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»Sie meinen, außer mir? Keine Ahnung. In den Kreisen kenne ich mich nicht aus. Vielleicht war da noch eine Rechnung zu begleichen, ein Streit zwischen seinem Urgroßvater und dem eines anderen Inseldöskopps, wer weiß. Mir gefällt das jedenfalls gar nicht, dass Rickmers tot ist. Der Kerl war berechenbar. Wer weiß, was für ein Heini jetzt die Leitung der Jägerschaft übernimmt. Dieser Paulsen steht bestimmt schon in den Startlöchern, und mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Ich vermute, dass er hinter den Anschlägen auf unsere Flächen steckt. Letzte Woche hat mich jemand mit seinem Wagen vom Weg abgedrängt. Ich kann es nicht beweisen, aber ich vermute, dass er es war. Ich bin im Graben gelandet und hatte hinterher Mühe, das Auto mit dem Trecker wieder freizubekommen. Jedenfalls ist Paulsen wesentlich radikaler als Rickmers und war mit dessen eher liberaler Art überhaupt nicht einverstanden.«
»Haben Sie Herrn Paulsen angezeigt?«
Wiese nickte resigniert. »Klar, allerdings musste das als Anzeige gegen Unbekannt laufen. Und mal ehrlich: Was bringt das schon? Ich hatte keine Zeugen, und bevor denen hier jemand an die Karre fährt …«
»Gut, Sie können dann jetzt gehen. Herr Olufs fährt Sie nach Hause. Stellen Sie ihm bitte kurz Ihre Pensionsgäste vor, die Ihr Alibi bestätigen können, dann ist die Sache vorerst für Sie erledigt.«
Bennings erhob sich und gab Wiese die Hand. Dernau, der dem Gespräch schweigend gefolgt war, nickte ihm nur kurz zu.
»Was hältst du von dem Mann?«, fragte Bennings, als Wiese den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Dernau zuckte mit den Schultern. »Solche Gutmenschen sind mir suspekt. Wir sollten ihn nicht aus den Augen verlieren. Wer weiß, wie weit er geht, um seine Enten zu schützen.«
»Möwen«, verbesserte Bennings ihn grinsend. »Möwen und Gänse, und dann noch Alpenstrandläufer und wer weiß wie viele andere Telegrafenmasthocker.«
»Und nun? Feierabend?«
Bennings schaute auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Zu früh. Die ersten Ergebnisse der KTU können wir nicht vor morgen Nachmittag erwarten, eher übermorgen. Zuerst muss unser toter Jägermeister mal in Flensburg sein. Frau Rickmers, Arfsten und Wiese haben wir verhört, bleiben noch diese Frau Olsen und der junge Rickmers. Ruf doch gleich mal an, ob er inzwischen zu Hause ist. Ich nehme mir in der Zwischenzeit diese Speicherkarte vor. Ist bestimmt interessant, wie es in der Hütte ausgesehen hat, als der Tote noch dringelegen hat. Mann, Mann, Mann, lässt der einfach die Leiche abtransportieren …! Dieser Hinrichs ist wirklich die letzte Nulpe.«
Dernau ging aus dem Zimmer, um vorne in der Wache zu telefonieren. Bennings nahm die Speicherkarte vom Schreibtisch, zog seinen Laptop aus der Aktentasche und stellte ihn vor sich auf den Tisch. Er klappte ihn auf, ließ ihn hochfahren und suchte derweil nach dem Kartenschlitz. Die Speicherkarte passte aber nicht hinein. Der Laptop hatte einen SD-Karten-Schacht, Baginskis Fotokarte aber war eine der größeren CF-Karten.
»Scheiße«, fluchte er leise. »Kann das denn nicht einmal ganz einfach gehen?«
Er erhob sich von seinem Stuhl und ging ebenfalls nach vorne in die Wachstube. Dernau legte gerade den Hörer wieder auf die Gabel und schüttelte leicht den Kopf.
»Was ist?«, fragte Bennings. »Ist er da?«
»Da ist er schon, aber offenbar nicht ganz bei sich. Hat mich gefragt, ob das nicht Zeit bis morgen habe, er wolle sich gleich mit seiner Freundin treffen.«
»Da müssen Sie sich nichts bei denken«, mischte sich Obermeister Jörn Vedder ein. Er saß mit hinter dem Kopf verschränkten Händen an seinem Schreibtisch und vermittelte den Eindruck eines gemütlichen Beamten, den nichts aus der Ruhe bringen konnte, jedenfalls nicht vor dem Feierabend.
»Ach, muss ich das nicht? Finden Sie es normal, dass der Sohn eines Mordopfers Wichtigeres zu tun hat, als mit der Polizei zu reden?«, fuhr Dernau auf.
»Normal …!«, entgegnete Vedder in demselben gemütlichen Ton wie vorher. »Was ist schon normal? Maarten Rickmers jedenfalls nicht, das ist ein arroganter, verwöhnter Rotzbengel. Hat von seinem alten Herrn immer alles hinten reingeschoben bekommen. Sie müssten mal das Auto sehen, das der schon mit achtzehn Jahren fährt: Mercedes Geländewagen. So was kann ich mir bis zur Pensionierung nicht leisten, und danach wahrscheinlich erst recht nicht. Aber mal abgesehen davon: Hätten Sie Lust, mit der Polizei zu reden, wenn Sie sich stattdessen mit Ihrer Freundin treffen könnten?«
»Da hat er recht«, stimmte Bennings zu. »Andererseits können wir auf solche Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. Und? Was hast du dem Bengel geantwortet?«
»Dass wir ja eigentlich vorgehabt hätten, ihn zu Hause aufzusuchen. Aber nun hätte ich dazu plötzlich auch überhaupt keine Zeit mehr, und er solle seinen Hintern in Bewegung setzen und sofort hier erscheinen, sonst würde ich unseren Chef zu ihm schicken, und der könnte ganz schön ungemütlich werden.«
»Ihren Chef?«, erkundigte sich Vedder. »Ist der denn auch hier auf Föhr?«
»Ist er«, klärte Dernau ihn auf. »Herr Hinrichs. Jedenfalls hält Frau Rickmers ihn für unseren Chef.«
Vedder lachte laut auf und konnte sich auch nicht wieder einkriegen, als Bennings ihn nach einem Kartenlesegerät fragte. Er winkte nur ab, griff in eine Schublade und zog ein kleines Kästchen heraus, das er Bennings zuwarf.
»Wo ist Hinrichs eigentlich?«, erkundigte sich der.
»Hat sich in den Feierabend verabschiedet, nachdem Sie ihn Cappuccino holen geschickt haben. Das ging ihm dann wohl doch zu weit«, antwortete Vedder grinsend. »Außerdem hat er ab achtzehn Uhr ja wieder Dienst. Da sollte er sich wirklich vorher etwas ausruhen. Sonst ist der nämlich unerträglich.«
Bennings und Dernau lachten und wandten sich wieder dem Nebenraum zu.
»Hinrichs und Chef der Mordkommission«, hörten die beiden Kriminalbeamten den Polizeibeamten noch sagen, als sie schon wieder in ihrem Büro waren, »das ist wirklich klasse! Der findet im Dunkeln nicht mal seinen eigenen Arsch, wenn ich ihm nicht die Kerze halte.«
Dernau grinste breit und schloss die Tür hinter sich. »Unser Freund Vedder kennt seinen Chef aber gut.«
»Kein Wunder, arbeite du mal jahrelang mit so einer Flitzpiepe zusammen«, kommentierte Bennings und fügte vorsichtshalber hinzu: »Kein falsches Wort jetzt! Hüte deine Zunge!«, bevor Dernau zu einem Kalauer gegen ihn ansetzen konnte.
Bennings schloss das Kartenlesegerät an seinen Laptop, wartete kurz die Installationsroutine ab und steckte die CF-Karte in den passenden Schlitz. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Auswahlmenü. Einige Klicks weiter war Bennings in dem Ordner mit den Fotos, die Baginski am Vorabend geschossen hatte.
»Oha«, kommentierte Dernau. »Und der Mann will Naturfotograf sein? Alles verwackelt, von den Viechern erkennt man ja rein gar nichts. Und total unterbelichtet, das ist dunkel wie im A…«
»Ist ja gut«, ging Bennings dazwischen, »jetzt krieg dich mal wieder ein.«
Er klickte das erste Foto an, das Baginski im Kojenwärterhäuschen geschossen hatte. Zum Glück war so eine Hütte kein bewegliches Ziel. Entsprechend scharf waren wenigstens diese Fotos geworden. Auf dem Bildschirm erschien ein kleiner Raum mit weiß getünchten Wänden. Links an der Wand stand unter einem Fenster ein kleiner Schreibtisch, dahinter ein Regal mit Aktenordnern. Rechts füllte ein Bett fast die ganze Wand aus. Das Bettzeug war durchgewühlt, am Rand ließen sich rote Spritzer und verwischte Streifen erkennen, wahrscheinlich Blut. Vor dem Bett lag auf dem Holzboden der Tote in merkwürdig gerader Haltung auf dem Rücken, als sei er aufgebahrt worden. Nur die Hände hatte man ihm nicht wie zum Gebet auf der Brust verschränkt. Sonst war nichts Auffälliges zu entdecken.
»Sieht nicht gerade spektakulär aus«, fand Dernau. »Wahrscheinlich hat er mit dem Schlag nicht gerechnet, jedenfalls sehe ich keine Kampfspuren. Er hat einen mitgekriegt, ist lang hingeschlagen und genau so liegen geblieben.«
»Dann hätte der Schlag von vorne kommen müssen. Es sieht aber so aus, als sei er von hinten niedergeschlagen worden. Dann ist er am Bett entlang nach unten gerutscht. Also müsste er auf dem Bauch oder auf der Seite liegen oder vor dem Bett sitzen, oder? Auf keinen Fall kann er so da liegen wie auf diesem Foto, parallel zum Bett und so entspannt und geradezu bequem gelagert.«
Dernau nickte. »Vielleicht hat der Täter ihn durchsucht, oder er konnte einfach nicht ertragen, dass Rickmers so verdreht auf dem Boden lag.«
»Ersteres deutet auf Raubmord hin«, überlegte Bennings. »Letzteres weist eher auf eine Beziehungstat hin und auf Totschlag im Affekt, jedenfalls nicht auf kaltblütigen Mord.«
»Es sei denn, der Täter ist ein Anfänger und hat die Sache zwar genau geplant, dabei aber nicht bedacht, dass so eine Leiche einem schon auf den Magen schlagen kann, wenn sie dann wirklich vor einem liegt.«
Bennings nickte und klickte sich durch die nächsten Bilder, bis es draußen im Wachraum laut wurde.
Vedder öffnete die Tür mit den Worten »Sie haben Besuch!« und schob einen jungen Mann im Alter von vielleicht achtzehn oder höchstens neunzehn Jahren herein. Bennings fand den Burschen auf Anhieb unsympathisch. Er trug ein sportliches Outfit aus teuren Markensachen. Damit hob er sich sicher deutlich und bewusst von seinen Altersgenossen hier auf der Insel ab. Seine feinen Gesichtszüge machten ihn garantiert zu einem Mädchenschwarm erster Güte. Dabei umspielte ein arroganter Zug seine schmalen Lippen, momentan gepaart mit Wut über die Unverschämtheit, dass man es wagte, ihn derart herumzukommandieren.
Vedder schloss die Tür wieder lautstark hinter dem Jüngling, der mit hochrotem Kopf vor den Kommissaren stand und gerade wieder lostoben wollte, als Bennings sich erhob und freundlich, aber bestimmt auf ihn zu trat. »Sie müssen Maarten Rickmers sein. Mein herzliches Beileid zum Verlust Ihres Vaters. Bitte, nehmen Sie doch Platz, wir haben einige Fragen an Sie. Wird bestimmt nicht lange dauern. Ich kann mir vorstellen, dass Sie an so einem Tag lieber Ihrer Mutter beistehen würden, aber es geht leider nicht anders.«
Das stoppte den Zorn des Knaben, und er schien sich schlagartig bewusst zu werden, dass er als trauernder Sohn nach dem Auftritt eben nicht mehr durchgehen würde. Jedenfalls entfärbte sich sein Gesicht wieder leicht und nahm einen etwas verlegenen Ausdruck an. Dabei hob er die Hände mit einander zugewandten Handflächen leicht an und ließ sie wieder sinken, was wohl beschwichtigend wirken und ihn harmlos erscheinen lassen sollte. »Schon gut, Sie machen ja auch nur Ihre Arbeit.«
»So ist es. Also, Herr Rickmers, wir fragen uns, was Ihr Vater gestern Abend so spät in der Vogelkoje gemacht hat. Haben Sie vielleicht eine Erklärung?«
»Ja klar, abends werden immer die Enten vom Teich ins Gehege geholt.«
»Und dafür ist Ihr Vater zuständig?« Bennings Ton verriet, dass er das wenig glaubwürdig fand. »Ich denke, dafür gibt es einen Kojenwärter?«
»Ja, schon, aber mein Vater war oft in der Vogelkoje. Er hat das gern gemacht, hat seine Aufgabe als Jäger immer sehr ernst genommen, und dazu gehört ja auch die Hege des Wildes.«
»Ihre Mutter hat uns erzählt, dass Ihr Vater gestern Abend einen wichtigen Termin gehabt habe. Wissen Sie etwas davon?«
Maarten Rickmers schüttelte den Kopf, überlegte aber dabei und antwortete schließlich: »Mein Vater hatte oft Termine, manchmal auch spät abends, geschäftliche und solche, die mit seiner Position in der Jägerschaft zu tun hatten. Ich habe da keinen Überblick.«
»Waren Sie auch gestern Abend in der Vogelkoje?«, erkundigte sich Dernau unvermittelt aus seiner Ecke.
Maarten Rickmers blickte ihn erstaunt an, als habe er ihn zuvor noch gar nicht wahrgenommen. »Nein, warum sollte ich?«
»Wo waren Sie denn dann?«, übernahm Bennings wieder die Befragung.
»Bei meiner Freundin. Das heißt, wir sind ein bisschen rumgefahren.«
»Es gibt also keine Zeugen? Außer Ihrer Freundin, versteht sich. Niemand, dem Sie begegnet sind?«
Maarten Rickmers schüttelte den Kopf, dabei umspielte ein anzügliches Lächeln seine Lippen. »Nicht dass ich wüsste. Wir sind abends gerne allein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und bei uns zu Hause geht das nicht; bei ihr auch nicht, ich habe nicht das beste Verhältnis zu ihren Eltern. Die kommen aus dem Osten und können sich noch nicht so recht an das freiere Leben hier gewöhnen.« Das Letzte begleitete er mit abschätzig verzogenem Mund und demselben Ausdruck von Hochnäsigkeit, den er bei seinem Erscheinen vorhin gehabt hatte.
»Wo Sie genau waren, können Sie uns nicht sagen?«, kam es nun wieder von Dernau, dessen Tonfall weniger verständnisvoll war.
»Anfangs sind wir nur so rumgefahren, später waren wir dann für längere Zeit auf dem kleinen Parkplatz am Siel draußen in der Marsch. Abends ist da keiner mehr, da ist man ungestört. Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht nach der Uhrzeit, das kann ich beim besten Willen nicht sagen.« Wieder dieses anzügliche Grinsen.
»Haben Sie eine Ahnung, wer Ihrem Vater das angetan haben könnte?«, wechselte Bennings das Thema.
»Na!«, wurde der junge Mann nun wieder grimmiger. »Da gibt es ja wohl kaum einen Zweifel. Dieser Spinner Wiese oder einer der Idioten, die er immer im Schlepp hat.«
»Wen meinen Sie genau?«
»Zum Beispiel diesen Quacksalber aus Utersum, diesen Dr. Albertsen, Melf Albertsen, um genau zu sein. Der ist der zweite Mann hinter Wiese, auch so’n Ökospinner. Der glaubt, die Welt geht unter, wenn seine Gänse sich nicht ungestört vermehren können.«
Bennings gab Dernau ein Zeichen, so dass der sich den Namen notierte. »Haben Sie Belege für Ihren Verdacht, oder ist das nur so ein Gefühl?«
»Wer soll das denn sonst getan haben? Mein Vater war ein angesehener Mann hier auf der Insel. Der hatte keine Feinde außer diesen Idioten.«
»Was ist zum Beispiel mit Herrn Arfsten?«, versuchte Bennings einen Vorstoß.
»Ach, Quatsch, Brar hat sich zwar öfter mal mit meinem Vater gezofft, aber die beiden waren Freunde!«
»Worum ging es bei dem Streit?«, hakte Bennings nach.
»Kein Streit, eine Meinungsverschiedenheit.«
»Worum ging es denn da genau?«, beharrte Bennings.
»Arfsten wollte mit den Elmeere-Spinnern kurzen Prozess machen«, erklärte Maarten Rickmers und begleitete seinen aggressiven Gesichtsausdruck durch heftige Bewegungen mit der geballten rechten Faust. »Die sollten gezwungen werden, ihren Ökokram aufzugeben. Mein Vater hat eher einen Kompromiss gesucht. Zum Beispiel hat er selbst im Namen der Kreisjägerschaft Flächen in der Marsch renaturiert, um den Tieren einen Rückzugsraum zu bieten. Er hat gesagt, wenn wir das machen, brauchen wir kein Elmeere. Dann kriegen die auch keine Spenden mehr, weil sie überflüssig sind.«
»Und damit war Arfsten nicht einverstanden? Das hört sich doch ganz vernünftig an.«
»Nein, das war Arfsten zu liberal, er hat meinem Vater vorgeworfen, nur seine Karriere in der Kreisjägerschaft im Auge zu haben. Arfsten war sauer, dass jetzt auch noch die Jäger Flächen renaturieren, Teiche anlegen und so. Als wenn die verlorenen Flächen von Elmeere nicht schon reichten, hat er gesagt.«
»Wie hat er sich denn vorgestellt, mit Elmeere kurzen Prozess zu machen?«
»Durch die Beziehungen, die Arfsten und mein Vater zur Regierung in Kiel haben.« Jetzt erfasste das arrogante Grinsen das ganze Gesicht des jungen Mannes, als sei er sich seiner herausragenden gesellschaftlichen Stellung nicht nur bewusst, sondern als sei sie sogar sein Verdienst. »Mein Vater kennt da jemanden im Landwirtschaftsministerium, der damals dafür gesorgt hat, dass Wiese seinen Naturerlebnishof nicht ausbauen durfte. Den Kontakt wollte Arfsten jetzt wieder nutzen. Und mein Vater sollte außerdem über die Jägerschaft Stimmung gegen Elmeere machen, damit denen der Geldhahn zugedreht wird.«
»Wie ist der Streit denn ausgegangen? Entschuldigung, die Meinungsverschiedenheit.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, für mich hört sich das an, als hätte Ihr Vater zwischen allen Stühlen gesessen und es jedem irgendwie recht machen wollen. Hat er sich am Ende gegen Arfsten durchgesetzt? Was haben die beiden verabredet?«, erläuterte Bennings seine Frage.
»Das weiß ich nicht so genau. Aber ich denke, dass mein Vater sich nicht hat unterkriegen lassen.« Maarten Rickmers dachte einen Moment nach und schien dann die Bedeutung der Frage zu verstehen. »Andererseits kann es auch sein, dass sie zweigleisig gefahren sind. Kann ja nicht schaden, wenn Druck aus Kiel kommt und gleichzeitig die Jäger hier auf der Insel zeigen, dass es auch ohne Elmeere im Umweltschutz weitergeht.«
»Und was ist mit Arfsten und Ihrer Mutter?«, schoss Dernau nun einen vergifteten Pfeil aus seiner Ecke ab, der dafür sorgte, dass Maarten Rickmers’ Gesichtsfarbe wieder dunkler wurde und seine Hand auf dem Tisch sich erneut zur Faust ballte.
»Was meinen Sie damit?«
»Na, so schwer ist meine Frage doch wohl nicht zu verstehen. Wir haben gehört, Herr Arfsten habe ein Auge auf Ihre Mutter geworfen, und deshalb hätten sich Ihr Vater und sein bester Freund gestritten.«
Maarten Rickmers stutzte einen Moment und schien sich erst orientieren zu müssen, in welche Richtung der Vorstoß ging.
»Wer behauptet sowas denn?« Maarten Rickmers richtete sich nun auf seinem Stuhl bedrohlich auf.
»Ist das denn so abwegig?«, erkundigte sich Bennings betont ruhig.
»Und ob! Brar und meine Mutter kennen sich schon aus dem Sandkasten. Das sind einfach nur gute Freunde, zwischen denen läuft nichts. Mein Vater war eng mit Brar befreundet, auch wenn es da mal Meinungsverschiedenheiten gegeben hat. Das war aber nie persönlich.«
»Ihr Herr Vater soll ja auch nichts anbrennen lassen haben«, behauptete Dernau unschuldig.
»Jetzt reichts aber! Meine Eltern waren glücklich verheiratet. Da hatte keiner ein Verhältnis!« Maarten Rickmers sprang wutentbrannt auf und stieß dabei den Stuhl polternd zurück. »Haben Sie noch mehr als solche Behauptungen auf Lager, oder kann ich jetzt gehen?«
»Setzen Sie sich bitte wieder hin«, forderte Bennings ihn unbeeindruckt auf. »Ein paar Fragen habe ich noch. Sie haben die Karriereabsichten Ihres Vaters erwähnt. Gab es da keine Konkurrenz innerhalb der Jägerschaft?«
»Natürlich war er nicht der Einzige, der gerne in der Kreishierarchie aufsteigen wollte, aber letztlich war er als Nummer Eins hier auf der Insel unangefochten.« Maarten Rickmers ließ seine Blicke unruhig zwischen Bennings und Dernau hin und her wandern. Ihm war anzusehen, dass die beiden Kriminalbeamten sich seine Sympathien endgültig verscherzt hatten.
»Das hört sich alles sehr harmonisch an«, zweifelte Bennings. »Wir haben da eher die Information, dass auch die Jagdkollegen Ihres Vaters nicht mit seiner liberalen Strategie im Umgang mit Elmeere einverstanden waren. Sein Stellvertreter zum Beispiel soll da eine ganz andere Vorgehensweise gefordert haben.«
Bennings war selbst erstaunt, dass dieser Schuss ins Blaue offensichtlich ins Schwarze traf. Maarten Rickmers wand sich verlegen und suchte sichtlich nach den passenden Worten. »Da fragen Sie Herrn Paulsen besser selber. Ich weiß nichts Genaues, nur dass er eher wie Brar Arfsten nach einer härteren Gangart handeln wollte.«
»Das werden wir machen, Herr Rickmers. Geben Sie meinem Kollegen bitte noch den Namen und die Adresse Ihrer Freundin, für Ihr Alibi. Dann können Sie vorerst gehen«, antwortete Bennings freundlich.
»Ariana Jeronski, Lärchenweg 17 hier in Wyk. Aber lassen Sie ihre Eltern aus dem Spiel, die kommen aus Polen, erzkatholisch, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Das heißt, Arianas Eltern mögen Sie nicht besonders? Vor allem Ihre abendlichen Touren mit dem Geländewagen?«, provozierte Dernau, der sich Namen und Adresse notiert hatte.
Maarten Rickmers nickte verlegen. »So kann man das sagen. Ariana soll ihr Abitur machen und dann einen Polen heiraten, am besten einen Bauern.« Er lachte auf und schüttelte verächtlich den Kopf.
»Gut, Herr Rickmers.« Bennings erhob sich von seinem Stuhl. »Sie halten sich bitte zu unserer Verfügung, falls wir noch Fragen haben. Das heißt, Sie verlassen die Insel nicht, ohne uns zu informieren. Und beim nächsten Mal leisten Sie weniger Widerstand, wenn wir Sie sprechen möchten. Das macht nämlich keinen guten Eindruck.«
»Aber Sie sind ja noch jung«, ergänzte Dernau grinsend. »Sie lernen das bestimmt noch.«
Die Kommissare sahen Maarten Rickmers an, dass er sich zusammenreißen musste, als er nun den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.
»Was meinst du?«, erkundigte sich Bennings bei seinem Kollegen.
»In dem brodelt es gewaltig. So grün der hinter den Ohren ist, so arrogant und aggressiv ist er auch. Gefährliche Mischung, wenn du mich fragst.«
»Und seine Einschätzung, was mögliche Verdächtige betrifft?«
»Weiß nicht. Die Sache mit dem Streit zwischen Arfsten und Rickmers scheint heftiger zu sein, als er sie darstellt. Auch ein Verhältnis zwischen seiner Mutter und Arfsten halte ich immer noch für möglich. Vielleicht weiß er nichts davon. Allerdings ist sein eigenes Alibi nicht gerade überzeugend. Und falls es doch stimmt, hat seine Mutter keines mehr.«
Bennings zuckte mit den Schultern. »Das sind im Grunde noch Kinder. Wenn die nicht wissen, wo sie hin sollen, kann es doch sein, dass sie den Rücksitz des Autos gewählt haben. Und dass sie dabei allein sein wollten, kann man ihnen nicht vorwerfen. Außerdem konnten sie nicht wissen, dass sie ein Alibi brauchen. Stell dir nur mal diese Konstellation vor: Arianas Eltern akzeptieren Maarten nicht, weil er ein großkotziger Filou ist, der die Unschuld ihrer Tochter gefährdet; und Maartens Eltern akzeptieren das zugewanderte Polenmädchen aus kleinen Verhältnissen nicht.«
»Drei Nachteile auf einmal, das geht nun wirklich nicht«, feixte Dernau im Tonfall der Überraschungseier-Werbung.
»Wieso drei Nachteile?«
»Na, Polin, Zugewanderte und dann noch unstandesgemäß. Wenn Wiese schon nach vierzig Jahren nicht dazu gehört, was muss wohl geschehen, dass Aussiedler hier akzeptiert werden?!«
»Da hast du recht. Schlimm, aber wahr. In solchen Momenten weiß ich, warum ich nicht auf einer Insel leben will.«
»Gut, lass uns Feierabend machen und etwas essen gehen. Ein frisches Bier auf der Promenade würde mir jetzt gefallen«, schlug Dernau vor. »Das Alibi von dieser Ariana kann auch einer unserer Chefs hier überprüfen. Sonst wird es den Inselsheriffs noch langweilig und die kommen auf dumme Gedanken. Und um Frau Rickmers kümmern wir uns, wenn Maarten Rickmers’ Alibi bestätigt wird. Morgen besuchen wir dann Frau Olsen und diesen Paulsen.«
Bennings stimmte zu und gab dem Kollegen Vedder den Auftrag, Maarten Rickmers’ Angaben bei Ariana Jeronski zu überprüfen. Auch den Zettel mit den Namen der Skatbrüder Brar Arfstens ließ er ihm von Dernau aushändigen, um das Alibi des Landwirts überprüfen zu lassen. Dann verließen sie die Zentralstation und umrundeten das Hafenbecken, um durch das Fluttor am Rathausplatz auf den Sandwall zu gelangen und den Abend dort mit einem guten Mahl und dem einen oder anderen Pils einzuläuten.
6
Henning Leander ging die wenigen Meter von der Wilhelmstraße zur Mühlenstraße durch die Fußgängerzone. Die Mittelstraße war noch ziemlich belebt, was sicherlich an den sommerlichen Temperaturen lag, die inzwischen bis weit in die Nacht herrschten. Die Insel hatte Hochsaison, und außerdem hatte das bevorstehende Stadtjubiläum zusätzlich Urlauber hergelockt. Entsprechend fand sich auch in den Schaufenstern der Wyker Buchhandlung und der Buchhandlung Bücher und Mee(h)r noch mehr inselspezifische Literatur als sonst.
Am Nachmittag hatte Leander Lena Gesthuysen angerufen und ebenfalls auf die Insel eingeladen. Sie hatte ihm zunächst von ihrer Überarbeitung vorgestöhnt, sich aber schließlich doch darauf gefreut, ihn endlich einmal wieder zu sehen. Von dem Stanfour-Konzert hatte er ihr nichts gesagt, das sparte er sich als Überraschung auf, wenn sie am Samstag herüberkam.
Jetzt war er auf dem Weg zu seinem Skatabend im Kleinen Versteck, einer urigen Kneipe in der Mühlenstraße, mit der es eine ganz besondere Bewandtnis hatte. Die heutige Kneipe war bis vor ein paar Jahren noch eine Kirche gewesen, genauer gesagt die Kirche eines recht eigentümlichen Geistlichen. Pastor Dirk Wittkamp, den in Wyk alle nur Mephisto nannten, hatte seine ohnehin sehr überschaubare katholische Gemeinde durch seine spezielle ketzerische Art der Predigt zusätzlich dermaßen reduziert, dass die kleine Kirche in der Mühlenstraße bald maßlos überdimensioniert schien. Und da sich die Katholische Kirche in Schleswig-Holstein ohnehin quasi in der Diaspora befand und immer schaute, wo sie Kosten einsparen konnte, war der Beschluss gefasst worden, dass die Gemeinde in eine kleine Kapelle umziehen sollte. Dann brauchte sie auch keinen eigenen Seelsorger mehr. Der konnte am Sonntag vom Festland kommen, die Messe halten, die Beichte abnehmen und dann wieder mit der Fähre ablegen, um auf Amrum den nächsten Dienst anzutreten. Für den Bischof die willkommene Gelegenheit, den unbequemen Pastor Wittkamp von der Insel zu entfernen. Die Kirche in der Mühlenstraße war ausgesegnet und einem Makler übergeben worden. Dass ausgerechnet Wittkamp sie kaufen und darin eine Kneipe eröffnen würde, anstatt eine Gemeinde auf dem Festland zu übernehmen, hatte der Bischof nicht ahnen können.


