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Die Sonne hatte bereits eine erstaunliche Kraft, so dass Leander froh über den Schatten war, der auf eine Hälfte der Bank fiel. Er entfaltete seine Zeitung und informierte sich über die anstehenden Festlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Stadt. Die entscheidende Woche stand kurz bevor. Neben einem Hafenfest mit großem Höhenfeuerwerk waren Aktionen wie der Bau eines Leuchtturms aus Sand an der Promenade geplant, der sogar ein funktionstüchtiges Leuchtfeuer erhalten sollte. Außerdem wurde ein Open-Air-Konzert der Band Stanfour angekündigt, deren Gründer, die Brüder Rethwisch, von der Insel kamen. Leander beschloss, dies zum Anlass zu nehmen, seine Freundin Lena wieder einmal nach Föhr zu locken.
Da der Insel-Bote sonst nichts Interessantes zu berichten hatte, schlug er die Zeitung zu und schloss die Augen. Er erinnerte sich an seine ersten Tage und Wochen hier auf der Insel. Es war kalt gewesen, Winter eben, und er hatte sehr viel Energie gebraucht, um zu sich selbst zu finden. Verdammt, was war er damals fertig gewesen! Auf der Suche nach der Wahrheit über seinen Großvater und seine eigene Familiengeschichte hatte er begriffen, dass er während der letzten vierzig Jahre völlig falschen Idealen und Zielen nachgelaufen war. Er hatte Forderungen erfüllt, die nicht seine eigenen gewesen waren und eigentlich seiner inneren Struktur zuwiderliefen. Kein Wunder also, dass er krank geworden war. Niemals zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob die vorgegebenen Bahnen auch tatsächlich befahren werden mussten. Natürlich mussten sie das nicht, vorausgesetzt man hatte eine Alternative. Mit dem Tod seines Großvaters hatte sich dann dank des üppigen Erbes die große Chance geboten, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Das war eine Stabübergabe im rechten Moment gewesen, vielleicht sogar im letzten.
Lena hatte zunächst Mühe gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie von nun an die meiste Zeit des Jahres getrennt leben würden. Inka und den Kindern hingegen war das vollkommen egal gewesen, was Leander wiederum einen Stich versetzt hatte. Er würde noch einige Zeit brauchen, um den Zeitpunkt nachvollziehen zu können, an dem sie sich so gründlich verloren hatten. Vor allem sein Verhältnis zu seinem Sohn Hanno, der Rechtsanwalt werden wollte, machte ihm zu schaffen, denn es wies große Parallelen auf zu dem Verhältnis, das Leanders Vater Bjarne zu dessen Vater Hinnerk gehabt hatte. Aber auch seine Tochter Pia, die in Kiel Ozeanografie studierte, hatte ihm schon so manche schlaflose Nacht bereitet. Sie ähnelte Inka so sehr, dass sich der Hass ihrer Mutter auf ihren Vater quasi eins zu eins übertragen zu haben schien. Leanders anfängliche Hoffnung, das schon wieder geradebiegen zu können, hatte sich bislang nicht erfüllt. Die kurzen Telefonate mit seinen Kindern waren allesamt unerfreulich verlaufen.
Wie konnte man im Zustand abgerissener Kommunikation seinen Kindern erklären, warum man sich so hatte verhalten müssen, wie man sich verhalten hatte? Dafür waren Gespräche nötig, lange Gespräche und vis-à-vis, nicht am Telefon. Solche Gespräche gab es aber nicht mehr zwischen Leander, seiner Frau und seinen Kindern.
Er schlug die Augen auf und blickte auf das Wasser des kleinen Teiches. Auf der glatten Oberfläche las er im Spiegelbild der Mühle die Worte Venti Amica, nur auf dem Kopf. Er hob den Blick, so dass er beide betrachten konnte, Original und Spiegelbild. Trotz des abgebrochenen Flügels wirkte die Mühle stattlich. Als ein leichter Windhauch aufkam, bekam das Spiegelbild ein Eigenleben, entfernte sich die Kopie vom Original. Je stärker der Wind wurde, desto mehr verwischte sich das Bild, das eben noch so klar und deutlich gewesen war. Wind of change, dachte Leander. Der Wind des Wechsels, der wechselhaften Geschichte, war in der Lage, scheinbare Übereinstimmungen durcheinanderzubringen, Unterschiede deutlich werden zu lassen. Kleine Jungen sind die Abbilder ihrer Väter – bis die Pubertät kommt, dann entwickeln sie eine eigene Richtung. Und wenn schon die Pubertät derartige Planänderungen herbeiführen kann, wie heftig schlagen dann geschichtliche Ereignisse ins Kontor?
Die Protestbewegung von 1968 hatte Leanders Vater Bjarne eine Richtung gegeben, die dessen Vater Heinrich niemals vorhergesehen hatte. War Bjarnes Weg automatisch der richtige gewesen, nur weil er moderner war, emotionaler? War Heinrich Leander automatisch verpflichtet gewesen, diesen Weg mitzugehen oder zumindest zu akzeptieren, nur weil der, der ihn einschlug, sein Sohn war? Wann hörte die Selbstverleugnung auf, die mit der Geburt der Kinder begann? Hatte ein Vater kein Eigenleben mehr, stand er nur noch in der Verantwortung für seine Kinder?
Weshalb, verdammt noch mal, musste Leander ununterbrochen dafür sorgen, dass seine Kinder ein gutes Leben hatten? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein eigenes? Schließlich war der Umzug auf die Insel seine Rettung gewesen. Wer weiß, wie lange er sonst noch durchgehalten hätte. In einem Jahr vielleicht hätte sich der Deckel über seinem Sarg geschlossen, und dann hätten sie an seinem Grab gestanden – Inka, Hanno und Pia. Sicher, sie hätten Tränen vergossen, aber wie lange? Sie hätten ihm die Schuld selbst zugewiesen – aus ihrer Sicht durchaus verständlich. Sie hatten längst jeder ihr eigenes Leben, in das sie zurückgekehrt wären. Und niemand hätte auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, ob er, Henning Leander, auch ein eigenes Leben gehabt hatte – niemand. Umso wichtiger, dass jeder selbst dafür sorgte, dass er sein Recht bekam, sein Recht auf ein eigenes Leben.
Der kurze Windhauch ließ wieder nach, der Wasserspiegel beruhigte sich, Abbild und Original deckten sich wieder, und Henning Leander beschloss, die Zeit für sich laufen zu lassen. In Zukunft wollte er sein eigenes, unabhängiges Leben führen. Wenn seine Kinder etwas von ihm wollten, würden sie sich melden. Wenn nicht, auch gut. Der Neubeginn auf Föhr war ein Befreiungsschlag. Wenn es in seinem weiteren Leben Verpflichtungen gab, dann nur solche, für die er sich freiwillig entschied. Verantwortung für seine Kinder – okay. Selbstaufgabe – niemals wieder!
Leander erhob sich von seiner Bank, rieb sich den schmerzenden Hintern und schlenderte auf dem schmalen Plattenweg einmal um den Teich herum. Die Seerosen, die ihre Köpfe durch den Spiegel steckten, und die Schmetterlinge auf den Blüten der am Rand wachsenden Stauden hatten mit einem Mal viel grellere Farben – oder kam ihm das nur so vor? Er würde Lena fragen. Genau. Lena hatte einen Blick für das Leben. Er würde sie anrufen, sobald er nach Hause kam. Und dann würde er zur Kurverwaltung gehen und Karten für das Stanfour-Konzert kaufen.
Kriminaloberkommissar Dernau stand im Rahmen der Tür des Kojenwärterhäuschens und tobte. Dabei ließ er keine Beleidigung aus, kein Angriff war ihm zu scharf. Polizeioberkommissar Hinrichs blickte Hilfe suchend auf Dernaus Vorgesetzten Kriminalhauptkommissar Bennings, aber der stand betont teilnahmslos daneben und ließ das Geschehen an sich vorbeirauschen.
Bennings und Dernau waren ein eingespieltes Team, die klassische Kombination guter Bulle / böser Bulle sozusagen, aber das allein war es nicht. In Dernau brodelte es ununterbrochen, der Kessel stand ständig unter Dampf, und irgendwann musste der Druck nun mal raus. Davon abgesehen war Dernau genau die Art von Kollege, die man sich an seiner Seite nur wünschen konnte: erstklassig ausgebildet, intelligent, durchtrainiert, draufgängerisch und reaktionsschnell. In Gefahrensituationen konnte eine solche Persönlichkeitsstruktur beiden das Leben retten.
Zudem hatte Dernau ja recht: Da hatte dieses Inselei die Leiche abtransportieren lassen, bevor die Spurensicherung sich ein Bild hatte machen können. Wenn der schlicht und einfach das getan hätte, was die Kommissare aus Flensburg für die Hauptbeschäftigung der Inselpolizei hielten, nämlich gar nichts, dann wäre der Fall vielleicht schnell gelöst gewesen. So aber waren wichtige Spuren verwischt worden, erste Eindrücke unmöglich gemacht und nicht mehr rekonstruierbar. Da änderten auch die Fotos nicht viel, von denen Hinrichs jetzt faselte. Allein das Argument, die Leiche wäre heute ohnehin nicht mehr in dem Zustand der letzten Nacht gewesen, weil es hier Dachse, Marder, Ratten und dergleichen gebe, zeigte, mit was für einem geistigen Niveau die Fachkräfte aus Flensburg auf so einer Insel konfrontiert wurden.
»Dann stellt man Wachtposten auf«, wetterte Dernau, »lässt das Licht an, bewaffnet sich mit Knüppeln, wenn man schon zu blöde ist, zu merken, dass man eine Pistole trägt. Mann, das darf doch alles nicht wahr sein!«
»Wachtposten?«, beharrte Hinrichs. »Woher soll ich denn die Leute …«
»Dann stellen Sie sich halt selber eine Nacht lang hier hin!«, brüllte Dernau jetzt. »Schließlich hatten Sie letzte Nacht Dienst, Sie Wachtmeister! Und jetzt raus hier, bevor Sie noch mehr Schaden anrichten!«
»Ich habe die ganze Nacht lang den Tatverdächtigen verhört«, begehrte Hinrichs noch einmal auf.
»Raus!«, brüllte Dernau, anstatt auf den Einwand einzugehen.
Bennings machte wortlos einen Schritt zur Seite und ließ den niedergeknüppelten Leiter der Inselpolizei an sich vorbeischleichen. Als der außer Hörweite war, wandte er sich an Dernau. »Jetzt ist es gut, Klaus. Wir brauchen ihn noch für die Laufarbeit. Außerdem denke ich, dass er seine Lektion begriffen hat.«
»Zu Befehl, Chef«, antwortete Dernau und grinste wie jemand, der gerade seinen Spaß gehabt hatte.
Im grünen Tunnel vor der Hütte tauchte Hinrichs dienstbeflissen wieder auf und meldete, dass sich Fahrzeuge näherten.
»Das ist die Spurensicherung«, antwortete Bennings und nickte ihm zu. »Zeigen Sie den Kollegen den Weg, Herr Hinrichs.«
Hinrichs verschwand wieder und kam wenige Minuten später mit einem ganzen Trupp von Männern zurück, die alle in weißer Schutzkleidung steckten und schwere Alukoffer schleppten.
»Das ist ja der Arsch der Welt, hier möchte ich nicht tot über dem Zaun hängen«, begrüßte Paul Woyke, der Leiter der Spurensicherung, die beiden Kommissare.
»Na ja, der Arsch der Welt ist wohl übertrieben, aber zumindest kann man ihn von hier aus schon ganz gut sehen«, antwortete Bennings und schüttelte Woyke die Hand.
Drei weitere Männer in weißen Overalls und mit Alukoffern in den Händen drückten sich nickend an ihnen vorbei und machten sich wortlos an die Arbeit. Draußen sperrte ein Mann den Tatort weiträumig mit Trassierband ab, dann wandte sich jeder seiner festen Aufgabe zu.
»Was ist das denn für ein Teil?«, erkundigte sich Dernau, den die Kriminaltechnik faszinierte. Er deutete auf einen Kasten, der aussah wie ein Messgerät und den einer der Männer mit einem Gurt über der Schulter trug. Oben ragte wie eine Antenne ein Stab heraus, auf den eine Art Taschenlampe gesteckt war. Ein Kabel verband Lampe und Kasten.
»Das ist eine Lumatec Superlite 400«, antwortete der Mann, machte aber keinerlei Anstalten, das Gerät näher zu erklären.
»Aha«, höhnte Dernau. »Damit dir ein Licht aufgeht, oder was?«
»Kann man so sagen«, entgegnete der Mann und ließ Dernau auflaufen, indem er ohne weitere Erklärungen das Gerät einschaltete und mit der Arbeit begann.
»Das ist unsere neue Wunderwaffe«, schaltete sich Woyke nun ein. »Eine Multispektrallampe, mit der wir mittels Fluoreszenzprüfung nach Spuren wie Blut und dergleichen suchen können.«
»Hattet ihr sowas nicht schon immer?«, zeigte sich Dernau enttäuscht.
»Genau, Kollege, und jetzt mach dich dünn, du stehst im Weg«, rüpelte der Spurensicherer mit der Lampe zurück.
Paul Woyke lachte und schob die beiden Kommissare aus der Hütte ins Freie. »Bis vor Kurzem hatten wir einfach nur eine blaue Lampe, mit der wir eine bestimmte Farbtemperatur abdecken konnten. Das Besondere an der Superlite 400 ist, dass sie auf alle Farbtemperaturen umstellbar ist. Außerdem lässt sie sich mit Farbfiltern bestücken, und dann finden wir einfach alles – von Blut angefangen über Fingerabdrücke, Speichel, Hautschuppen, Fußabdrücke auf glatten Flächen, Faserspuren und so weiter. Kommt, Freunde, lasst uns unsere Arbeit machen. Ich melde mich später in der Polizeistation und berichte euch über unsere ersten Funde.«
»In Ordnung, für uns war es das hier ohnehin erst mal«, antwortete Bennings und tippte Hinrichs auf die Schulter, der fasziniert zusah, wie ein Kriminaltechniker den Boden der Hütte mit blauem Licht ausleuchtete und so Blutspuren sichtbar machte, und das auch an den Stellen, an denen die Leiche nicht gelegen hatte. »Wir fahren zur Wache, und Sie führen uns den Mann vor, der die Leiche aufgefunden hat.«
Hinrichs wollte etwas erwidern, aber Dernau fuhr ihn an: »Abmarsch!«
Hinrichs zuckte zusammen und trollte sich zu seinem Dienstfahrzeug. So musste man sich in einer Strafkolonie fühlen. Die nächsten Wochen konnten ja heiter werden! Aber das würde er sich nicht mehr lange gefallen lassen. Der Mann hatte gar kein Recht, ihn so herumzukommandieren. Schließlich war die Schutzpolizei eine vollständig unabhängige Truppe und der Kripo nicht unterstellt. Diesem Dernau würde er noch zeigen, wo der Hammer hängt!
Heinz Baginski war völlig durch den Wind. Kaum hatte er ein paar unruhige Stunden geschlafen, hatte Hinrichs ihn schon wieder aus der Zelle zum Verhör geholt und an zwei Kriminalbeamte übergeben. Konnte man ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Schließlich war er zur Erholung hier auf der Insel und nicht, um von zwei unfreundlichen Polizisten in Zivil wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden. Der Ältere von den beiden, dieser Bennings, ging ja noch. Immerhin brachte er hin und wieder ein freundliches Lächeln zustande und bot ihm sogar Kaffee und Wasser an. Aber der andere, dieser junge Schnösel, dessen Namen er gleich wieder verdrängt hatte, konnte nur Gift und Galle spucken. Wie der allerdings mit dem Leiter der Inselpolizei umging, mit diesem Hinrichs, das war Baginski nach der nächtlichen Tortur eine Genugtuung!
»Also noch mal«, ranzte Dernau ihn an. »Und jetzt reißen Sie sich mal zusammen und berichten in ganzen Sätzen. Sonst sitzen wir morgen früh noch hier.«
»Ich habe doch schon alles gesagt«, verteidigte sich Baginski und leierte seinen ganzen Bericht noch einmal ab.
Oberkommissar Hinrichs brachte zwei Tassen Kaffee in das kleine Besprechungszimmer, das seine Leute den Flensburger Kommissaren als provisorisches Büro eingerichtet hatten, und stellte sie vor den Kriminalbeamten auf den Tisch. Bennings schob seine Baginski hinüber, der ihm dankbar zunickte. Hinrichs wollte neben dem Zeugen stehen bleiben und der Vernehmung folgen, zumal die ohnehin genau so ablief, wie er sie in der letzten Nacht begonnen hatte, aber ein Blick von Dernau sorgte dafür, dass er den Raum fluchtartig wieder verließ.
»Und wer Sie da umgerannt hat, haben Sie nicht erkennen können?«, fuhr Dernau fort.
»Nein, es war dunkel, und der Typ hat mir die Tür vor den Kopf geknallt.«
»Das merkt man«, kommentierte Dernau.
»Aber dass es ein Mann war«, ging Bennings nun mit einem tadelnden Blick auf seinen Kollegen dazwischen, »das haben Sie erkannt?«
»Ich habe ihn weglaufen gesehen. Von der Statur her war es ein Mann; kein alter Mann, so sportlich, wie er war. Höchstens vierzig oder fünfundvierzig, wenn überhaupt, eher jünger. Und als ich gefallen bin, habe ich, glaube ich, einen weiteren Schatten gesehen. Es könnten also zwei gewesen sein. Aber sicher bin ich mir da nicht.«
»Und beide sind direkt auf den Haupteingang zugelaufen?«
»Genau.«
»Also wussten sie, dass die Klappbrücke offen war, und sind vermutlich auch dort hereingekommen und nicht über den geheimen Zugang auf der Rückseite«, stellte Bennings an seinen Kollegen gewandt fest. »Gut, Herr Baginski, wenn Sie sich an nichts Weiteres erinnern, können Sie jetzt gehen. Kommen Sie bitte morgen im Laufe des Tages, um das Protokoll zu unterschreiben. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, wissen Sie ja, wo Sie uns finden. Und bitte verlassen Sie die Insel nicht, ohne vorher mit uns gesprochen zu haben.«
Heinz Baginski ergriff die Gelegenheit, bevor sich dieser unerträgliche Dernau oder der Depp Hinrichs noch eine Gemeinheit einfallen lassen und ihn dabehalten konnten. Er stürmte an den Inselpolizisten vorbei und verließ die Wache.
Hinrichs sprang auf und stürzte wütend in den Vernehmungsraum. »Wieso lassen Sie den Mörder denn laufen? Ich hatte ihn letzte Nacht fast so weit. Noch ein paar Stunden, und wir hätten sein Geständnis.«
»Ach ja?«, fuhr Dernau ihn an. »Und was für ein Motiv sollte der Mann haben?«
»Rickmers hat ihn überrascht. Reicht das nicht?«
»Und darum bringt er ihn einfach um? Sagen Sie mal, Herr Hinrichs, wie kommt es, dass Sie hier die Polizeistation leiten, wo Sie doch offensichtlich auf der Polizeischule durchgefallen sind? Oder hat man Sie aus Mitleid im dritten Anlauf endlich bestehen lassen?«
»Ich glaube nicht, dass er der Täter ist, Herr Hinrichs«, erklärte Bennings mit tadelndem Blick auf Dernau. »Er musste von hinten in die Vogelkoje eindringen, weil der Zugang an der Straße versperrt war. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Opfer zu dem Zeitpunkt noch nicht in der Vogelkoje war. Die Täter müssen ebenfalls später gekommen sein, denn sie wussten im Gegensatz zu Baginski von dem offenen Hauptzugang.«
»Und wenn Baginski sich das alles nur ausgedacht hat?«
»Das glaube ich nicht. So abgebrüht ist der nicht.«
Hinrichs wollte noch etwas erwidern, aber ihm fiel offensichtlich nichts Überzeugendes mehr ein, und so verließ er den Raum wieder.
»Tja.« Bennings setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch ihr Zeuge gesessen hatte. »Das hat uns ja nun nicht gerade weitergebracht. Bevor wir jetzt überlegen, wie es weitergeht, schließ doch bitte mal die Tür. Unser Sherlock Holmes muss nicht alles mitbekommen.«
Dernau sah ihn erstaunt an, folgte aber der Aufforderung und knallte grinsend die Tür zur Wachstube vor den erstaunten Inselpolizisten zu. Dann setzte er sich auf die Kante des Tisches vor seinem Vorgesetzten und wartete.
»Ich verstehe eins nicht«, begann der. »Dieser Hinrichs ist doch seit über fünfundzwanzig Jahren im Dienst. Wieso beißt der sich so in dem Baginski fest, obwohl offensichtlich ist, dass der nichts mit dem Mord zu tun hat? Nicht mal Totschlag im Affekt traue ich dem Wicht zu. Klar, viele Morde gibt es hier auf der Insel nicht, aber … wenigstens das ABC der Tatortsicherung müsste Hinrichs doch aus dem Effeff beherrschen. Warum begeht so ein erfahrener Beamter den Fehler, die Leiche wegschaffen zu lassen? Das heißt, wenn es ein Fehler war.«
»Du meinst, es war Absicht? Ich glaube, der Typ ist einfach nur doof.«
»Nein, mein Lieber, da machst du es dir zu leicht. Der hat zwar sicher nicht die Elektrizität erfunden und auch nicht in der ersten Reihe gestanden und ›Hier!‹ gerufen, als seinerzeit das Gehirn verteilt wurde, aber die Jungs auf den Inseln ersetzen mangelnde Erfahrung durch praktische Intelligenz. Bauernschläue, sozusagen. Wenn so einer gegen alle Dienstvorschriften verstößt, dann nicht, weil er es nicht besser weiß oder weil ihm gerade danach ist. Normalerweise ist dieser Typ Dienststellenleiter ein Rückversicherer. Wenn der so eine Entscheidung fällt, dann hat er dafür triftige Gründe.«
»Und die wären?«, fragte Dernau, der genau wusste, wann er zuzuhören hatte.
»Er vertuscht etwas. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann hat das mit dem Toten selbst zu tun, vielleicht mit seiner sozialen Stellung hier auf der Insel. Aber das kriege ich raus.« Er stand auf, öffnete die Tür und rief jovial: »Herr Kollege Hinrichs, kommen Sie bitte mal, wir brauchen Ihre Hilfe.«
»Klar«, murmelte Hinrichs, allerdings so leise, dass Bennings es nicht mitbekam. »Ohne uns seid ihr hier auf der Insel nicht mal in der Lage, euren eigenen Arsch zu finden.«
Er schlenderte betont lässig in das Verhörzimmer, griff sich unaufgefordert einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. »Womit kann ich dienen?«, fragte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er mit den Kollegen vom Festland am liebsten gar nicht mehr geredet hätte.
Bennings gab Dernau ein Zeichen, woraufhin der sich von der Tischkante erhob und sich ebenfalls etwas abseits auf einen Stuhl setzte.
»Kollege Hinrichs«, begann Bennings freundlich. »Uns ist natürlich klar, dass wir hier auf der Insel ohne Sie keine Chance haben. Sie kennen sich hier aus, wir nicht. Mit Ihnen reden die Leute, uns verraten sie kein Sterbenswort. Deshalb brauchen wir von Ihnen alle Informationen, die Sie uns über den Toten und sein soziales Umfeld geben können.«
Hinrichs genoss die Situation und schwieg. So leicht wollte er es den arroganten Schnöseln nicht machen.
»Also, Kollege, wer ist der Tote?«
»Nahmen Rickmers«, antwortete Hinrichs und überlegte einen Moment, ob er es zunächst dabei belassen sollte, beschloss dann aber, den Bogen nicht zu überspannen. »Er ist … war Leiter des Hegerings Föhr.«
»Hegering, soso«, kommentierte Dernau.
»Was, bitte, ist ein Hegering?«, erkundigte sich Bennings geduldig.
»Das ist eine Abteilung der Kreisjägerschaft Südtondern.«
»Abteilungsleiter also. Das hört sich so an, als sei er schon eine relativ große Nummer auf der Insel gewesen«, hakte Bennings nach. »Er war ja dann quasi der Chefjäger hier, oder?«
»Das kann man wohl so nennen. Im letzten Jahr hat er sich sogar auf einen Posten im Vorstand der Kreisjägerschaft auf dem Festland beworben. Und das hätte er auch geschafft, wenn da nicht dieses Theater wäre.«
»Welches Theater?«
»Na ja, hier auf der Insel gibt es seit ein paar Jahren Streit zwischen den Bauern und so ein paar Öko-Spinnern. Das ist ein Verein, der mit Spendengeldern Land aufkauft und es unter Wasser setzt, damit die Möwen genug Nistplätze haben. Klar, dass das den Bauern stinkt. Da müssen wir ansetzen, oder bei diesem Baginski, wenn Sie mich fragen.«
»Und was hatte Rickmers mit dem Streit zwischen den Umweltschützern und den Bauern zu tun? War er hauptberuflich Landwirt?«
»Nee, aber die Jäger dürfen in der Nähe der Flächen, die von diesem Verein gekauft werden, nicht mehr jagen, weil die Möwen und das ganze andere Viehzeugs von den Schüssen vertrieben wird. Je mehr Land dieser Verein aufkauft, desto weniger Weide- und Jagdflächen gibt es. Ist doch logisch, dass das Ärger gibt.«
»Gut, Herr Hinrichs, schreiben Sie mir den Namen des Vereins und seines Vorsitzenden auf. Noch eine Frage zu Rickmers: War er nur als Jäger eine große Nummer, oder zählte er auch sonst zur High Society hier auf der Insel?«
»Klar, Nahmen war hier nicht irgendwer. Das Geld hatte zwar eigentlich nicht er, sondern die Hilke, seine Frau, aber der drehte damit am großen Rad, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Eigentlich verstehe ich das nicht«, gab Bennings zu.
»Na ja, auf seinen Partys waren nur die reichen Leute, die auch die politische Richtung hier vorgeben. Einmal im Jahr hat er eine Entenjagd ausgerichtet, zu der auch einflussreiche Leute vom Festland kamen – Kiel, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da durfte dann jeder schießen, egal ob er Jäger war oder nicht. Das ist zwar eigentlich nicht ganz legal, aber wir wollen hier keinen Ärger, deshalb haben da alle weggeschaut.«
»Mit ›alle‹ meinen Sie vor allem sich selbst, oder? Und? Haben Sie auch gestern Abend weggeschaut, als Sie die Leiche abtransportiert haben? Wollten Sie den großen Nahmen Rickmers schützen?«
Hinrichs lief rot an, sagte aber nichts.
»Was verheimlichen Sie uns?«, donnerte Dernau jetzt los.
Hinrichs sprang auf, lief nach nebenan und kam mit einer Speicherkarte zurück. »Das ist die Karte aus der Kamera von diesem Baginski. Ich habe ihn angewiesen, Fotos zu machen, und die sind da drauf. Gucken Sie doch selbst, ob ich Ihnen irgendetwas verheimliche!«
»Schon gut, Kollege«, besänftigte Bennings ihn. »Mein Kollege Dernau hatte eine schwere Kindheit. Nehmen Sie ihm sein schlechtes Benehmen nicht übel. Und jetzt schreiben Sie mir bitte alle Namen und Adressen von den Leuten auf, die mit Nahmen Rickmers zu tun hatten. Danke für Ihre Mithilfe.«
Als Hinrichs sich wegdrehte, um das Büro zu verlassen, hakte Dernau nach: »Sagen Sie mal, Hinrichs, so ein Hegeringleiter, kann der von dem Job eigentlich leben?«
»Quatsch!« Hinrichs grinste verächtlich über so viel Dummheit. »Natürlich nicht. Nahmen Rickmers hat eine Fleischereikette geleitet; das heißt, er war der Geschäftsführer in der Firma seiner Frau. Die hat ja keine Ahnung vom Geschäft, hat die Läden von ihrem Vater geerbt. Fleischerei Bendicks, die haben in jedem Dorf hier ihre Läden und auf Amrum auch. Ich glaube, die handeln sogar auf dem Festland mit Fleisch, seit Nahmen den Laden führt.«


