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»Danke, Herr Hinrichs.« Dernau grinste genauso arrogant zurück. »Sehen Sie, Sie sind ja doch zu was nütze, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht merkt.«
Hinrichs verließ wortlos das Zimmer und zog die Tür krachend hinter sich ins Schloss.
»Gut«, begann Bennings, »auch wenn wir noch keine Beweise haben, bin ich sicher, dass er uns etwas verheimlicht. Wir halten ihn bei den Ermittlungen so kurz wie möglich und lassen ihn nur noch die Kontakte herstellen. Keine wichtigen Informationen an die Inselpolizei, die nicht nach außen dringen sollen, bevor wir wissen, wem wir hier trauen können, okay?«
Dernau nickte grinsend. Solche Spielchen machten ihm Spaß. Er würde diesen Hinrichs an der Leine führen und selbst bestimmen, wie lang sie war und wann er das Stachelhalsband anlegte.
Die Tür öffnete sich, und der Leiter der Spurensicherung betrat den Raum. »Mann, Mann, Mann«, stöhnte er und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. »Was für eine Sauerei. Da suche ich lieber im Matsch nach Spuren als in so einer Syph-Bude.«
»Das hört sich gut an, dann hat eure Wunderlampe also etwas gefunden«, entgegnete Dernau. »Leg los, Aladin, was habt ihr?«
»In der Hütte sind überall Blutspuren«, berichtete Paul Woyke. »Das muss aber nicht alles Menschenblut sein, könnte auch von Enten oder anderem Viehzeugs stammen, das wird die Untersuchung im Labor zeigen. Aber der Hammer war das, was überall gelb aufleuchtete, als wir den Blaufilter vorgesetzt haben: Auf dem Bettzeug waren massenhaft Spermaflecken.«
»Dann haben die Enten dort wohl heftig gevögelt, bevor sie abgemurkst wurden«, sagte Dernau und grinste umso breiter, je länger er über seinen Witz nachdachte und letztlich auch den Kojenwärter in seinen geistigen Film mit einbezog.
»Oder der Tote«, überlegte Bennings.
»Auf jeden Fall muss in der Hütte häufiger High Life sein«, fuhr Paul Woyke fort, griff nach Dernaus Kaffeetasse und warf einen Stapel Fotos auf den Tisch. »Das Sperma kann auch nicht von einem Kerl alleine sein. Frisch waren außerdem nur zwei Spuren, die anderen waren älter und verkrustet. Ich sage ja: Syph-Bude. Da fängst du dir schon vom Hingucken aus hundert Metern Entfernung etwas.«
Bennings beugte sich über die Fotos und betrachtete sie der Reihe nach, bevor er sie an Dernau weiterreichte. Die Bilder zeigten das Feldbett im Kojenwärterhäuschen, das im Licht der Spektrallampe regelrecht mit gelben Farbklecksen überzogen war.
»Dazu gibt es unzählige Fingerabdrücke, die wir mit Cyanoacrylat sichtbar gemacht haben«, fuhr Paul Woyke fort, der Dernaus spezielles Interesse an allem, das mit Kriminaltechnik zu tun hatte, gerne ausführlich bediente. »Im Labor werden wir versuchen, sie mit einem neuen Verfahren mit dem Blut und dem Sperma zu vergleichen. Wir können nämlich inzwischen aus dem Fett der Fingerabdrücke Rückstände von Drogen, Medikamenten und so weiter extrahieren. Die Flecken überall dazwischen haben wir mit dem Gelbfilter sichtbar gemacht: Scheidensekret. Von wie vielen Frauen die sind, werden wir noch herausfinden. Die schwarzen Flecken auf dem Boden neben dem Bett sind Blut. Das ist eine Menge Arbeit, kann ich euch sagen. Wenn wir Pech haben und noch mehr finden, sind wir die nächsten zwei Wochen rund um die Uhr beschäftigt. Aber zuerst einmal müssen alle Spuren in der Hütte gesichert werden. Das Laken geht ohnehin komplett ins Labor. Das Beste wisst ihr aber noch gar nicht: Wir haben Hautspuren unter den Fingernägeln des Toten gefunden. Er muss den Täter gekratzt haben. Näheres erfahren wir aus der KTU. Ich hab meine Jungs in der Vogelkoje alleine weitermachen lassen und bin zu diesem Doktor Hecht nach Boldixum gefahren. Der Tote liegt in seinem Behandlungszimmer und blockiert ihm die ganze Praxis. Gleich nachher lasse ich ihn abholen, damit der Doc weiterarbeiten kann.«
»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«, hakte Bennings nach.
»Erschlagen, mit einem stumpfen, runden Gegenstand, vermutlich aus Holz. Ich habe sofort per Handy in der Koje Bescheid gesagt, die Jungs drehen jeden Ast danach um. Die Leiche weist zwei Wunden auf, eine kleinere an der Stirn, eine große mit deutlichen Frakturen seitlich auf dem Schädel. Ich lehne mich, glaube ich, nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass der Schlag auf den Schädel zum Tode geführt hat und vermutlich als zweiter Schlag ausgeführt worden ist. Genaueres kann ich aber erst nach der Obduktion sagen, auch ob das frische Sperma im Laken von ihm stammt. Jetzt brauche ich erst mal etwas Pause, dann fahre ich gleich wieder raus.«
»Gut.« Bennings knetete seine Unterlippe. »Dann lass uns mal ein paar Hypothesen aufstellen. Hypothese eins: Rickmers trifft sich mit seiner Geliebten in der Vogelkoje, es kommt zum Streit, in dessen Folge er unglücklich stürzt oder sie ihn erschlägt. Vielleicht wollte er sich nicht von seiner Frau trennen, oder so – klassisches Schema halt. Hypothese zwei: Die Geliebte ist die Ehefrau eines anderen, der die beiden in flagranti erwischt und Rickmers erschlägt. Hypothese drei: Rickmers und ein weiterer Mann streiten sich um die Frau, der andere gewinnt.«
»Hypothese vier«, ergänzte Dernau, »Rickmers ertappt seine eigene Frau mit einem anderen Kerl, es kommt zu besagtem Streit, der andere oder seine eigene Frau erschlägt Rickmers.«
»Hypothese fünf: Das Motiv liegt im Umfeld des Streits mit diesem Ökoverein«, fuhr Bennings fort, »oder – Hypothese sechs: Es hat etwas mit der Fleischereikette zu tun, also mit dem beruflichen Umfeld Rickmers’.«
»Hypothese sieben: All das ist Quatsch, und es war ganz anders«, unkte Paul Woyke, erhob sich wieder von seinem Stuhl und zwinkerte Dernau zu. »Auf jeden Fall wünsche ich euch fruchtbare Ermittlungen.« Er verließ grinsend den Raum.
»Sollte aber doch etwas an unseren Beziehungs-Hypothesen sein, liegt der Schlüssel bei der betreffenden Frau«, erklärte Dernau. »Lass uns zuerst zu Frau Rickmers fahren. Vielleicht erübrigt sich danach schon alles andere.«
»So machen wir’s«, stimmte Bennings zu.
Er öffnete die Tür zur Wachstube und ging hinaus. Hinrichs hockte hinter seinem Schreibtisch und hatte sichtlich mit seiner Müdigkeit zu kämpfen, denn immerhin hatte er seit gestern Abend durchgehend Dienst geschoben.
»So, Kollege Hinrichs, jetzt geben Sie mir mal die Adresse des Mordopfers«, ordnete Bennings an, »und dann fahren Sie nach Hause und hauen sich auf’s Ohr. Vor morgen früh will ich Sie hier nicht mehr sehen.«
»Die Dienste auf dieser Wache teile immer noch ich ein«, begehrte Hinrichs auf. »Und mein nächster Dienst beginnt heute Abend um achtzehn Uhr. Ich habe in dieser Woche Nachtschicht. Hier ist die Adresse von Nahmen Rickmers. Da Sie mich ja offenbar dazu nicht brauchen, fahre ich jetzt nach Hause und ruhe mich aus, wenn Sie nichts dagegen haben. Falls Sie noch weitere Fragen haben, stehen Ihnen die Kollegen Vedder und Groth sicher gerne zur Verfügung.«
Er schob den Zettel über den Schreibtisch und ließ ihn am anderen Ende liegen, anstatt ihn Bennings in dessen ausgestreckte Hand zu geben.
»Und das ist die Information über den Verein, die Sie brauchen«, sagte er und warf einen zweiten Zettel hinterher. Dann erhob er sich, schnappte sich seine Uniformjacke und rauschte an dem erstaunten Hauptkommissar vorbei und zur Vordertür hinaus.
»Da habe ich aber jemandem auf die Füße getreten«, bemerkte Bennings, woraufhin die beiden übrig gebliebenen Polizisten nur die Schultern hochzogen und wieder fallen ließen, als wollten sie sagen: ›Was geht uns das an?‹ oder: ›Das kommt gelegentlich vor.‹
Bennings griff nach den beiden Zetteln und verließ ebenfalls, gefolgt von dem grinsenden Dernau, die Zentralstation.
5
Das Haus von Nahmen und Hilke Rickmers befand sich in Oldsum am Rande der Marsch, umgeben von einem üppigen Bauerngarten, der um diese Jahreszeit in voller Blütenpracht stand, und einem Friesenwall, der von einer sauber gestutzten Wildrosenhecke gekrönt wurde. Alles sah aus wie für die Zeitschriften Landliebe, Landlust oder Liebes Land gestylt und konnte unmöglich von den Besitzern allein in Schuss gehalten werden. Die Zufahrt hatte etwas Herrschaftliches. Statt über Pflaster oder Asphalt rollte der Wagen der Kriminalbeamten über weißen Kies. Das Haus selbst war groß, aber nicht protzig, und gediegen, aber nicht altmodisch. Es ruhte in seinem roten Backstein unter einem relativ frisch gedeckten, noch recht hellen Reetdach. Die Bewohner schienen ein gutes Gespür für den Balance-Akt zwischen Luxus und Bodenständigkeit zu haben. Alles hier strahlte Ruhe und Ordnung aus und ein angenehmes Gefühl von Sicherheit, was so gar nicht zu dem Anlass des Besuches der Kriminalbeamten passte.
Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie aus dem Auto stiegen und auf die Haustür zusteuerten. Bennings drückte auf den Messingknopf neben der Friesentür und trat wieder einen Schritt zurück. Nur Sekunden später öffnete eine blonde Frau mittleren Alters und sah sie aus verweinten Augen an.
»Guten Tag«, begann Bennings vorsichtig. »Frau Rickmers?«
Die Frau nickte und trat wortlos zur Seite. Offensichtlich hatte sie mit ihrem Besuch gerechnet.
»Mein Name ist Bennings, das ist mein Kollege Dernau. Wir sind von der Mordkommission aus Flensburg.«
»Ich weiß, Torben hat mich eben angerufen und mir gesagt, dass Sie kommen.«
»Torben?«, hakte Dernau nach.
»Ja, Kommissar Hinrichs, Ihr Chef.«
Dernau wollte die Dienstgrade und Vorgesetztenverhältnisse korrigieren, aber Bennings, der seinen Kollegen nur zu gut kannte, gab ihm ein Zeichen, das jetzt zu unterlassen. Die Kriminalbeamten betraten das Haus und folgten Frau Rickmers durch eine marmorgeflieste Diele in ein geräumiges Wohnzimmer mit ebensolchem Bodenbelag. Der Raum war taghell und wies mit seinem bodenständigen Panoramafenster auf die Marsch hinaus. Von hier aus sah man nur ins Grüne, nichts verstellte den Blick.
»Was hat Ihnen unser Chef denn noch erzählt?«, erkundigte sich Bennings beiläufig, als sie auf dem Sofa gegenüber der Witwe Platz nahmen.
»Nichts sonst. Er war ja erst letzte Nacht hier und hat mir vom Tod meines Mannes …« Sie brach ab und mühte sich sichtlich, ihre Tränen in Schach zu halten.
»Wir werden Sie nicht lange stören, Frau Rickmers«, versprach Bennings, »aber wir haben ein paar dringende Fragen. Die ersten vierundzwanzig Stunden nach einer Tat sind nicht selten ausschlaggebend für den Gang und den Erfolg der Ermittlungen. Deshalb können wir Sie auch nicht länger schonen.«
»Ich verstehe das. Haben Sie denn schon eine Spur oder einen Verdacht?«
»Deshalb sind wir hier, Frau Rickmers. Wir brauchen Ihre Hilfe. Zum Beispiel wüssten wir gerne, warum Ihr Mann letzte Nacht in der Vogelkoje war.«
»Genau weiß ich das auch nicht. Er hat gesagt, er habe noch einen wichtigen Termin.«
»Einen Geschäftstermin?«
Hilke Rickmers zuckte mit den Schultern und antwortete zögernd: »Ja, vielleicht. Es kann aber auch sein, dass es mit seinem Posten im Hegering zu tun hatte. Er hatte oft abends Termine, und ehrlich gesagt, hat es mich nicht sehr interessiert, was das für welche waren. Aus geschäftlichen Dingen habe ich mich herausgehalten, und die Jagd interessiert mich nun wirklich nicht.«
»Hat sich Ihr Mann zu solchen Terminen immer an derart merkwürdigen Orten getroffen?«, schaltete sich nun Dernau in das Gespräch ein.
»Wieso merkwürdig?«
»Ja nun, so eine Vogelkoje ist spät abends doch eher ein ungewöhnlicher Ort für einen Geschäftstermin.«
»Wenn es ein Geschäftstermin war. Ich sagte doch, ich weiß nicht, was für einen Termin er hatte. Vielleicht war es ein Jagdtermin, und der könnte ja durchaus in der Koje stattgefunden haben.«
»Warum hat sich Ihr Mann denn überhaupt an so einem merkwürdigen Ort aufgehalten?«
»Nun, wegen der Enten doch, nehme ich an. Mein Mann war oft in der Vogelkoje, schließlich war er Interessent.«
»Er wollte die Vogelkoje kaufen?«, fragte Dernau erstaunt.
»Wieso kaufen?« Hilke Rickmers schüttelte verständnislos den Kopf.
»Nun, Sie sagten, er sei daran interessiert gewesen.«
»Nicht interessiert, Interessent. Das heißt, er war einer der Männer, die Anteile an der Koje haben und dort Enten fangen dürfen.«
Bennings und Dernau verstanden sichtlich kein Wort.
»Also«, erklärte Hilke Rickmers, »das ist so: Die Vogelkojen gehören nicht der Allgemeinheit oder einem einzelnen Besitzer, sondern sie gehören einem Kreis von Männern, die gleiche Anteile an den Fangquoten haben. Dafür teilen sie sich auch die Kosten der Instandhaltung. Diese Männer heißen traditionell Interessenten. Der Anteil ist erblich. Nahmen hat ihn von seinem Vater geerbt, und unser Sohn wird ihn nun von Nahmen erben.«
»Dann hatte Ihr Mann also jederzeit freien Zugang zu der Koje?«, fragte Bennings.
»Natürlich. Jeder Interessent hat seinen eigenen Schlüssel.«
»Also wollte Ihr Mann letzte Nacht Enten fangen, oder was?«, hakte Dernau etwas schnodderig nach.
»Das weiß ich auch nicht. Er war oft spät abends in der Koje. Was er da genau zu tun hatte, weiß ich nicht. Ich sagte Ihnen doch, ich interessiere mich nicht für die Jagd. Und gestern Abend hatte er einen Termin. Wenn der in der Koje stattgefunden hat, weiß vielleicht einer seiner Jagdfreunde etwas darüber.«
»Frau Rickmers«, fragte Bennings, »haben Sie einen Verdacht, wer etwas gegen Ihren Mann gehabt haben könnte?«
Hilke Rickmers wollte antworten, biss sich dann aber auf die Lippe und schüttelte den Kopf.
»Bitte, Frau Rickmers, wir sind auf Ihre Informationen angewiesen. Schließlich kennen wir uns mit den Verhältnissen hier auf der Insel nicht aus. Sagen Sie uns, was Sie denken.«
Hilke Rickmers schwieg mit gesenktem Blick.
»Sie haben doch einen Verdacht!«
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Hilke Rickmers ergriff die Chance und sprang auf. Als sie die Tür öffnete, hörten die Kommissare sie laut aufschluchzen.
Dann vernahmen sie eine beruhigende Männerstimme. »Hilke, es tut mir so leid. Wie konnte das nur passieren?«
Hilke Rickmers schien sich wieder gefasst zu haben, denn sie antwortete nicht auf die Frage, sondern sagte in beherrschtem Ton: »Komm rein, ich habe Besuch von der Polizei.«
Sekunden später kam sie gefolgt von einem Mann mittleren Alters, der trotz seiner eleganten Kleidung etwas grob wirkte, zurück ins Wohnzimmer.
»Das sind die Kommissare Bennings und … entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen.«
»Dernau.«
»Und das ist Brar Arfsten, ein guter Freund meines Mannes«, fuhr sie fort.
Bennings erhob sich und reichte Arfsten die Hand, Dernau nickte ihm mit verschränkten Armen zu.
»Wir sprachen gerade über Ihren Verdacht, Frau Rickmers«, setzte Bennings erneut an.
»Ich habe keinen Verdacht geäußert«, erklärte Hilke Rickmers in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sich mit dem Erscheinen Brar Arfstens etwas grundlegend verändert hatte.
Die Kriminalbeamten blickten sich kurz an, dann wandte sich Bennings an Arfsten. »Und Sie, Herr Arfsten? Können Sie sich vorstellen, welchen Grund jemand gehabt haben könnte, Ihren Freund zu töten?«
Jetzt blickten sich Arfsten und Hilke Rickmers kurz an, dann brach es aus ihm heraus: »Natürlich habe ich das. Das können nur diese Spinner gewesen sein, dieser Wiese und seine Verbrecherbande.«
»Langsam, Herr Arfsten. Wir sind nicht von der Insel und kennen uns deshalb nicht aus. Wer ist Wiese, und von was für einer Bande reden Sie da?«
»Na, diese Elmeere-Spinner. Und Wiese ist der Vorsitzende von dem Verein. Die richten hier noch alles zugrunde mit ihrer sogenannten Renaturierung. Und wir Bauern gucken in die Röhre. Aber das haben die sich so gedacht. Jetzt ist der Bogen überspannt.«
»Sie müssen uns das erklären, Herr Arfsten. Wie gesagt, wir sind nicht von hier.« Bennings war immer noch die Ruhe selbst, während Dernau sichtlich unruhig wurde; aber sein Einsatz war noch nicht gekommen, noch war Bennings an der Reihe.
Brar Arfsten und Hilke Rickmers sahen einander erneut an, als wären sie sich darin einig, dass diese Typen vom Festland allesamt nichts taugten. Hilke Rickmers machte nun einen fast entspannten Eindruck, so als habe sie mit dem Erscheinen Arfstens die Regie für alles Weitere abgegeben.
»Gut«, sagte Arfsten gnädig. »Dann noch mal ganz langsam zum Mitschreiben. Wir Bauern haben auf einer Insel nur eine begrenzte Fläche zur Verfügung, die wir landwirtschaftlich nutzen können. Wenn dann diese Ökospinner kommen und das bisschen Land aufkaufen, unter Wasser setzen und verwildern lassen, damit sich dort Gänse und anderes Flatterzeug fröhlich vermehren können, bleibt für die Landwirtschaft nichts mehr übrig. Das bedroht unsere Existenz und die Versorgungssicherheit der Insel.«
»Aha«, reagierte Bennings, um die Richtung des Gespräches wieder in die Hand zu nehmen. »Und dieser Herr Wiese ist so ein Ökospinner?«
»Genau. Der sammelt Spenden von ahnungslosen Urlaubern, die ganz begeistert sind von so viel Natur und dann auch noch Mitglieder in seinem Verein werden. Und von dem Geld kauft er eine Fläche nach der anderen auf. Demnächst gehört denen die ganze Insel und wir können sehen, wo wir bleiben.«
»Wer verkauft ihm das Land denn, wenn es sich um knappes Bauernland handelt?«
»Sagen Sie mal, Sie verstehen wirklich absolut gar nichts von Ackerbau und Viehzucht, was?«, empörte sich Arfsten, wurde aber gleich wieder zahmer, als sich Dernau einen Schritt auf ihn zu bewegte. »Auf Föhr hat es früher über hundert Landwirte gegeben. Naturgemäß fast alles kleine Höfe. Aber von so einem Kleinbetrieb kann heute niemand mehr existieren, also wandern die Bauern ab aufs Festland oder funktionieren ihre Höfe um zu Ferienhöfen. Für die paar Ponys, mit denen die dann Urlauberbälger durch die Gegend führen, brauchen sie nicht mehr als eine Weide. Dann werden die übrigen Acker- und Weideflächen halt zum Kauf angeboten. Will sich ja niemand mehr die Finger dreckig machen, wenn man statt der Kühe heute die Touristen so viel leichter melken kann. Und dann kommt Elmeere und kauft das Land auf.«
»Warum kaufen Sie die Flächen nicht, ich meine die Landwirte, die weitermachen wollen?«
»Weil wir keine milden Spender haben, die uns das Geld dafür geben. Wir können nicht jeden Preis zahlen. Außerdem muss das Land dann ja auch bestellt werden, und dazu braucht man Leute.«
»Das heißt also, das Land ist für euch Landwirte eh zu viel«, erklärte Dernau mit provokantem Unterton. »Worüber regt ihr euch dann auf?«
»Mann«, fuhr Arfsten ihn an, »weil dieses Land dann für uns für alle Zeiten verloren ist. Wenn es erst einmal von der Entwässerung abgeklemmt ist und unter Wasser steht, werden wir es uns nie mehr leisten können, es wieder trockenzulegen und zu bewirtschaften. Und es sind ja nicht nur die Landwirte, die dadurch geschädigt werden, die Jäger sind auch stinksauer. Fragen Sie Hilke mal – ich meine Frau Rickmers – fragen Sie sie mal, was ihr Mann für ein Theater hatte, wenn er in seinem eigenen Revier jagen wollte.«
Bennings sah Hilke Rickmers herausfordernd an.
»Na ja«, ging die auf seinen Blick ein, »es stimmt schon, was Brar sagt. Die Entenjagd ist traditionelles Kulturgut auf Föhr. Aber in letzter Zeit flüchten sich die Tiere in die sicheren renaturierten Bereiche. Und wenn die Jäger sie über den angrenzenden Wiesen abschießen, gibt es Ärger, weil das angeblich die brütenden Vögel aufscheucht und vertreibt.«
»Sie hätten mal erleben müssen, was ich für ein Theater wegen meiner Kanonen gehabt habe. Die Viecher gehen gerne mal ins Saatgut; klar, ist ja leichtes Futter. Also habe ich Druckkanonen auf meinen Äckern aufgestellt, um die Biester zu verjagen. Angezeigt hat der Wiese mich, der Dreckskerl. Das Ordnungsamt war da. Wenn ich weiterhin die brütenden Vögel auf den angrenzenden Flächen aufscheuche, muss ich hunderttausend Euro Strafe zahlen. Hunderttausend Euro! Das ist doch irre! Dass wir demnächst verhungern, weil wir kein Korn mehr ernten, ist egal, solange die Austernfischer nur ausreichend Nachwuchs kriegen.«
»Tja, das ist ja alles ganz interessant«, erklärte Dernau, »aber was hat das mit dem Mord zu tun? Warum sollte dieser Herr Wiese Ihren Freund Rickmers erschlagen? So wie Sie die Sachlage schildern, war er doch klar im Vorteil und hatte überhaupt kein Motiv.«
»Dem ist alles zuzutrauen!«, antwortete Brar Arfsten zunächst ganz allgemein, fuhr dann aber fort, als er Bennings’ Stirnrunzeln sah: »Weil Nahmen sich das nicht gefallen lassen hat. Der hat mit seinen Leuten trotzdem gejagt und über die Kreisjägerschaft Druck gemacht. Zum Glück jagen die Herren in der Kieler Regierung auch ganz gerne und haben ein offenes Ohr für unsere Probleme. Sie hätten mal erleben müssen, wie Wiese mit Nahmen rumgetobt hat, als aus Kiel das Aus für seinen Naturerlebnishof kam. Der wollte seine Wasserflächen den Touristen zeigen und ihnen mit Kaffee und Kuchen das Geld aus der Tasche ziehen, nur um dann noch mehr Land unter Wasser setzen zu können. Aber dafür hat er keine Genehmigung bekommen. Das hat Nahmen immerhin erreicht. Ist doch klar, dass Wiese sauer auf ihn war.«
»Also, Herr Arfsten, Sie beschuldigen Herrn Wiese des Mordes. Ist das nur eine Vermutung, oder haben Sie dafür auch handfeste Beweise? Wenn nicht, muss ich Sie warnen: Das ist ein verdammt schwerer Vorwurf, den Sie da erheben.«
Bennings zückte demonstrativ seinen Block, um sich nun die entscheidenden Notizen zu machen. Derartige Beschuldigungen kannte er zur Genüge, deshalb hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, etwas auf den Busch zu klopfen, um einschätzen zu können, ob die Wut oder der Verstand die Mutter beziehungsweise der Vater des Gedankens war.
»Langsam, Herr Kommissar«, begehrte Arfsten auf. »Sie waren es, der nach meinem Verdacht gefragt hat. Ich habe Ihnen gesagt, mit wem Nahmen Streit hatte, mehr nicht.«
»Sie haben also keine Beweise?«
»Ich war nicht dabei, wenn Sie das meinen!«
»Nicht?«, hakte Dernau nach und warf einen Seitenblick auf Hilke Rickmers, die erschrocken zusammenzuckte. »Frau Rickmers hat uns erzählt, dass ihr Mann einen Termin hatte. Hatte er den zufällig mit Ihnen, um das weitere Vorgehen gehen diesen Verein abzusprechen? Wo waren Sie denn, als Herr Rickmers erschlagen wurde?«
»Das ist ja wohl der Gipfel. Bin ich jetzt verdächtig?«
»Nur, wenn Sie kein Alibi für die Tatzeit haben«, erklärte Bennings ruhig.
»Ich weiß nichts von Nahmens Terminen. Mit mir hatte er jedenfalls keinen. Wenn wir etwas zu besprechen haben … hatten, trafen wir uns immer hier oder auf meinem Hof. Und gestern Abend war ich bis spät in die Nacht im Oldsumer Krug und habe Skat gespielt. Der Wirt kann das bezeugen, und Hein Frerich und Malte Ottensen auch, meine Skatbrüder.«
»Und Sie, Frau Rickmers? Entschuldigen Sie, wir müssen das fragen.«
»Ich war hier zu Hause, zusammen mit meinem Sohn.«
»Wie war Ihre Ehe, Frau Rickmers?«, wechselte Bennings das Thema.
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, waren Sie glücklich verheiratet?«
»Natürlich! Im nächsten Jahr hätten wir Silberhochzeit, wenn …«
»Gab es im Leben Ihres Mannes andere Frauen?«
»Nein!«
»Sicher?«
»Ja!«
»Und Sie, Frau Rickmers?«, mischte sich Dernau jetzt ein. »Wie ist das bei Ihnen?«
»Jetzt reicht es ja wohl!«, donnerte Brar Arfsten.
»Sagen Sie mal, Herr Arfsten, warum regen Sie sich jetzt so auf?«, erkundigte sich Dernau grinsend.
»Wie meinen Sie das?«
»Wessen Freund waren Sie noch mal? Der von Herrn Rickmers oder doch eher der Freund seiner Frau?«, schob Dernau nach.
»Das ist ja wohl eine Unverschämtheit!«, brüllte Arfsten und lief dunkelrot an. »Das wird Folgen für Sie haben. Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren!«
»Bei Herrn Hinrichs?«, fragte Dernau lachend.
»Wollen Sie nicht die Frage meines Kollegen beantworten?«, wandte sich Bennings in ruhigem Ton an Hilke Rickmers.
»Herr Arfsten ist ein Freund der Familie«, erklärte sie. »Reicht das?«
»Gut, wir werden Ihre Alibis überprüfen. Jetzt würden wir gerne mit Ihrem Sohn sprechen.«
»Maarten ist nicht da.«
»Wann kommt Ihr Sohn nach Hause?«


