch ein kleiner Junge, der sich dies gefallen lassen musste.
»Guten Morgen, Frau Husen«, antwortete Leander und konnte einen gereizten Unterton nicht unterdrücken.
»Ich will ja nichts sagen«, strafte sich Frau Husen selbst Lügen, »aber Ihr Herr Großvater ist jetzt gerade einmal ein halbes Jahr tot, und eigentlich geht es mich ja auch gar nichts an …«
»Richtig«, warf Leander dazwischen, ohne jedoch für Frau Husen eindeutig auf die erste oder die zweite Aussage abzuzielen.
»… und im Grunde ist es ja jetzt auch Ihr Garten …«
»Im Grunde?«, startete Leander einen erneuten Versuch, das Schlimmste abzuwenden.
»… aber das hat Ihr Großvater nicht verdient«, ließ sich Frau Husen nicht beirren, »dass Sie seinen Garten derart verwildern lassen!«
»Ich verstehe Ihren Unmut, Frau Husen«, gab sich Leander kleinlaut. »Und wie Sie sehen, bin ich dabei, Abhilfe zu schaffen.«
»Das wurde aber auch Zeit!«, wiederholte die alte Dame. »Seit einem halben Jahr stehlen Sie dem lieben Gott den Tag, anstatt dafür zu sorgen, dass Ihr Großvater ein ehrendes Angedenken erhält.«
»Jetzt reicht es aber, Frau Husen«, begehrte Leander nun auf, der wieder einmal erkannte, dass er dem alten Drachen viel zu viel Raum für seinen Angriff gelassen hatte. »Wie Sie richtig bemerkt haben, ist mein Großvater tot. Und dies hier ist nun mein Garten. Entsprechend pflege ich ihn so, wie ich es für richtig halte. Und was das Andenken an meinen Großvater betrifft, steht Ihnen überhaupt kein Urteil zu.«
Einen Moment lang schien Johanna Husen sprachlos angesichts der Respektlosigkeit dieses jungen Hüpfers ihrem Alter gegenüber. Aber Johanna Husen wäre nicht Johanna Husen gewesen, hätte sie sich lange aus dem Konzept bringen lassen.
»Das ist ja wohl die Höhe«, rief sie und brachte tatsächlich noch einmal einige zusätzliche Zentimeter an Halslänge zustande. »Eigentum verpflichtet! Haben Sie davon schon einmal etwas gehört? Ihr Unkraut streut seine Samen bis in meinen Garten. Niemals habe ich so viel Löwenzahn in meinem Rasen gehabt wie in diesem Jahr. Was glauben Sie wohl, woher das kommt? Soll ich in meinem Alter noch jeden Tag auf den Knien durch den Garten rutschen und den Löwenzahn ausstechen, der immer wieder von Ihnen herüberweht?«
»Vielleicht solltest du einfach mal etwas Farbe in deinem Leben zulassen, du graues Gespenst«, murmelte Leander, hütete sich aber, es so laut zu sagen, dass Frau Husen es mitbekam.
»Was haben Sie gesagt?« Offenbar hatte sie seine Lippenbewegungen gesehen.
»Ich habe gesagt, dass der Löwenzahn in Ihrem Garten nicht in diesem Jahr gesät worden sein kann. Aber ich werde ab sofort dem lieben Gott nicht nur den Tag, sondern auch die Farben seiner Blumen stehlen, indem ich dem Löwenzahn zu Leibe rücke. Damit das auch von Erfolg gekrönt wird, bitte ich Sie nun, mich weiterarbeiten zu lassen. Einen schönen Tag noch, Frau Husen.«
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte die Frau sich nicht geschlagen geben, aber dann sah sie offenbar ein, dass sie für den Moment das Äußerste erreicht hatte, und zog ihren Kopf langsam wieder ein, was ihrem Hals das Aussehen einer Ziehharmonika gab.
Kaum war Frau Husens Antlitz hinter der Hecke verschwunden, atmete Leander erleichtert auf und machte sich wieder mit der Sense an die Arbeit. Trotz seiner inneren Bewegung beschloss er, sich den Tag nicht von so einer alten Schreckschraube vermiesen zu lassen. Dafür war die Sonne heute viel zu herrlich, die Wärme kehrte in den Garten zurück, und auch das Vogelgezwitscher hob allmählich wieder an.
Die Mäharbeit ging Leander erstaunlich flott von der Hand. Bald waren sogar die Baumstämme wieder zu sehen und einige stachelige Himbeersträucher an den Grundstücksseiten wurden sichtbar. Lena würde sich freuen, denn sie war ein Fan selbstgemachter Marmeladen.
Mein Gott, Lena!, seufzte Leander in Gedanken. Wie lange hatte er seine Freundin schon nicht mehr gesehen! Sie hatten gemeinsam die Umstände des Todes seines Großvaters aufgeklärt. Dann war Lena nach Kiel aufgebrochen und hatte ihren Dienst beim LKA wieder aufgenommen, der noch umfangreicher geworden war, weil der Abteilungsleiter Henning Leander von Bord gegangen war. Nun hatte sie Aussicht auf seine Position, aber dafür kannte sie auch keinen Feierabend und keinen Urlaub mehr, und Leander verstand seine frühere Frau mit einem Mal viel besser. Inka hatte sich nicht zuletzt von ihm getrennt, weil er sie schlicht allein gelassen und nur noch für seinen Beruf gelebt hatte.
Die Sonne stand inzwischen im Zenit und Leander inmitten der eigenen Schweißströme – Zeit, eine Pause einzulegen und die gute Sitte der Siesta auch im Norden Europas einzuführen. Leander brachte die Sense zurück in den Schuppen und kramte stattdessen ein paar klapperige Gartenstühle und einen Holztisch hervor, die er mitten auf dem Rasen unter einem Apfelbaum platzierte. Dann holte er sich eine Flasche Wasser aus dem Haus und ließ sich in seinem kleinen Paradies nieder. Unter den Bäumen konnte man es aushalten, und auch der Blick in den Garten um sich herum gestaltete sich nun viel erfreulicher als noch am Morgen. Wenn erst einmal das abgeschnittene Gras zu Heu getrocknet und zusammengeharkt war, konnte Leander den Rasen mit dem alten Handmäher kurz halten, den er im Schuppen entdeckt hatte. Er beschloss, von nun an so viel Zeit wie möglich in der windgeschützten Ruhe seines Gartens zu verbringen. Leander lehnte sich zurück, dachte noch, dass er sich vielleicht um einige bequemere Stühle und Liegen kümmern sollte, und war schon eingeschlafen, bevor er deren Kauf planen konnte.
Heinz Baginski strampelte mit seiner Rostlaube bei heftigem Seitenwind schlingernd den Deich entlang, stieg vor jedem Gatter ab, um sein Rad durch die federbewehrten selbstschließenden Holztore zu schieben – wobei er einmal fast erschlagen worden wäre –, und erreichte nach einiger Zeit das Vorland. Lahnungen erstreckten sich rechter Hand in den Schlick des Wattbodens, um ebendiesen bei jeder Flut aufzustauen, bis neues Land gewonnen war. Hier würde sich zunächst der Queller ansiedeln, um erneut Sand abzufangen, und dann der Strandhafer und der Strandflieder, der die Salzwiesen lila einfärbte. Von Seevögeln war jedoch weit und breit nichts zu sehen – die waren weit draußen im Watt, denn es war Niedrigwasser, und damit war dort die Tafel für sie reich gedeckt.
Heinz Baginski fuhr weiter bis zum Infowagen der Schutzstation Wattenmeer und informierte sich dort an Bildertafeln über die verschiedenen Limikolen, die hier heimisch waren – das war der Fachbegriff für alle Watvögel, die so hießen, weil sie durch den Schlick des Watts wateten und Würmer und sonstiges Getier darin suchten. Hin und wieder flogen Austernfischer in Kleingruppen laut pfeifend über den Deich, so dass Heinz Baginski wenigstens ein paar Fotos schießen konnte und nicht vergeblich hierher geradelt war. Dergestalt vertrieb er sich die Zeit bis gegen sechzehn Uhr und ignorierte den aufsteigenden Hunger und vor allem den Durst, denn er hatte nichts zu trinken dabei. Schließlich hatte er ja nicht ahnen können, dass aus einem vormittäglichen Kojenbesuch ein Ganztagesausflug würde. Dann machte er sich auf den Rückweg, in der Hoffnung, die Fanganlage nun verlassen vorzufinden.
Zunächst hatte er jedoch wieder gegen den Wind zu kämpfen, denn der hatte sich gedreht. Das war Heinz Baginski gewohnt: An der See kam der Wind merkwürdigerweise immer von vorn, egal, in welche Richtung man radelte.
Gegen siebzehn Uhr dreißig war er wieder an der Boldixumer Vogelkoje, die jetzt friedlich und verlassen hinter dem Deich in der Marsch lag. Heinz schob sein Fahrrad auf die Weide an der Seite der Koje – es musste schließlich niemand, der vorbeiradelte, sehen, dass dort jemand widerrechtlich eingedrungen war. Dann huschte er über die Straße zurück zum Eingang, um dort entsetzt festzustellen, dass die Klappbrücke ihrer Funktion gemäß hochgeklappt war. Als wäre das noch nicht genug, ragte auf der anderen Seite des Grabens, der die Vogelkoje umgab, ein seitlich mit Stacheldraht bewehrtes Tor fest verschlossen vor ihm auf.
»Mist«, fluchte Heinz, denn daran hatte er nicht gedacht.
Was sollte er nun tun? Unverrichteter Dinge nach Wyk zurückradeln? Morgen wiederkommen und noch einmal Eintritt zahlen, nur um erneut von nervigen Blagen am Fotografieren gehindert zu werden? Nichts da! Er würde einen Zugang finden, und dann hätte er Stunden Zeit, um die Föhrer Krickente dahin zu bekommen, wo sie hingehörte: auf den CCD-Chip seiner Spiegelreflex.
Also ging Heinz Baginski zurück und umrundete die Vogelkoje bis zu ihrer Rückseite. Wenn bloß niemand auf dem Deich vorbeikam und ihn entdeckte! Aber da war weit und breit kein Mensch zu sehen. Und jetzt tat sich vor ihm die große Chance auf: Hinter dem Stacheldraht öffnete sich eine Schneise im Gebüsch, die aussah, als würde sie dem ansässigen Wild regelmäßig als Zugang dienen. Heinz pfiff in verwegener Vorfreude Gabys Hit »Es kann mit vierzig wie mit zwanzig sein« leise vor sich hin, schob sein Stativ auf den Rücken, damit es ihn nicht störte, und setzte zum Sprung über den Graben an. Er kam auch an der gegenüberliegenden Seite sauber auf. Sein Oberkörper wurde aber vom Gewicht seiner Ausrüstung so weit zurückgezogen, dass er abglitt und langsam rückwärts mit seinen Schuhen in den Graben rutschte. Kalter, nasser Schlick quoll an seinen Knöcheln durch die Strümpfe, schwappte an seinen Waden hinauf bis zum Hintern und erzeugte ein Gefühl, als sei Heinz Opfer einer unangekündigten Durchfallattacke geworden.
›Es kann mit vierzig wie mit achtzig sein‹, wäre jetzt passender gewesen, aber den Frevel verkniff sich Heinz zugunsten eines saftigen Fluches, um dann mühsam und auf allen vieren den glitschigen Hang hinauf zurück zum Zaun zu klettern. Nun befand er sich auf der richtigen Seite des Grabens und brauchte nur noch dem Trampelpfad durch das ansonsten dichte Gebüsch zu folgen. Kurz darauf gelangte er seitlich an das Wärterhäuschen, das einsam und offensichtlich verschlossen dalag. Von hier aus folgte er dem offiziellen Weg an der Pfeife vorbei zum Teich, erklomm die Stufen und fand sich auf dem Aussichtsplateau wieder. Und da waren sie: Die Enten schwammen im Pulk über die schwarzgrüne Wasserfläche. Nur die schwarze Ente war nicht dabei. Alles bloß Stockenten. Das durfte doch nicht wahr sein! Da hatte Heinz Baginski den ganzen Tag vertrödelt, seine Schuhe und seine Hose ruiniert, seine teure Ausrüstung dabei aufs Spiel gesetzt, und nun das! Wahrscheinlich war die einzige Wildente aus der Vogelkoje inzwischen schon wieder zu ihren Artgenossen irgendwo da draußen im Watt oder in der Marsch aufgebrochen. Oder der Kojenschimanski hatte sie geringelt und zum Abendessen mit nach Hause genommen.
Aber da hörte Heinz Baginski aus dem Gestrüpp an der Seite des Teiches ein Pfeifen, das nicht von einer Stockente kommen konnte. Das musste eine Krickente sein, und wenn er ganz großes Glück hatte, war es vielleicht sogar eine Pfeif- oder eine Knäkente. Er schlang Kamera und Stativ von den Schultern und baute alles wieder so auf, wie er es am Vormittag bereits vergeblich getan hatte. Dann brachte er sein Jagdgerät in eine günstige Schussposition und legte sich auf der Bank im Sichtschutz des Geländers auf die Lauer.
Die Stockenten glitten langsam über den Teich, keine Welle bewegte das schwarzgrüne Tümpelwasser, die Sonne senkte sich langsam hinter die hohen Baumkronen, im Schatten der Bäume war es windstill und warm. Er spürte die Schwere seiner abgestrampelten Glieder und den Krampf, der sich gerade in seiner rechten Wade bildete, erinnerte sich an die progressive Entspannungstechnik nach Jacobsen, schloss die Augen, atmete tief in seinen Bauch ein, spannte zuerst seine Füße an, entspannte sie dann wieder, ging zu den Waden über, fühlte sich in seine Muskulatur hinein, die Insekten summten eintönig um ihn herum, der Krampf verschwand, die Lider wurden ihm schwer … und Heinz Baginski schlummerte ein.