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Der Porsche-Schlüssel lag zum Glück auf der Mittelkonsole, als Klaus sich in den Sportsitz gleiten ließ. ‚Was für ein Auto. Und dazu noch ziemlich neu‘, dachte er, als er startete. Mit unbändiger Kraft zog der Bolide schon im Standgas an wie ein wilder Hengst. Aber der Beamte machte mit dem Traumfahrzeug lediglich eine Kehrtwende und stellte es neben seinem Quattro auf dem Hof vor dem ehemaligen Union-Stübchen ab. Eine legendäre Kneipe. Sein Nachbar hatte dort der Erzählung nach so manche Nacht Doppelkopf gespielt und geknobelt. Und dabei reichlich dem Dortmunder Bier zugesprochen. „Lang ist´s her“, hatte Werner sinniert. Der Zapfhahn war schon seit Jahrzehnten nach oben gedreht.
Klaus machte sich auf die Suche nach Personal- und Fahrzeugpapieren im Wagen. Das jedoch verlief mehr als enttäuschend. Der Panamera war innen so gut wie leer. Seltsam. Lediglich eine Sportjacke ohne Taschen auf dem schmalen Rücksitz. Und die Betriebsanleitung vom Hersteller im Handschuhfach. Die Tankanzeige stand auf etwas über „halbvoll“ und der Tacho auf 12.371 Kilometer. Das Navi war eingeschaltet.
Immerhin war die Straße jetzt wieder frei. Der Stau löste sich langsam auf. Aber als er ausstieg, waren er und das Auto umringt von Schaulustigen, die jede Menge anerkennende Schulterklopfer für den Mutigen übrig hatten. „Das war ja der Hammer, wie Sie den zusammen gefaltet haben“, meinte ein Junge, vielleicht gerade mal 15 Jahre alt.
‚Wenn die wüssten, wie mir zumute war‘, dachte er nur, als er zum Ort des Geschehens zurückging. Aber die Anerkennung tat ihm gut. Klaiser grinste zufrieden in sich hinein.
„Samma, dämm hässe awwa ordentlisch die Fresse poliert. Wie jing dat dann?“, wollte der Größere von den beiden Kollegen in breitestem Kölsch wissen. Während der andere gerade dabei war, per Funk einen Rettungssanitäter heranzuholen. Den mittlerweile verstummten, aber immer noch blutenden Gestrauchelten hatten sie derweil im Inneren des VW-Busses an einem Haltegriff angekettet.
Klaus´ Erklärung zu den wirklichen Umständen wollte der Kölner gar nicht so richtig glauben und grinste breit „Dä häddet sischer verdient“, meinte er nur. „Oder jloubst du, dat dämm Kaventsmann dat jeile Auto jehört? Dat iss doch vill zo kleijn füa dänn. Un zo düa. Dat hät dä doch jarantiert irjendwo jeklout.“
Kurz darauf klemmte er sich an den Funk und fragte die Autonummer in der Zentrale ab.
„Die hann im Moment zo vell zo donn“, kam er kurz darauf wieder zurück. „Do is irjendwo ’n Riesensouereij im Jang. Da is de Kacke rischdisch am Dampfen.“
„Kann ja wohl nicht an uns liegen“, lachte Klaus und freute sich auf seine Frau und ein ordentliches Abendessen. So langsam hing ihm nämlich der Magen zwischen den Knien. Und Ute, Physiotherapeutin in einer der Berleburger Kliniken, dürfte längst zu Hause sein und schon mal alles vorbereitet haben. Am Mittag hatten sie noch telefoniert und sich für fünf Uhr verabredet. Das würde zwar knapp, aber käme immer noch hin. Bis nach Hause bräuchte er von hier aus im Wagen gerade mal zwei, drei Minuten.
Die beiden hatten sich nach Klaisers Versetzung zur Polizei in Berleburg ein schmuckes Häuschen hier im Ort gemietet. 130 Quadratmeter, so gut wie neu, direkt am Ortsrand. Nicht weit weg von der Straße zur Krimmelsdell. Ein herrliches Eckchen mit hoher Feierqualität. Das war wichtig in Berghausen.
Ute war schon zwei Jahre vor ihm in die Kurstadt gekommen, in deren Namen die Einheimischen das „Bad“ gerne wegließen. Aus purer Gewohnheit. Berleburg war zwar schon eine halbe Ewigkeit für Kneippkuren bekannt. Den Titel „Bad“ hatte die Kleinstadt aber erst 1971 bekommen.
Doch das Kuren nach Pfarrer Kneipp hatte die Zeit nicht überdauert. Die meisten Kliniken hatten sich mittlerweile auf Rehabilitationstherapien spezialisiert. Auf die Heilung von Schlaganfallpatienten oder solchen mit schweren Traumata oder massiven Hörschäden, zum Beispiel. Blitzgüsse und Heusäcke hatten Therapien in Neurologie, Psychologie oder Psychosomatik Platz gemacht.
Und genau dort hatte die damals frisch gebackene Physiotherapeutin und Schwimm- und Bademeisterin Ute angeheuert. In einer gerade umfunktionierten Doppelklinik.
Zum Leidwesen von Klaus, damals noch Polizeikommissar bei der Münsteraner Schutzpolizei.
Zwei Jahre lang war der aufstrebende Schutzmann an freien Wochenenden ins Wittgensteiner Land gefahren, um seine bildhübsche Freundin zu besuchen. Die musste in der Klinik häufiger auch an Samstagen Dienst schieben. Da war sein Besuch hier schon praktischer.
Und zwischendrin feilte er an seiner Karriere, wechselte nach Lehrgängen zur Kripo und wurde befördert.
2013 schließlich hatte er die Chance, als Hauptkommissar bei der Kripo in Berleburg einzusteigen. Das passte prima zu den Heiratsplänen des Paares, das sich hier auf dem Land mit seinen etwas knorrigen, aber unheimlich herzlichen Menschen sauwohl fühlte. Er griff zu.
Den Klaisers gefiel Bad Berleburg und seine Umgebung. 23 Ortsteile mit insgesamt nur knapp 20.000 Einwohnern. Das war so richtig nach dem Geschmack der beiden, die bei Telgte im Münsterland groß geworden waren. „Unheimlich viel schöne Gegend hier“, hatte Ute mal gesagt.
Beide liebten das Leben auf dem Land, waren begeisterte Wanderer und Skifahrer und vor allem keine Schönwetter-Anbeter. Das war wichtig in einem Landstrich mit gefühlten 250 Regen- und Schneetagen pro Jahr.
Heute war es übrigens trocken und warm. Ein Septembertag, wie man ihn gerne hatte. Und es versprach ein schöner Abend zu werden, als der Rettungswagen heranrollte. Endlich. Ein Rettungsassistent und eine Notärztin kletterten aus dem Fahrzeug. Der Fahrer wendete und stellte den Wagen neben dem Polizei-Bulli ab. Zwischenzeitlich hatten sich auch die Gaffer am Straßenrand verkrümelt.
Klaus Klaiser und der Kleinere von den beiden Kölner Kollegen kümmerten sich um den Chaoten. Losschließen vom Haltegriff und Hände auf den Rücken. Damit er keine Dummheiten macht.
Nebenbei erklärte der Hauptkommissar den Rettern in kurzen Zügen, was passiert war und wie es zu den Verletzungen des Gefesselten gekommen war. Dann ging es an dessen grobe Untersuchung.
„Das an der Stirn werden wir klammern müssen. Und das hier an der Lippe auch“, erklärte die Ärztin, als sie sich das Gesicht näher angeschaut hatte. „Haben Sie schlimme Schmerzen?“
Der Fleischkloß schwieg.
„Wir nehmen ihn am besten gleich mit ins Krankenhaus nach Bad Berleburg. Da kann er sofort in der chirurgischen Ambulanz behandelt werden“, beschied die junge Medizinerin. Ohne eine Reaktion der Polizisten abzuwarten bat sie darum: „Am besten machen Sie ihm die Handschellen ab. Damit er auf dem Rücken liegend transportiert werden kann. Der Mann hat bei dem Sturz auf die Fahrbahn mit ziemlicher Sicherheit eine Gehirnerschütterung abbekommen. Einer von Ihnen kann uns ja im Rettungswagen begleiten.“
Nebenan im VW-Bus knarzte der Funk. Der große Kölner wurde gerufen und gebeten, sich per Handy zu melden. Was dieser auch sofort tat. Dann wurde er still. Sekunden hörte er gebannt zu, um dann die Augen weit aufzureißen. „Ach du dicke Scheijße!“, rief er, „dat hat uns jerade noch jefehlt. … Juut … Okay, isch meld‘ misch jleisch wieder.“
Fast auf Zehenspitzen pirschte er zum Rettungswagen, wo sie gerade den Porschefahrer auf die Trage legen wollten. Der stand mit dem Rücken zur Tür am Heck. Hinter ihm aber der kleinere Polizist, der mit dem Schlüssel an den Handschellen herumfingerte. Und dahinter der Rettungssanitäter. An der offenen Seitentür innen die Notärztin, außen der Hauptkommissar.
„Hörens“, flüsterte der Kölner Klaus Klaiser ins Ohr, „dä Typ da is‘ extrem jefährlisch. Dä hät nit nua dat Auto jeklout. Dä hät wahrscheijnlisch och dänn Besitzer entführt. Enne Industrielle ous‘em Souerland. Loss dä Kääl bloß anjekettet.“
Aber dazu war es schon zu spät. Mit einem wuchtigen Stoß seines inzwischen nicht mehr gefesselten rechten Arms katapultierte der Bodybuilder die Notärztin aus dem Wagen – direkt in Klaisers Arme und in die des daneben stehenden Kollegen. Die beiden konnten sich kaum auf den Beinen halten. Dann schoss der Koloss förmlich herum, packte den geschockten Polizisten hinter ihm am offenen Kragen der Einsatzkombi und knallte ihn gegen die Brust des Rettungssanitäters, der jetzt das Gleichgewicht verlor und rückwärts aus dem Wagen stürzte.
Sekundenbruchteile später hatte der Gangster die Dienstwaffe des Beamten in der Hand, die dieser offen an der Hüfte getragen hatte. Rausgerissen aus dem Holster.
„Weg hier, fonft mach‘ ich euch alle platt“, nuschelte er und verspritzte dabei eine Menge Blut aus seiner gespalteten Lippe.
Noch ehe Klaiser zur Waffe unter dem Sakko greifen konnte, war er ihnen aus dem Krankenwagen entgegen gesprungen. Doch dabei hatte er sein lädiertes linkes Bein vergessen und beim Aufkommen laut aufgeschrieen.
Der große Kölner erkannte darin seine Chance und machte einen Satz nach vorne, um dem Gestrauchelten die Pistole zu entringen. Aber der schoss sofort.
„Buff“. Der Knall entwickelte sich gar nicht richtig. Der Schuss war aufgesetzt und hatte ein qualmendes kreisrundes Loch in den linken Oberschenkel von Polizeihauptmeister Markus Schröder gebohrt. Fassungslos stierte der auf seine Verletzung und kippte seitlich um. Schmerzen schien er noch nicht zu haben. Aber einen Schock.
Instinktiv umarmte Klaus Klaiser die hysterisch aufschreiende Ärztin und hoffte, sie aus der Schusslinie ziehen zu können. Vergeblich. Der Riese war schon wieder auf den Beinen, stand auf der rechten Hand des am Boden liegenden Verletzten und setzte der Frau die Pistole an den Kopf.
„Her mit Euren Kanonen! Fofort! Handief auch! Und die Flüffel für alle Autof hier! Aber dalli!
Als er den Hahn der Neunmillimeter knackend spannte, gab es keinen Verhandlungsspielraum mehr.
Mit links nestelte Schröder seine Waffe aus dem Schulterholster und warf sie samt Smartphone auf den Boden vor sich. Klaiser tat es ihm gleich. Gleichzeit warf er ihm die Porscheschlüssel hin und seine Fahrzeugschlüssel ebenfalls. Polizeiobermeister Philipp Schmitz, so hieß der kleinere Polizist, musste alles einsammeln, samt aller Schlüssel und Telefone aus dem Streifenwagen und dem Rettungsfahrzeug. Dessen übrige Besatzung war wie schockgefroren.
Markus Schröder wälzte sich nun stöhnend am Boden. Blut quoll aus der Wunde am Bein.
„Du kommft mit“, beschied der Gangster und wollte die Ärztin am Arm wegzerren. Doch Klaiser hielt sie fest und sagte: „Siehst Du nicht, dass die Frau fast stirbt vor Angst. Lass‘ sie hier und nimm mich mit.“
„Halt die Freffe, Bulle! Oder willft Du auch ’ne Kugel?“ Klaus hatte zwar gelegentlich mal probiert, wie es sich anfühlt, wenn man sich eine Pistole an den Kopf hält. Doch Gefühle verändern sich schlagartig, wenn das ein anderer tut. Mit geladener und entsicherter Waffe.
Klaisers Knie wurden weich. Die Ärztin entglitt seinen Armen und wurde mitgeschleift. Kein Laut kam mehr über ihre Lippen. Sie hatte sich wohl oder übel in ihr Schicksal gefügt.
Es sah total bescheuert aus, wie sie im Halbkreis um den nun schmerzgepeinigten Hauptmeister herum standen und in aller Fassungslosigkeit zusahen, wie der Gewaltverbrecher die junge Medizinerin in Richtung Porsche vor sich hertrieb. Die Hosentaschen voll gestopft mit Waffen, Schlüsseln und Handys.
Als sie den Wagen erreicht hatten und die Fahrertür offen war, knallte der Vollidiot der jungen Frau seine flache rechte Hand so heftig ins Gesicht, dass man es laut klatschen hörte. Die Getroffene schrie auf, drehte sich um die eigene Achse und stürzte zu Boden.
Kurz darauf röhrte der Porsche auf und verschwand mit durchdrehenden Rädern in Richtung Bad Berleburg.
Eilig rannten die beiden Retter zu ihrer Kollegin, halfen ihr auf die Füße und brachten die laut Weinende zurück zum Rettungswagen.
Polizist Schmitz kümmerte sich um seinen Kollegen und begann, dessen Oberschenkel mit Trassenband aus dem Streifenwagen abzubinden, das er zu einer Kordel verdrallt hatte. Klaiser rief über Funk Verstärkung und ließ Straßensperren veranlassen.
In Berleburg waren sie aber bereits informiert. Klammheimlich, vom Fahrer des Rettungswagens. Über dessen Notfrequenz. Er hatte die ganze Zeit unbeobachtet am Steuer gesessen.
Der Hauptkommissar war aufgewühlt. Noch nie im Leben hatte Klaiser eine solche Ohnmacht verspürt wie gegenüber diesem Wahnsinnigen. Wer weiß, was der mit dem Industriellen angestellt hatte. Hatte er nur dessen Wagen gewollt und ihn womöglich längst umgebracht? Oder wollte er Lösegeld erpressen?
Dem war alles zuzutrauen. Am Ende war der Unternehmer irgendwo in der Umgebung versteckt oder gar vergraben. Klar. Warum sonst hatte sich der Gangster hier aufgehalten?
Gedankenverloren stemmte Klaiser die Hände in beide Sakkotaschen. Und auf einmal bekamen seine Augen ein seltsames Leuchten. Denn da fühlte er den Werkstattschlüssel seines Dienstwagens in der Hand. Einen zweiten Schlüssel, den Klaus wegen der Inspektion dabei gehabt und ganz vergessen hatte. Super. Plötzlich war er wieder mobil.
Nachdem er sicher war, dass sich die Sanitäter nun auch um seinen angeschossenen Kollegen kümmerten und klar war, dass sowohl ein zweiter Rettungswagen als auch weitere Polizeibeamte kommen würden, rannte der Kripobeamte zu seinem Fahrzeug, um die Verfolgung aufzunehmen.
Er war noch nicht richtig eingestiegen, da raste plötzlich der Porsche wieder vorbei. Diesmal in Richtung Aue. Von weit her hörte man Martinshörner, die sich aber seltsamerweise entfernten. Der Flüchtige musste irgendwo vor einer Polizeisperre kehrt gemacht haben. Und die Kollegen hatten daraufhin die Verfolgung aufgenommen. Scheinbar aber in die falsche Richtung. Hatte er sie genarrt? Klaus hängte sich dran. Schon allein aus dem Willen heraus, sich diesem Gangster auf keinen Fall geschlagen zu geben. Der Quattro A5 nahm Fahrt auf.
Über Funk erfuhr Klaiser, dass das SEK unterwegs sei. Sein Adrenalinspiegel begann wieder zu steigen.
Aber außer hinterherfahren und eventuell sogar den Standort ausfindig machen konnte er ja nichts tun. Das Arschloch hatte ihm ja die Waffe abgenommen und sein Handy. Letzteres wäre unter Umständen noch verzichtbar gewesen. Aber eine Pistole hätte ihm schon einiges mehr an Sicherheit gegeben.
Auf der Strecke unter‘m Willstein konnte man herüber bis ins Altmühlbachtal schauen. Und da sah er den Porsche, wie er gerade am Schäferhans-Hof vorbei fuhr. Der Typ hatte die Eder überquert und donnerte in Richtung Rinthe. ‚Nicht einholbar dieser Vorsprung‘, dachte Klaiser. Aber immerhin konnte er die Kollegen informieren. Vielleicht war ja gerade eine Streife in entgegengesetzter Richtung unterwegs.
Kurz darauf bog er ebenfalls links ab über die Ederbrücke. In rasender Fahrt jagte er bald über den Bahnübergang hinweg und an der Alten Mühle vorbei. Auf der Straße gab es ein paar heikle Stellen. Die kannte er längst. Der Porschefahrer aber wohl kaum. Doch bei der Straßenlage dieses Autos war eher nicht damit zu rechnen, dass es aus irgendeiner Kurve fliegen würde.
Als er schon im „Sauseifen“ war, sah er plötzlich weiter hinten eine Staubwolke aufsteigen. Kurz nur. Dann war sie wieder weg. Und direkt danach kam ihm ein dicker Lkw entgegen. Verdammt schnell für diese doch recht schmale Straße. Vermutlich war der Brummi auf‘s unbefestigte Bankett am Straßenrand gekommen und hatte richtig Staub aufgewirbelt. Das musste echt knapp gewesen sein. Hier kann man nämlich schnell mal im Tal auf der Seite liegen, wenn man mit einem solchen Truck nicht aufpasst und bei Gegenverkehr ein bisschen mehr nach rechts ziehen muss.
Doch was ein Lkw kann, das kann ein Porsche schließlich auch. Perfekter sogar noch. Klaiser traute seinen Augen nicht, als er den Panamera auf dem Dach liegen sah. Direkt am Rand der Straße nach Rinthe. Mit immer noch drehenden Rädern. Das war also der Grund für die Staubfontäne gewesen.
Langsam rollte er näher und konnte seine klammheimliche Freude kaum verbergen. Hatte es diesen Vollidioten einfach so auf‘s Kreuz geschmissen. Mann, Mann, Mann.
Aber was war mit dem Fahrer? Hatte er das überlebt? War er verletzt? Und, falls er bei Bewusstsein wäre, wie würde der Schwerbewaffnete wohl reagieren, wenn er noch im oder in der Nähe des Wagens ist?
„Wieland 14/01 von Wieland 14/23 kommen.“ „Wieland 14/01 hört.“ Schnell informierte der Hauptkommissar die Wache in Berleburg. Kurzer Lagebericht. Dann schaltete er den Funk weg. Weil er fürchten musste, dass man das da draußen hören konnte.
Vorsorglich sperrte der Hauptkommissar die Straße, indem er seinen Wagen zurück setzte und auf die rechte Fahrbahn stellte. Mit eingeschaltetem Blaulicht und noch deutlich vor dem Abzweig, von dem rechts eine Straße um eine scharfe Kurve herum bergauf nach Birkefehl führt.
‚Wahrscheinlich ist genau das dem Irren zum Verhängnis geworden‘, schoss es ihm durch den Kopf. Er war sich sogar sicher. Es konnte gar nicht anders sein. Der Porschekutscher wollte wohl mit Schmackes nach Birkefehl abbiegen, als er im letzten Moment den Lkw von oben herunter um die Kurve kommen sah. Das hätte für beide nebeneinander nie und nimmer gereicht. Also musste der Porschefahrer das Steuer nach links gerissen haben, um weiter auf der Talstrecke zu bleiben. Doch das war dann zu knapp. Genau auf der Spitze der Gabelung beginnt eine nach rechts ansteigende Böschung. Und die hatte dem Sportwagen die entsprechende Links-Drehung um die Längsachse verpasst. Er war also auf‘s Dach geknallt und nach einer ordentlichen Rutschpartie einfach liegen geblieben. Und der Lkw-Fahrer? Der musste das doch gesehen haben. ‚Einfach abgehauen, der Sausack‘, dachte sich der Kripo-Mann. Aber wer weiß, wofür das gut war.
Er verharrte drei, vier Minuten im Wagen und beobachtete das Tal und die Straße vor sich. So weit er sie einsehen konnte. Nichts rührte sich. Aber es half alles nichts. Klaiser musste nach dem Fahrer schauen. Also stieg er aus.
Langsam und so geräuschlos wie möglich marschierte der Polizist in Richtung Unfallwagen. Dessen Räder waren längst zum Stillstand gekommen. Nur ein regelmäßiges Knacken verriet, dass Motor und Auspuff ziemlich heiß waren und jetzt abkühlten. Und es roch nach Motorenöl.
Dem Kriminalisten schoss in diesen Sekunden alles Mögliche durch den Kopf. ‚Du bist nicht bewaffnet, sei vorsichtig.’ Und ‚Ute hast du noch nicht informiert, dass es später wird.’ Hätte er allerdings auch nicht tun können. Womit denn?
Irgendwie stieg ein irrationales Angstgefühl in ihm auf, das er so noch nicht kannte. Denn eigentlich wollte er ja gar nicht in das Wrack schauen. Aber er musste ja.
Doch da vorne bewegte sich nichts. Überhaupt nichts. Doch das besagte gar nichts. Am besten wäre es, dachte Klaus, wenn er auf der gegenüberliegenden Seite die Straßenböschung hinunter steigen, durch die Wiese den Porsche umkreisen und dann weiter vorne wieder hoch klettern würde. Um aus der Deckung heraus knapp über die Fahrbahn hinweg in das demolierte Auto schauen zu können. Das müsste eigentlich klappen und wäre womöglich am ungefährlichsten. Also los. Ab, die Böschung hinunter.
Mist, da waren Brennnesseln, über die er hinabschlidderte. Und dann noch ein Stacheldrahtzaun. Macht nichts. Nichts passiert. Ein Zaunpfosten hatte als Rutschbremse fungiert. Und an dem Zaun konnte er jetzt entlang laufen. ‚Bleib besser auf der Straßenseite‘, dachte er sich. Meter für Meter arbeitete er sich vor.
Aber eins war komisch. Bisher war nicht ein einziges Auto vorbei gekommen. Nicht mal ein Landwirt mit seinem Trecker. Nicht von Rinthe her, nicht von Birkefehl und nicht von Berghausen. Das war doch nicht normal. Auch wenn hier selten richtig viel Verkehr herrschte. Klaus fühlte einen dicken Kloß in seinem Hals. Jetzt müsste er eigentlich an dem Porsche vorbei sein. Jetzt könnte er in den Wagen hinein schauen.
Langsam wollte er sich schon im Schutz eines Baumes die Böschung hocharbeiten. Da traf es ihn wie ein Stromschlag. Denn plötzlich stand er da. Dieser Unmensch. Zwei, drei Meter oberhalb von ihm. Direkt am Straßenrand. Mit Kanone im Anschlag. Aufgetaucht wie Phoenix aus der Asche.
Zum Glück standen zwei Büsche schützend zwischen ihnen. Mit dichtem Blattwerk verdeckten sie wohl die Sicht des Gangsters. Und plötzlich wusste Klaus wieder, was es heißt, seinen eigenen Pulsschlag im Kopf zu hören. „Wupp-wupp, wupp-wupp, wupp-wupp“, dröhnte es. Pulsfrequenz bei mindestens 180.
Langsam, ganz langsam ließ er sich auf den Boden gleiten. Und dabei schwitzte und fror er gleichzeitig zum Gotterbarmen. Der Polizist zitterte wie Espenlaub. ‚Lieber Gott‘, dachte er, ‚bitte lass‘ diesen Typen nur ein paar Schritte weitergehen. Damit ich mal wieder richtig Luft holen kann.’
Ein leichter Windhauch strich durch das wunderschöne Tal. Und drüben machte ein Eichelhäher auf sich aufmerksam, die so genannte „Polizei des Waldes“. ‚Hallo Kollege‘, dachte er.
Wieder und wieder krächzte der Eichelhäher los. ‚Es ist so bizarr‘, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Diese unglaubliche Idylle um uns herum. Und da steht der Mann, der mir in wenigen Sekunden ein Loch in den Schädel jagen kann.’ Und dies auch tun würde. Davon war er fest überzeugt.
Plötzlich riss der Gangster da oben den demolierten Kopf herum und schaute talaufwärts. Ein Wagen war von weiter weg zu hören. Und auch von Berghausen kam plötzlich ein Auto heran. Recht schnell sogar. Offenbar bereitete sich dieser Fiesling jetzt darauf vor, einen von denen anzuhalten und zu kidnappen.
Das Fahrzeug, das von Berghausen her kam, blieb drüben hinter seinem Audi stehen. ‚Wegen der Sperre‘, dachte Klaus. Eine Tür schlug zu. Und irgendjemand rief: „Hey, brauchen Sie Hilfe?“
„Ja, brauche ich“, erwiderte der Muskelmann. Sein Nuscheln war unüberhörbar.
„Sind sie verletzt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“ „Nein danke, nicht nötig.“
Aber dann passierte nichts. Eine ganze Weile nicht. Nur ein Sportflugzeug störte die Stille. Offenbar gestartet in Schameder.
„Was ist denn jetzt?“, hieß es von dort hinten. „Sie müssen schon herkommen. Ich fahre mir doch in diesem Trümmerfeld nicht die Reifen platt.“
Das hatte er wohl akzeptiert und setzte sich langsam in Richtung Straßengabelung in Bewegung. Die Knarre hatte er hinten in den Hosenbund gestopft. Wohl, um nicht sofort erkannt zu werden. Das hatte Klaiser noch gesehen. Dann war der Typ aus seinem Sichtfeld verschwunden.
Eine ganze Weile lang hörte man nur das Gluckern des Mühlbaches und Vogelzwitschern. Dann kam schließlich der Wagen von Rinthe her in schneller Fahrt heran.
‚Du musst den Mann da hinten unbedingt warnen‘, dachte der Kriminalpolizist noch. ‚Der hat womöglich gleich eine Pistole am Kopf. Aber wie komme ich dann ungeschoren hier raus? Das ist Wahnsinn, so ganz ohne Waffe.’
Doch er kam nicht mehr zu irgendeiner Aktion. Der Wagen oben fuhr vorbei, nahm Tempo auf und bremste kurz darauf scharf ab. Dann hörte er plötzlich lautes Rufen. Kommandos hallten durch das Tal. „Waffe weg – Sofort! Waffe weg – Waffe weg!“ Die Aufforderung war ultimativ, duldete keinen Widerspruch. Wieder kurze Stille. Dann: „Okay, so ist‘s gut. Und jetzt auf den Boden. Runter auf den Bauch! Runter! Und Handflächen nach oben! … Okay.“
Für Momente war nichts mehr zu hören. Dann schlugen eine Schiebetür und mehrere Wagentüren zu. Mehrere Automotoren sprangen an.
Als Klaiser schließlich die Böschung hoch krabbelte, sah er gerade noch zwei schwarze Mercedes-Limousinen und einen schwarzen Neunsitzer mit verdunkelten Fenstern davon fahren. Am Steuer Männer mit schwarzen Sturmhauben.
‚Das SEK‘, dachte er. ‚Schnell und geräuschlos. Wahnsinn!’
Ute stand mit tränengetränkten Augen in der Tür, als Klaus heimkam. Wortlos fiel sie ihm um den Hals, begann laut zu schluchzen und küsste ihn mit feuchtem Mund ab. Sie wollte gar nicht mehr aufhören. Klaus schloss sie fest in die Arme – und weinte auch.
Sie wusste längst, was an diesem Abend passiert war und in welch brenzliger Lage er sich befunden hatte. Corinna hatte sie sachte eingeweiht. Ihre Busenfreundin und gleichzeitig Kollegin von Klaus. Eigentlich hätte sie gar nichts sagen wollen und auch nicht dürfen. Aber Ute hatte bei Corinna auf der Dienststelle angerufen, um anzukündigen, dass sie später zum geplanten Cocktail- und Quatschabend kommen werde. Klaus sei ganz gegen seine Gewohnheiten noch nicht heim gekommen. Ohne sich zu melden. Und per Handy sei er nicht erreichbar. Nun hatte Ute ein extrem flaues Gefühl im Magen. Weil Radio Siegen von der Entführung eines Industriellen aus Kirchhundem berichtet hatte. Und davon, dass der Wagen des Entführten in Wittgenstein gesehen worden war. Dessen Fahrer, der mutmaßliche Entführer, sei ein geflohener Schwerverbrecher.