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»Keine Ahnung. Eigentlich müsste er längst hier sein, aber der Tod seines Vaters hat ihn sehr getroffen. Ich nehme an, dass er bei Freunden ist, um Trost zu suchen.«
»Eine letzte Frage noch, Frau Rickmers.« Bennings schaute sie durchdringend an. »Ihr Mann hat Ihre Fleischereikette geleitet. Von Herrn Hinrichs wissen wir, dass Sie sich da weniger engagiert haben, und Sie haben das ja eben auch bestätigt. Können Sie sich vorstellen, dass sein Tod etwas mit dem Geschäft zu tun hat?«
»Unsinn«, antwortete Hilke Rickmers entschieden. »Was soll das denn miteinander zu tun haben? Die Läden laufen gut, wir achten darauf, dass wir nur bestes Fleisch einkaufen. Außerdem hat mein Mann ja schon länger kaum noch etwas mit dem Tagesgeschäft zu tun. Wir haben eine Geschäftsführerin, der wir vollständig vertrauen. So konnte sich mein Mann intensiv um seine Position in der Jägerschaft kümmern. Er hatte da noch Ambitionen.«
»Davon haben wir gehört«, lenkte Bennings ein. »Dann sind Ihre Geschäfte ja nun nicht gefährdet, nachdem Ihr Mann sie nicht mehr leiten kann.«
»Nein, Frau Olsen ist sehr selbstständig. Mit ihr haben wir großes Glück. Die Läden laufen sehr gut und werden von Jahr zu Jahr gewinnbringender. Nach dem Abitur soll mein Sohn Betriebswirtschaft studieren und dann bei uns einsteigen. Er wird sich, wie man so schön sagt, in ein gemachtes Nest setzen.«
»Gut, Frau Rickmers. Das war es zunächst einmal. Wir werden uns morgen wieder melden«, sagte Bennings und erhob sich. »Und mit Herrn Wiese werden wir selbstverständlich auch reden.«
Als sie hinausgingen, grinste Dernau Brar Arfsten an, als wollte er sagen: ›So, nun tröste du mal schön die Witwe.‹
Der drehte sich zum Fenster und blickte starr hinaus in die Marsch, ohne den Abschiedsgruß der Polizisten zu erwidern. Auch Hilke Rickmers hatte es sehr eilig, die Haustür hinter ihnen zu schließen.
»Warte mal«, sagte Dernau und huschte um die Hausecke herum, um kurz darauf siegreich grinsend zurückzukommen. »Sag ich ja, sie liegen sich in den Armen.«
»Das muss nichts heißen. Er ist ein Freund ihres Mannes.«
»Klar, und Kinder bringt der Klapperstorch. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass in Rickmers’ beruflichem Umfeld schon wieder eine Frau ins Spiel gekommen ist?«
»Diese Frau Olsen, ja. Sollte mich nicht wundern, wenn beide Ehepartner ihre Abwechslung gesucht haben. Aber wohin führt uns das? Arfsten hat wahrscheinlich ein Alibi.«
»Die Olsen vielleicht nicht«, hoffte Dernau.
Die Kommissare setzten sich in ihr Auto und fuhren zurück zur Wache.
Dort erwartete sie bereits Oberkommissar Hinrichs in schwerer Gemütserregung, die er trotz heftigen Bemühens nicht verbergen konnte. Dernau hatte sichtlich Spaß an der tiefroten Gesichtsfarbe des Inselpolizisten und daran, dass seine Stimme ziemlich gepresst klang, so als müsse er sich beherrschen, um nicht loszubrüllen.
»Was machen Sie denn schon wieder hier?«, fragte Bennings. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen sich ausruhen?«
»Ausruhen, ausruhen! Wie soll ich das denn machen, bei dem Theater hier auf der Insel?! Schließlich bin ich hier verantwortlich. Das Telefon steht nicht still«, erklärte er mühsam und wenig überzeugend. »Zuerst hat der Bürgermeister angerufen und wollte wissen, wer Nahmen Rickmers umgebracht hat. Er war stinksauer, als ich es ihm nicht sagen konnte. Sie sollen sofort zurückrufen, wenn Sie wieder da sind.« Er schob Bennings den Schwenkarm mit dem Telefon über den Schreibtisch und starrte ihn abwartend an.
»Später«, erklärte Bennings leichthin und schwenkte das Telefon wieder zurück.
»Aber, der Bürgermeister …«
»Tangiert mich im Moment extrem peripher«, stellte Bennings klar.
Als Dernau Hinrichs’ ratloses Gesicht bemerkte, übersetzte er beiläufig: »Geht ihm am Arsch vorbei.«
»Interessiert mich im Moment nur sehr am Rande«, korrigierte Bennings. »Sie waren dabei, uns Bericht zu erstatten. Also, fahren Sie fort.«
Hinrichs brauchte einen Moment, um die Unverschämtheit dem Bürgermeister gegenüber zu verarbeiten. »Gut«, begann er dann mühsam wieder und räusperte sich, »eben hat Hilke Rickmers angerufen. Sie war etwas, wie soll ich sagen …«
»Sauer?«, half Dernau grinsend aus.
»Genau«, brauste Hinrichs wieder auf, »weil Sie ihr ein Verhältnis mit Brar Arfsten unterstellt haben.«
»Das haben wir zwar so ausdrücklich nicht, aber ich finde es nett, dass sie es uns auf die Weise bestätigt«, kommentierte Bennings. »Noch etwas?«
»Ja, Arfsten hat kurz danach angerufen und mich gefragt, wann ich endlich etwas gegen diesen Wiese unternehme, wenn der jetzt schon unbescholtene Leute umbringt, nur weil sie nicht seiner Meinung sind.«
»Aha, und hat Ihnen Herr Arfsten auch die nötigen Beweise geliefert?«
»Äh, nein, nicht direkt.«
»Was hat er denn indirekt an Beweisen zur Hand?«
»Äh, nun ja, Drohungen, und … Tja, das weiß doch jeder, dass Wiese den Rickmers gehasst hat.«
»Soso, weiß das jeder? Das ist aber kein Beweis. Beim nächsten Mal weisen Sie Herrn Arfsten bitte darauf hin, dass üble Nachrede strafbar ist. Noch etwas?« Bennings drehte sich zu seinem Büro um, als erwarte er nicht wirklich weitere Neuigkeiten.
»Sagen Sie mal, Herr Kollege, was ist eigentlich los hier auf der Insel?«, erkundigte sich Dernau mit lauerndem Unterton. »Was ist das für ein Kampf zwischen Rickmers, Arfsten und Wiese?«
»Ach, der Wiese zerstört die Existenzgrundlage der Bauern hier – kauft ihr Land auf und setzt es unter Wasser. Und ständig erstattet er irgendwelche Anzeigen, weil angeblich ein Landwirt mit Druckkanonen die Gänse aufscheucht oder ein Jäger über Elmeere-Flächen Vögel abschießt. Gestern musste der beste Zuchtbulle seines Nachbarn auf einer seiner Flächen abgeschossen werden, nur weil er die Vögel aufgescheucht hat. Und letzte Woche soll sogar jemand einen Anschlag auf ihn verübt haben.«
»Was denn für einen Anschlag?«, erkundigte sich Bennings und wandte sich wieder dem Inselpolizisten zu.
»Irgendjemand hat ihn angeblich in der Marsch in den Graben gedrängt. So ein Quatsch! Ich sage Ihnen, der ist einfach selber in den Graben gefahren.«
»Warum sollte er das denn machen?«
»Um seine Gegner anschwärzen zu können. Glauben Sie mir, das ist so einer. Die kommen vom Festland hierher und müssen sich irgendwas beweisen, und das auf unsere Kosten.«
»Herr Wiese ist nicht von der Insel?«, hakte Bennings nach.
»Nein, der kommt vom Festland«, wiederholte Hinrichs. »Hat hier eine Pension geerbt und ein paar Appartements gebaut und ruht sich jetzt auf dem Geld aus. Ein Schmarotzer, der noch nie richtig gearbeitet hat, wenn Sie mich fragen.«
»Gut, da Sie ja offenbar keine Ruhezeit benötigen, fahren Sie jetzt los und holen mir diesen Wiese her. Immerhin ist er unser einziger konkreter Anhaltspunkt bisher.«
»Wer? Ich? Warum ich?«, stotterte Hinrichs.
»Weil Sie der Oberkommissar sind und ich der Hauptkommissar, und weil ich, der Hauptkommissar, Ihnen, dem Oberkommissar, das sage«, erklärte Bennings seelenruhig.
»Sie haben mir gar nichts zu sagen«, begehrte Hinrichs auf. »Ich bin der Kripo nicht unterstellt. Holen Sie sich den Kerl doch selber.«
»Da hat er jetzt auch wieder recht«, stimmte Bennings an Dernau gewandt ironisch zu.
»Der hat doch nur Schiss«, stellte Dernau hämisch grinsend in Bennings’ Richtung fest.
»Herr Hinrichs, es wäre nett, wenn Sie unsere Arbeit unterstützen und uns den Verdächtigen zuführen könnten. Sie können gerne einen Ihrer Kollegen mitnehmen, wenn Sie alleine zu viel Angst vor dem skrupellosen Mörder haben«, meinte der beiläufig.
Hinrichs murmelte etwas Unverständliches, das alles andere als freundlich klang, gab seinen Widerstand jedoch auf, nahm seine Jacke und winkte seinem Kollegen Groth, der ihm geduckt zum Streifenwagen folgte.
»Gib mir mal das Telefonbuch«, forderte Bennings Dernau auf. »Dann werde ich jetzt den Boss der Insel anrufen.« Er angelte sich das Telefonbuch aus Dernaus Hand über den Schreibtisch heran, blätterte auf die Amtsseite und wählte die Nummer des Bürgermeisterbüros. Von der Sekretärin ließ er sich durchstellen und hatte Sekunden später den aufgebrachten Bürgermeister am Ohr.
»Sagen Sie mal, Herr Bennings«, dröhnte der auch sofort los. »Was treiben Sie eigentlich auf meiner ruhigen Insel? Eben hat sich der Bauernvorsitzende bei mir beschwert, dass Sie sich benehmen wie eine Besatzungsarmee.«
»Woher weiß Herr Arfsten – ich nehme doch an, dass er der besagte Vorsitzende ist – woher weiß er denn, wie sich eine Besatzungsarmee benimmt?«, erkundigte sich Bennings in ruhigem Ton.
»Was? Was soll das denn heißen? Wollen Sie mich jetzt auch noch verarschen? Sie konfrontieren unbescholtene Bürger mit Ihren abstrusen Vorwürfen und wollen jetzt auch noch frech werden?«
»Also, Herr Bürgermeister, nur, damit das ganz klar ist und wir uns in Zukunft nicht falsch verstehen: Was Sie abstruse Vorwürfe nennen, nenne ich Verdachtsmomente, und Ihr unbescholtener Bürger steht immerhin auf der Liste meiner Verdächtigen. Und frech wird hier im Moment nur einer, nämlich Sie.« Bennings’ Stimme nahm an Lautstärke zu. »Was fällt Ihnen ein, mich so anzukaspern? Ich bin nicht Ihr Untergebener, mein Dienstvorgesetzter ist der Polizeipräsident in Flensburg, und dann kommt der Innenminister in Kiel. Der Wyker Bürgermeister steht in dieser Hierarchie ja wohl eher ganz unten und kommt in der Kette der Polizeivorgesetzten überhaupt nicht vor, oder täusche ich mich da? Haben Sie sonst noch Fragen? Ich erwarte nämlich einen weiteren Verdächtigen zum Verhör und lasse mich ungern in meiner Arbeit behindern.«
»Das ist unerhört, Sie … Das haben Sie nicht umsonst gemacht, das sage ich Ihnen, ich werde mich über Sie …«
Bennings legte den Hörer auf und hatte sichtlich Mühe, sich wieder zu beruhigen. »Was bilden sich diese Provinzfürsten hier eigentlich ein?«, fragte er gequetscht.
»Ruhig, Brauner, ruuuuhig!«, antwortete Dernau besänftigend. »Brrrrrr!«
In dem Moment wurde es draußen in der Wachstube laut. Sekunden später führte Oberkommissar Hinrichs einen stämmigen Mann mittleren Alters mit grauen Haaren und einem ebensolchen Vollbart in Handschellen in das Büro.
»So«, tönte er. »Da wäre dann der Verdächtige Wiese. Wollte sich der Festnahme widersetzen, da musste ich andere Maßnahmen ergreifen.« Stolz deutete er auf die Handschellen.
»Sind Sie für diese Schweinerei verantwortlich?«, schimpfte Wiese und hob seine gefesselten Hände an.
»Sagen Sie mal, Hinrichs, sind Sie eigentlich irre?«, donnerte Bennings los. »Nehmen Sie dem Mann sofort die Handschellen ab, sonst können Sie was erleben!«
»Aber … aber …«
»Los!«, brüllte Bennings und stützte sich drohend mit beiden Händen auf seinen Schreibtisch.
Hinrichs fummelte die Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Handschellen auf.
»Und jetzt raus! Oder warten Sie. Herr Wiese, möchten Sie einen Kaffee oder etwas anderes? Herr Hinrichs holt Ihnen alles, was Sie möchten. Herr Hinrichs hat nämlich jetzt einiges wiedergutzumachen. Herr Hinrichs kann froh sein, wenn Sie keine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen ihn einlegen. Ich an Ihrer Stelle würde das nämlich machen.«
»Ein Cappuccino wäre mir recht«, antwortete Wiese grinsend. »Aber mit Milch, nicht mit Sahne. Die Figur, Sie verstehen?«
»Cappuccino haben wir nicht«, erklärte Hinrichs trotzig.
»Dann holen Sie einen. Es gibt doch bestimmt ein Café hier in der Nähe«, antwortete Dernau und schob den Oberkommissar aus dem Büro. »Und wehe, der Cappuccino ist kalt, wenn Sie ihn servieren!«
Oberkommissar Hinrichs setzte seine Mütze auf und trottete fluchend davon.
»Bitte entschuldigen Sie das Vorgehen unseres … Kollegen«, sagte Bennings freundlich und wies auf einen Stuhl.
Wiese nahm Platz und grinste. »Der ist so blöd, dass ihn nicht mal mehr die Schweine beißen, aus Angst, sie könnten sich an Schweinepest infizieren. Obwohl BSE sogar noch näherliegend ist. Oder war das jetzt Beamtenbeleidigung?«
»Nur wenn das jemand hört. Hast du etwas gehört?«, erkundigte sich Bennings bei Dernau.
»Hätte ich das, müsste ich es positiv kommentieren«, antwortete der.
»Nun, Herr Wiese«, wechselte Bennings das Thema, »dann kommen wir mal zur Sache …«
Der geschmähte Oberkommissar hatte inzwischen die Zentralstation verlassen, ohne seinen grinsenden Untergebenen in der Wachstube Beachtung zu schenken. Sicher, er hätte sich über die Anordnung dieser Idioten aus Flensburg hinwegsetzen und Groth oder Jensen schicken können, um den Cappuccino zu holen. Aber insgeheim war er froh, für einige Zeit außer Hör- und Sichtweite zu gelangen, um ungestört nachdenken zu können.
So eine beschissene Situation hatte es in seiner bisherigen Laufbahn nur sehr selten gegeben, und bisher war alles immer halb so wild gewesen, weil nie etwas davon abgehangen hatte. Jetzt aber war das anders. Hinrichs wartete seit Monaten auf die ausstehende Beförderung zum Hauptkommissar. Eigentlich hätte er sie schon bekommen müssen, als er Dienststellenleiter geworden war, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund war er nur zum Oberkommissar befördert worden.
Hinrichs hatte zu keiner Zeit Zweifel an seiner Befähigung für diesen Posten gehegt, im Gegenteil, er fühlte sich zu noch Höherem berufen. Aber Ture Jacobsen, sein Bürgermeister, hatte behauptet, trotz seiner privaten Beziehungen ins Innenministerium in Kiel nicht mehr herausholen zu können. Sicher lag das allein an Jacobsens beschränktem Einfluss. Er selbst, Torben Hinrichs, hatte ja gar keine Chance gehabt, sich entsprechend zu profilieren. Was geschah auf so einer verschlafenen Nordseeinsel denn schon groß, dass man in Kiel auf ihn aufmerksam werden konnte? Wie sollte er sich durch erfolgreiche Arbeit selbst empfehlen können, wenn nicht einmal ein gescheiter organisierter Fahrraddiebstahl auf Föhr aufgezogen wurde?
Der Mord an Nahmen Rickmers war seine Chance, oder besser, er hätte seine Chance sein können, zu beweisen, was in ihm steckte. Wie beherzt hatte er doch gleich nach dem Auffinden des Toten in der Vogelkoje gehandelt! In dieser für die meisten Polizisten einfach nur unüberschaubaren Situation hatte er sein Revier im Griff gehabt und zwischen den Vorschriften und der Fürsorgepflicht seinen Insulanern gegenüber geschickt abgewogen. Jeder andere Depp hätte die Leiche einfach so liegen gelassen, wie er sie vorgefunden hatte. Da hätten die Festlandskollegen doch gleich falsche Schlüsse gezogen oder, falls sie richtige gezogen hätten, ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung des Toten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Diese Formulierung, die Hinrichs da gerade durch den Kopf gegangen war, gefiel ihm, weil sie seine ganze Verachtung für die unsensible Art der beiden Flensburger Kripo-Leute enthielt. Während er an den Schwimmstegen des Yachthafens vorbeischlenderte, glitt ein Grinsen über Hinrichs’ Gesicht, und für einen Moment war er fast schon wieder versöhnt mit seinem Schicksal.
Doch als er darüber nachdachte, dass Bennings und Dernau ihm geradezu die Chance auf eine Beförderung kaputtmachten, stieg die kalte Wut wieder in ihm hoch. Was bildeten sich diese Idioten eigentlich ein? Niemals würden sie hinter die Geheimnisse der Insel kommen, kein Mensch würde mit ihnen so reden wie mit einem einheimischen Polizisten, den die Insulaner als einen der ihren wahrnahmen, als denjenigen, der Recht und Ordnung in ihrem Sinne aufrechterhielt und dabei auch einmal fünf gerade sein ließ. Er, Torben Hinrichs, wog genau ab, bevor er das Gesetz gegen einen seiner Fehringer anwandte. Da konnte es auch schon einmal bei einer Verwarnung bleiben, wenn eigentlich nach den Buchstaben des Gesetzes eine Anzeige fällig war. Da drüben zum Beispiel, der Krabbenkutter, der jetzt am Yachthafen vorbeituckerte und dabei weit in die Schutzzone 1 vordrang, obwohl die niemand betreten durfte: Sollte er sich dessen Kennung nun aufschreiben und gleich ein Bußgeldverfahren eröffnen? Nein, natürlich galt es hier abzuwägen. Der Kutter verfuhr schon die Hälfte des Erlöses vom heutigen Fang an Diesel. Wenn der Fischer jetzt auch noch Strafe zahlen musste, konnte er niemals auf einen grünen Zweig kommen. Zudem waren die offiziellen Fanggründe ohnehin schon so überfischt, dass man eben nur in den geschützten Bereichen überhaupt noch etwas fangen konnte. So etwas musste man wissen, dann konnte man auch entsprechend rücksichtsvoll handeln. Jeder Festlandsdepp hätte das doch gar nicht begriffen.
Aber noch war nichts verloren: Er würde weiter den unterbelichteten Inselbullen geben, sich dabei ein wenig herumschubsen lassen und im Hintergrund dafür sorgen, dass die Dinge nicht aus den Fugen gerieten. Sollten die Flensburger ihn ruhig für blöd halten. Im Grunde war das sogar ganz nützlich und verschaffte ihm einen nicht unerheblichen Spielraum. Und später, wenn alles vorbei war, würde er Hilke Rickmers und Ture Jacobsen die Rechnung für seine Diskretion und überlegte Handlungsweise präsentieren. Dann war ihm der Hauptkommissar sicher – wenn nicht sogar mehr.
Hinrichs näherte sich nun dem Café Klein Helgoland, das wie immer bei diesem Wetter draußen keinen freien Platz mehr bot. Also schob er sich durch die Urlauber zwischen den Tischen hindurch in den Gastraum und rief Jupp hinter der Theke seine Bestellung zu. Der nickte nur, ohne aufzusehen, drehte sich um und gab sie zur Durchreiche in die Küche weiter. Zwei Minuten später verließ Hinrichs mit zwei Bechern Cappuccino das Lokal, wühlte sich wieder durch bis zum Radweg unterhalb des Deiches und setzte sich auf eine der Stufen, die zum nächsten Schwimmsteg hinunterführten.
Jetzt erst mal ausruhen, dachte er, nur nicht übereilt zurück rennen. Der Wiese konnte auf seinen Cappuccino ruhig etwas warten. Bei dem Gedanken wurde Torben Hinrichs jedoch etwas mulmig zumute, weil er ahnte, was passieren würde, wenn Wiese sich über den kalten Kaffee beschwerte. Und dem Wiese war das zuzutrauen. Wenn der jemandem eins auswischen konnte, dann tat er es. Und ihn, Hinrichs, hatte der ohnehin auf dem Kieker, weil der Oberkommissar nicht jedes Kinkerlitzchen weiterverfolgte, das der anzeigte. So weit kam das noch, dass die wahren Steuerzahler hier, die Jäger und die Landwirte, ein Bußgeld nach dem anderen zahlen mussten, nur weil dieser Idiot Wiese ihnen ständig auflauerte und jedes kleine Vergehen gleich zur Anzeige brachte. Es wurde höchste Zeit, dass dem endlich einer das Handwerk legte!
Hinrichs nahm einen großen Schluck aus seinem Cappuccino-Becher und stellte fest, dass die braune Pampe wirklich schon nicht mehr so ganz heiß war. Einen Moment lang kämpfte er noch gegen seinen inneren Schweinehund, verlor aber haushoch und machte sich so wieder auf den Rückweg in die Höhle des Löwen.
Dieser Wiese war ohnehin hochgradig verdächtig, dachte Hinrichs nun. Bestimmt erzählte der den beiden Kommissaren gerade das Blaue vom Himmel herunter. Es war ein nicht wiedergutzumachender Fehler, ihn, Torben Hinrichs, nicht zu der Vernehmung hinzuzuziehen. Niemand kannte den rasenden Naturschützer so gut wie er. Niemand wusste, wozu der Mann fähig war, wenn es um das Leben seiner scheiß Viecher ging. Er hätte fast den vollen Cappuccino-Becher in seiner rechten Hand zerknüllt statt den leeren in der linken. Zum Glück merkte er es noch rechtzeitig und schleuderte den zerknüllten leeren Becher in den nächsten Papierkorb.
Hinrichs dachte sich wieder in Rage. Wenn er die Leitung der Ermittlungen behalten hätte – in diesem Moment vergaß er, dass er niemals die Leitung gehabt hatte –, dann wäre der Fall schon abgeschlossen. Wiese oder Baginski, einer von beiden war der Mörder, da bestand für ihn überhaupt kein Zweifel. Die musste man nur richtig anfassen, dann hätte man mit Sicherheit im Handumdrehen ein Geständnis. Vielleicht sogar zwei, dachte er plötzlich. Natürlich, dieser Baginski war ein fanatischer Naturfotograf. Und Wiese war ein fanatischer Naturschützer. Was, wenn Wiese den Baginski angeheuert hatte, um Rickmers zu töten? Genau! Und der hatte dann Muffe gekriegt, als er die Leiche vor sich liegen hatte. Und um nicht unter Verdacht zu geraten, hatte er die Polizei gerufen. Vielleicht hatten Wiese und Baginski den Mord sogar gemeinschaftlich verübt.
Hinrichs war aufgewühlt, als er nun mit dem Cappuccino in der Hand die Zentralstation betrat. Er stellte den Becher vor Olufs auf den Tisch und deutete mit dem Kopf in Richtung Vernehmungszimmer. So weit kam das noch, dass er für Wiese den Kellner spielte!
»Schieb das Ding aber vorher kurz in die Mikrowelle«, riet er seinem Untergebenen.
Kaum hatte Hinrichs schmollend den Raum verlassen, um den bestellten Cappuccino zu holen, hatte Dieter Bennings die Befragung in versöhnlichem Ton begonnen: »Herr Wiese, nur damit Sie das hier nicht missverstehen, Sie sind selbstverständlich nicht festgenommen, und das ist auch kein Verhör. Es handelt sich lediglich um eine Befragung, zu der wir Sie hergebeten haben. Wir haben Hinweise bekommen, dass Sie und Herr Rickmers, von dessen Tod Sie ja sicher schon gehört haben, vor dessen Ableben Streit hatten.«
»Streit? Das trifft die Sache nicht annähernd. Rickmers hat Krieg gegen meinen Verein Elmeere und auch gegen mich persönlich geführt. Und dabei war ihm jedes Mittel recht. Wenn Ihre Frage aber dahin geht, ob ich etwas mit seinem Tod zu tun habe, dann muss ich das verneinen. Ich bin Naturschützer, wissen Sie, und als solcher ist man Pazifist, jedenfalls gemessen an den militanten Methoden der Umweltzerstörer, wie Rickmers und Arfsten.«
»Machen wir es kurz, Herr Wiese. Wo waren Sie gestern Abend zwischen zweiundzwanzig und ein Uhr nachts?«
»Nun, ich fahre jeden Abend unsere Flächen ab, um die Schäden zu beseitigen, die nette Inselbewohner im Vorbeifahren an den Zäunen und Infotafeln anrichten. Gestern Abend hatte ich den zerstörten Ansitz an unserer Fläche 8 einigermaßen wieder instandzusetzen. Es hat einige Zeit gedauert. Gegen zweiundzwanzig Uhr oder etwas später war ich wieder in der Pension. Dort habe ich meinen Gästen Fotos und Videos über die Umweltzerstörung auf unserer Insel gezeigt. Die Filme habe ich übrigens auch bei Youtube einstellen lassen. Da können Sie sich die Sauerei mal ansehen. So ein Videoabend in der Pension löst immer ausufernde Gespräche aus. Etwa gegen halb eins sind meine Gäste auf ihre Zimmer gegangen. Ich habe noch aufgeräumt und bin dann auch ins Bett. Meine Frau wird Ihnen das bestätigen.«
Die Tür öffnete sich, und Polizeihauptmeister Olufs stellte einen Becher Cappuccino vor Wiese auf den Tisch. Hinrichs ließ sich nicht mehr blicken.
»Herr Olufs, Herr Wiese wird Ihnen gleich einige Namen nennen. Es handelt sich um Pensionsgäste, die sein Alibi für die Zeit ab zweiundzwanzig Uhr gestern Abend bestätigen können. Wenn wir hier fertig sind, bringen Sie Herrn Wiese bitte nach Hause, und lassen Sie sich das Alibi von den Herrschaften bestätigen. Danach fertigen Sie ein Protokoll an und legen es mir vor.«
Olufs nickte und verließ das Zimmer.
»Herr Wiese, wenn ich das alles richtig verstanden habe, waren Sie gestern Abend alleine mit Ihrem Auto unterwegs.«
Wiese nickte und nahm einen Schluck von seinem Cappuccino.
»Hat Sie irgendjemand auf Ihrer Tour gesehen, der bezeugen kann, dass Sie nicht in der Nähe der Boldixumer Vogelkoje gewesen sind?«
»Sie können sicher sein, dass ich gesehen wurde. Ich stehe nämlich unter ständiger Beobachtung hier auf der Insel. Selber habe ich niemanden bemerkt. Aber entlastende Aussagen werden Sie von keinem Bauern hier bekommen. Die wären froh, wenn sie mir endlich etwas anhängen könnten.«
»Kannten Sie Herrn Rickmers näher?«
»Wie man sich so kennt, wenn man jahrelang Zoff miteinander hat. Den Arfsten kenne ich besser; hat schon in der Schule immer von mir abgeschrieben und ist heute noch genauso doof wie damals.«
»Moment, ich dachte, Sie kommen vom Festland. Uns liegen Informationen vor, dass Sie zugezogen sind.«
»So ist es, allerdings war ich acht Jahre alt, als ich mit meinen Eltern auf die Insel gekommen bin. Das ist jetzt über vierzig Jahre her, aber zugezogen bleibt man für mehr als eine Generation. Die Friesen sind da sehr eigen.«
Bennings schaute Dernau an und schüttelte den Kopf. »Mir scheint, es gibt vorsintflutliche regionale Eigenarten, die ich gar nicht verstehen will. Gibt es etwas, das uns weiterhelfen könnte? Ich meine, haben Sie eine Ahnung, wer Herrn Rickmers getötet haben könnte?«