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Corinna hatte zunächst rumgestammelt. Abstreiten konnte sie den Inhalt der Radiomeldung ja nicht. „Aber damit bin ich überhaupt nicht befasst. Ich hatte heute viel zu viele andere Dinge auf dem Tisch. Gerade eben kam noch ein Tankstellenbetrug dazu.“ Im Übrigen laufe diese Entführungsgeschichte über den Einsatz- und Führungsstab in Siegen. Die Berleburger Wache sei da eher außen vor. Und überhaupt – bei dem Arbeitspensum, das sie im Moment habe, sei das wirklich nichts, was sie sonderlich interessiere.
‚So eine Lügnerin‘, hatte Ute gedacht. Sie kannte ihre Freundin viel zu gut, als dass sie das hätte glauben können. Corinna Lauber, 30-jährige Kommissarin, eigentlich eine grundehrliche Haut, war Polizistin mit Leib und Seele. Und jeder Fall, der über das übliche Tagesgeschäft hinaus ging und mehr war als ein stinknormaler Ladendiebstahl oder ein Trunkenheitsdelikt, interessierte sie brennend. Nein, dieser Frau war eine Entführung mit absoluter Sicherheit nicht egal. Noch dazu eine, die eventuell auch in Wittgenstein stattfand. Ute war sicher, dass da irgend etwas gewaltig brodelte. Und ihr Mann war womöglich mittendrin. Also bohrte sie weiter.
Corinna wusste, dass sie der Freundin jetzt nichts mehr vormachen konnte. Also musste sie die Hosen runterlassen und erzählen, was sich da gerade abspielte. Soweit sie es überhaupt selbst wusste. Tuschelnd gab sie Ute die wichtigsten Infos im Telegrammstil durch‘s Handy. Sie stand gerade in der Nähe des PvD-Pultes. Und die Kollegen dort mussten das nun wirklich nicht mit bekommen. Doch plötzlich brachen die in einen gewaltigen Jubel aus und applaudierten sogar, als per Funk die Meldung über den erfolgreichen SEK-Einsatz kam. Der Gangster war ohne Blutvergießen dingfest gemacht worden war. Und Klaus unverletzt.
Was für ein Abend. Alle hatten sie unter Strom gestanden. Bis in die Haarspitzen. Die da draußen und die hier drinnen auf der Wache. Allen voran Dienststellenleiter Bernd Dickel.
Noch Stunden später war er völlig aufgewühlt. Erst dieser total verrückte Einsatz gegen einen Entführer in Berghausen. Dazu die kurzfristige Geiselnahme einer Ärztin, die danach total zusammengeklappt war, einen angeschossenen Beamten und nahezu null Informationen. Und dann noch dieser spektakuläre SEK-Zugriff, der dank Klaus Klaiser überhaupt erst möglich geworden war. Weil er über den Fluchtweg des Gangsters und dessen Unfall Bescheid wusste und informiert hatte.
Wie sich seine Leute da verhalten hatten, das war wirklich Klasse. Keine Frage. ‚Aber das muss man nun wirklich nicht laufend haben‘, dachte der Mann mit den fünf silbernen Sternen auf den Schulterklappen.
Gott sei Dank war die Schusswunde von Markus Schröder vergleichsweise schnell versorgt worden. Noch am frühen Abend wurde das Geschoss raus operiert. Er hatte riesiges Glück. Weder ein Knochen, noch wichtige Gefäße waren verletzt worden.
Und der Jungbulle aus Köln war schon wieder voll der Sprüche. „Es hätt‘ nochmol joot jejange“, hatte er nach der OP den besorgt wartenden Kollegen verkündet und halb lachend mit zusammen gekniffenen Zähnen hinzugefügt:
„So jet erläwwste nit in Kölle. Doför bruchste dringend enne Besoch im Kurbad. Do weeste ääst zom Mann.“
Die junge Notärztin allerdings hatte ein gewaltiges Trauma und einen dröhnenden Schädel davon getragen. Da konnte man nur hoffen, dass ihr gute Psychotherapeuten zur Seite stehen würden. Eine Waffe am Kopf und eine, wenn auch kurze, Geiselnahme … Das steckt niemand so einfach weg.
In irgendeiner stillen Stunde müsste er dringend mal mit Klaiser reden, überlegte Bernd Dickel. Solche Verfolgungen auf eigene Faust und ohne Selbstschutz wie die von Klaus Klaiser gingen überhaupt nicht. Auch wenn er eigentlich nichts falsch gemacht und seine Aktion im Altmühlbachtal zu einem außergewöhnlichen Erfolg geführt hatte. Zu einem Teilerfolg zumindest. Denn der Schwerverbrecher, als Frank Deppe aus Drolshagen identifiziert, schwieg sich über den Verbleib des Industriellen aus. Man hatte ihn nach ärztlicher Versorgung seiner Wunden in Untersuchungshaft nach Siegen gebracht.
Bei Klaisers im Robinienweg roch es ein wenig angebrannt. Ute hatte die Kartoffeln auf dem Herd vergessen, während sie mit Nachbarn an der Haustür sprach. Wie ein Lauffeuer hatte sich Klaus‘ heldenhafter Einsatz bei der Verteidigung des Kranwagenfahrers herumgesprochen. Der stand gerade unter der Dusche und bekam nichts mit von dem, was in Berghausen mittlerweile die Runde machte. Dazu gehörte natürlich auch, dass er derjenige gewesen sei, der dem SEK den Verbrecher direkt vor die Flinte geliefert habe. Einer aus dem Dorf habe den Einsatz sogar selbst beobachtet, wurde berichtet.
Dass das alles ganz anders abgelaufen war, erzählte der Kripomann seiner Frau dann eine halbe Stunde später. Bei Steak mit Pasta, Pfannengemüse und einer Sauce Bernaise. Eine kühne Kombination – aus der Not geboren. Aber gar keine so schlechte. Und die einzig noch machbare heute Abend. Denn die Kartoffeln waren wirklich nicht mehr zu gebrauchen.
„Unglaublich, wie die SEK-Leute arbeiten“, schwärmte er ihr vor. Aber sie wollte das alles gar nicht hören. Sie hatte Todesängste ausgestanden. Und zum ersten Mal hatte sie so einen Anstrich von Verständnis für die Filmpartnerinnen der meisten Fernsehkommissare, die sich serienweise hatten scheiden lassen oder dieses planten. „Die dummen Weiber wussten doch vorher, auf was sie sich einlassen“, hatte sie bisher immer gedacht.
Nicht, dass sie auch an Trennung oder gar Scheidung gedacht hätte. Aber sie wusste seit heute, dass es Gefühle gibt, die man sich selbst in übelsten Träumen nicht ausmalen kann.
Eines wollte sie aber nun doch wissen. „Warum haben die Dich im Altmühlbachtal eigentlich mutterseelenallein gelassen mit diesem Kerl? Die wussten doch, wo du bist.“
„Ich war nicht allein, Schatz. Die hatten die Situation wahrscheinlich schon zu der Zeit unter Kontrolle, als ich ausgestiegen und auf dem Weg zum umgestürzten Porsche war“, log er. „Nur habe ich sie nicht gesehen.“ Tatsächlich hatte es schon etwas länger gedauert.
Nachdem ihn Streifenkollegen nach dem Verschwinden des Spezialeinsatzkommandos aufgegabelt hatten, erfuhr er, was da alles im Hintergrund gelaufen war. Es war eine fast schicksalhafte Fügung gewesen, dass das SEK aus Dortmund wegen der Entführung in der Nähe des Rhein-Weser-Turms auf Einsatz wartete. Und dann hatte man gezielt Berghausen angefahren, nachdem über Funk bekannt wurde, dass dort ein Porsche und ein Bodybuilder aufgefallen waren, die womöglich die Gesuchten sein könnten.
In dem Moment, in dem Klaus Klaiser meldete, der Porsche sei ins Altmühlbachtal unterwegs, waren 15 SEK-Leute mit vier Fahrzeugen gerade am Restaurant „Grünewald“ vorbei gekommen, ungefähr einen Kilometer außerhalb von Berghausen. Zwei Minuten später standen sie an der Ederbrücke. Eine weitere Minute später eine Streifenwagenbesatzung aus Berleburg. Dann kam Klaus‘ Meldung von dem Unfall des Porsche.
Nach Blick auf die Karte mit Hilfe der ortskundigen Kollegen kam der Einsatzbefehl des SEK-Zugführers rasend schnell. „Sechs Mann mit einer Limousine und dem Neunsitzer vor bis zur Alten Mühle. Drei Mann davon versuchen von dort aus, verdeckt über einen Weg auf die Straße von Birkefehl zu gelangen, um von oben her auf die Gabelung zu kommen.“
Der zweite Mercedes mit drei Mann, einer war Scharfschütze, wurde mit Hochgeschwindigkeit über die Helle, Richtung „In der Delle“ geschickt. Deren Ziel: Sicht- und Schussfeld in Richtung Unfallstelle im Altmühlbachtal. Der dritte Mercedes mit drei Mann musste den Weg ebenfalls über die Helle nehmen, um auf dem schnellsten Wege über Hemschlar von Rinthe her ins Altmühlbachtal zu kommen.
‚Irre, wie schnell die die Situation und die topografischen Verhältnisse drauf haben‘, war schon Pattrick Born verblüfft, einer der Streifenpolizisten. Er hatte mit seiner Kollegin den Auftrag, das Altmühlbachtal von Berghausen her für den Verkehr zu sperren. Andere Beamte hatten das bereits in Birkefehl übernommen. Sie waren auf dem Weg zurück von einer Unfallaufnahme in Schameder. Und der Polizeiführer vom Dienst in Berleburg hatte zudem eine Verkehrskontrollstelle bei Weidenhausen aufgehoben, um die Kollegen ins untere Rohrbachtal zu schicken. Damit sie dort die Straße in Richtung Unfallstelle dicht machen.
Das war also der Grund dafür gewesen, dass kein einziges Auto durchs Tal gefahren war, als Klaus Klaiser in der Böschung lag und der Entführer schussbereit auf der Straße stand. Und der Eichelhäher signalisierte wohl die Ankunft des Scharfschützen gegenüber am Waldrand. Hatte er also gar nicht falsch gelegen mit ‚Kollege‘, dachte Klaus.
Eins war ihm allerdings nach wie vor schleierhaft. Wo war Deppe, dieser Gangster, so plötzlich hergekommen? Beim Blick auf die Unfallstelle und das Wrack war von ihm nichts zu sehen. Und der Porsche hatte ziemlich flach ausgesehen. Drinnen wäre es für ihn vermutlich recht ungemütlich geworden. Deppe musste also raus geflogen sein und irgendwo bewusstlos im Graben gelegen haben. Klar. Sonst hätte er Klaus‘ Wagen ja kommen hören. Auf der anderen Seite, rechts neben dem Porsche, musste er irgendwo in der Wiese gelegen haben. Bewaffnet. Bei seiner Festnahme hatte er noch immer die SIG Sauer P6 dabei, die er dem Kölner Kollegen Schmitz im Rettungswagen aus dem Holster gerissen hatte. Ob er die beim Fahren und beim Überschlag in der Hand behalten hatte? Und sogar bei seinem Abflug aus dem Auto? Musste er wohl.
Die beiden anderen Waffen waren von der Spurensicherung im Porsche gefunden worden. Ebenso die Autoschlüssel und die Handys. Bis auf die Sportjacke vom Rücksitz war bei der ersten Durchsicht des demolierten Boliden sonst auch nichts gefunden worden. Ein Chaos hatte der Überschlag also im Inneren nicht angerichtet. Nur die Fußmatten hatten, weil auf einer Seite mit Druckknöpfen befestigt, ein wenig schief von der Decke heruntergebaumelt, die ja in Wirklichkeit das Bodenblech war.
„Ich frage mich die ganze Zeit, wo der Kerl mit dem Wagen überall war, bevor er dir in die Fänge geraten ist.“ Kriminalrat Jörg Gabriel, Leiter der SOKO „Lenne“ schien juckende Pickel unter seinem dichten krausen Haar zu haben. Heftig schabte er mit den Fingern der rechten Hand über den Hinterkopf.
Gabriel musste von Olpe nach Berleburg geflogen sein. Denn er war schon auf der Wache, als Klaus am Abend dort ankam. Nach der Vor-Ort-Ermittlung und dem mantra-artigen Herunterbeten der Abläufe und eigenen Feststellungen.
Sieben Leute der Spusi und eines speziellen Ermittlungstrupps waren im Altmühlbachtal aufgetaucht. Und mindestens fünfmal hatte Klaus alles so wiedergegeben, dass es jeder, meist mit ungläubigem Kopfschütteln, aber auch der einen oder anderen anerkennenden Geste, begriffen hatte.
Den größten Kampf vor Ort musste er aber mit dem Mann der Spurensicherung führen, der die Waffen und die Handys eingesammelt hatte. Wenigstens sein Telefon hätte er gerne zurück gehabt. Um noch mal einen Anruf bei Ute zu versuchen. Daheim war nämlich die ganze Zeit besetzt gewesen, als er von einem Kollegen-Handy aus probiert hatte. Und die Mobilnummer von Ute hatte er nicht im Kopf. Die war in seinem Smartphone gespeichert.
Zunächst hatte der Mann im weißen Anzug (den trugen die Kollegen offenbar immer) darauf bestanden, alle Fingerabdrücke von dem iPhone 5 zu nehmen. Darüber hinaus wollte er wissen, ob der Gangster damit Gespräche geführt hatte. Hatte der aber nicht, wie sich anhand der Anrufliste schnell feststellen ließ. Und auch keine SMS oder Fotos verschickt. Hätte er aber auch nicht können. Weil er den vierstelligen Code des Gerätes nicht kannte.
Doch Spusi-Leute sind gründlich. Und auch erst nach Rückversicherung bei seinem Vorgesetzten rückte er das Handy raus. Kleisers Dienstwaffe aber blieb im Asservatenbeutel. Und damit bei der Spurensicherung und der KTU.
Klaus kannte den SOKO-Leiter schon seit Jahren. Jetzt saß er ihm direkt gegenüber. Ein Super-Kriminalist, bei dem er einige Lehrgänge besucht hatte. Jörg Gabriel hatte richtig Karriere gemacht. Und das nicht zu Unrecht. Denn er konnte auf eine lange Reihe spektakulärer Ermittlungserfolge und damit verbundener Fallaufklärungen verweisen. „Die Unterwelt zittert vor ihm“, hatte eine nicht gerade kleine Boulevardzeitung unlängst getitelt.
„Ich kann Dir auch nicht sagen, wo er herkam. Ich glaube nur, dass er wahnsinnig unter Zeitdruck war, als ich mich an ihn rangehängt habe“, erklärte der Hauptkommissar seine erste Begegnung mit dem Mann im Porsche. „Obwohl er wohl nicht so genau wusste, wo‘s lang geht. Sonst wäre er nicht irgendwo in Raumland rumgegurkt. Denn er war ja so abgebogen, dass er erst später wieder über den Stöppelsweg von Berleburg her auf die Hauptstrecke zurückkam. … Wenn es denn überhaupt seine Hauptstrecke war. Immerhin war das Navi aber eingeschaltet. Hab´ ich in Berghausen im Wagen festgestellt.“
„Oder er wusste sehr genau, wo´s her geht“, warf Gabriel ein. „Wir suchen gerade an diesem Stöppel und in der Umgebung eine junge Frau, die an dem Wagen von einem Anlieger in der Weststraße gesehen worden war. Nur, ob die ausgestiegen war oder der Fahrer sie nur nach dem Weg gefragt hat, wissen wir wohl erst, wenn wir sie gefunden haben. Der alte Mann hatte auf der Wache angerufen und sich über einen abartigen Raser mit Porsche und Olper Kennzeichen beschwert. Als die Kollegen hier in der Wache wussten, um wen es sich bei dem Fahrer handelt, haben sie den Herrn später noch mal angerufen und etwas genauer befragt.“
„Dass er die Frau dort hingebracht hat, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, entgegnete Klaus und nahm erstmal einen richtigen Schluck aus der Kaffeetasse, die ihm Gabriel hingestellt hatte. Schwarz und stark. Für die sonst bei der Polizei üblichen Verhältnisse eine wahre Labsal. „Ich habe in Dotzlar und beim Hinterherfahren nur diesen Koloss im Auto gesehen“, erzählte er dem nachdenklich dreinschauenden Chefermittler, der mit abgespreiztem kleinem Finger einen Espresso aus einer winzigen Tasse trank.
Erst vor zwei, drei Wochen hatten sie alle auf der Wache zusammengelegt und eine wirklich gute gebrauchte Profi-Kaffeemaschine bei einem hiesigen Gastroservice erstanden. Dessen Chef spielte mit ihnen zusammen bei den Freizeit-Kickern und hatte ein Faible für die „Bullerei im Herrengarten“, wie er sie fast liebevoll nannte. Außerdem war Bernd Dickel, der Dienststellenleiter, einmal sein Fußballtrainer gewesen. So etwas kann unter Freunden schon mal zu größeren Rabattaktionen führen. Nur für die Kaffeebohnen mussten sie den normalen Preis berappen. Wieder nahm Klaiser einen Schluck dieses köstlichen Gesöffs, das ihn ein wenig auf Vordermann bringen sollte. Denn er war, trotz aller Anspannung, schon ziemlich kaputt. ‚Eine solch tolle Crema kriegen wir zuhause niemals hin‘, bedauerte er in Gedanken.
„Okay, schau‘n wir mal, was bei der Suche nach der Frau rauskommt.“ Gabriel nestelte in seiner rechten Sakkotasche herum und beförderte sein Handy heraus, das im Stakkato zu klingeln begonnen hatte. Typ „american phone“, ‚ring-ring, ring-ring’. „Ja bitte? … Ach, Bertram, grüß Dich. … Nee, noch nichts. Keine Ahnung, wo der Mann ist. … Nein, weiß ich auch nicht. Das machen die vom Ermittlungsdienst. Aber die kommen offenbar auf keinen grünen Zweig mit dem Typen. … Nee, keine Pause. Dem werden wir durchgehend Druck machen. Ich fahr‘ da gleich persönlich hin und schalte mich in die Vernehmung mit ein. Hab‘ hier noch einen Moment in Bad Berleburg zu tun. … Ja, das war ’n echter Hammer hier. Super gemacht, von allen Kollegen. Kann man nicht anders sagen. … Nein, dem geht es wieder besser, wie ich höre. Ist operiert und steckt das wohl ganz gut weg.“
Kurz darauf war das Telefonat beendet. „War Bertram Klotz aus dem Innenministerium. Die sind da ganz schön angefressen wegen dieses Scheißkerls. Deppe ist vor drei Monaten aus dem Knast in Attendorn abgehauen. Saß schon zwei Jahre wegen eines außerordentlich brutalen Überfalls auf einen Juwelier in Hagen. Dem hat er damals fast den Schädel eingeschlagen und dessen Mitarbeiterin beide Arme gebrochen. Nur, weil sie ihm den Schmuck aus dem Tresor zu langsam in einen Beutel gesteckt hatte“, ereiferte sich der SOKO-Leiter.
„Ein wahnsinnig brutaler Kerl. Wahnsinnig! Sei froh, dass Deine riskante Nummer so ausgegangen ist und die Kollegen und die Ärztin nicht noch mehr abgekriegt haben.“
Klaus kriegte rote Ohren. „Ich konnte doch bei der geplanten Überprüfung eines Verkehrsrowdies nicht ahnen, dass ich es mit einem solchen Typen zu tun habe.“
„Nach der Schießerei im Dorf aber schon, mein Lieber. Auch wenn das SEK ohne Dich wahrscheinlich noch immer ergebnislos durch die Botanik gurken würde.“ Er konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen. „Trotzdem, Klaus, das war hochgradig riskant. Mach‘ einen solchen Scheiß möglichst so schnell nicht noch mal, okay? Bin stolz auf dich, Blödmann.“
Er schaute abwechselnd auf sein Handy und auf seine Uhr. „Wird Zeit, dass ich abhaue. Ich will dem Deppe noch ein bisschen auf den Zahn fühlen. Wir müssen wissen, wo der entführte Industrielle Bernd Mönkemann ist. Und ob der überhaupt noch lebt. Es wird jetzt Nacht. Wer weiß, wo er den hingebracht hat – und in welchem Zustand.“
Da fiel Klaus ein, was der Entführer mit seiner demolierten Gosche gebrabbelt hatte, als er ihn zum ersten Mal in Berghausen festgenommen hatte. „Er hat gesagt: ‚Jetzt ist alles im Eimer‘, wenn ich mich recht erinnere.“ Und geflucht hatte er gotterbärmlich. „Für mich sah er in diesem Moment seine Felle davon schwimmen“, sinnierte der Hauptkommissar. „Ich habe mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, warum der Irre den Trucker so unter Druck gesetzt hat. Er hätte doch umdrehen und anderswo herfahren können. Aber er kannte wahrscheinlich keinen anderen Weg. Und dass er mich hinter sich überhaupt richtig wahrgenommen hat, halte ich nach seiner Reaktion in Berghausen für ausgeschlossen.“
Jörg Gabriel schabte wieder seinen grauen Schopf. „Die Geschichte wird immer komplizierter. Erst schnappt er sich den Mönkemann in Kirchhundem, wie der nach dem Zigarettenholen etwa 10.20 Uhr von einem Supermarkt auf den Parkplatz zurück kommt und zwingt ihn offenbar, von der Beifahrerseite her in den Porsche einzusteigen und auf die Fahrerseite durchzurutschen, damit er selbst einsteigen kann. Wie sich erst später herausstellte, hatten das Passanten beobachtet, der Sache aber irgendwie keine Bedeutung beigemessen. Erst am Nachmittag, als sich im Ort die Kunde von der Entführung wie ein Lauffeuer verbreitete, hatten sie der Polizei von der Beobachtung erzählt. Aber sie waren zu weit weg, um zu sehen, ob und was für eine Waffe der Mann dabei hatte.
Um 11 Uhr hätte der Unternehmer in Altenhundem beim Notar sein müssen. Kam aber nicht. Anrufe bei ihm daheim und in der Firma Fehlanzeige. Sein Handy war aus. Kurz nach 12 Uhr kam dann der Erpresseranruf. Von Deppe. Die Sekretärin des Entführten hatte Teile des Gesprächs gedankenschnell mitgeschnitten. Deppes Stimme. Später eindeutig als solche identifiziert. Er habe Mönkemann entführt und wolle eine Million Euro Lösegeld. Bis 16 Uhr – in einer Streugutkiste, mitten auf dem Parkplatz des Siegener Leimbachstadions. Begleitet natürlich von den üblichen Drohungen. Keine Polizei und so weiter.
Dann taucht der Entführer gegen 16 Uhr samt Porsche aber ohne den Unternehmer hier in, … wie heißt das?“… Gabriel schaut in seine Papiere „… ach ja, in Dotzlar, auf und vollführt ein Autorennen der Extraklasse. Mit bekanntem Ausgang. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Oder Deppe handelt nicht alleine. Trotzdem scheint das irgendwie nicht so“, erzählte der SOKO-Leiter weiter. Denn bis jetzt sei noch niemand am genannten Versteck in Siegen aufgetaucht. Ob dort Geld deponiert worden war, sagte er nicht.
„Vielleicht hat er sich von unterwegs mit jemandem in Verbindung gesetzt und den Plan geändert“, warf Klaus ein. „Er hatte allerdings kein Handy dabei, als wir ihn kurz abgeklopft haben bei der Festnahme. Und im Wagen hab‘ ich auch keins gefunden.“
„Da war aber eins. Versteckt zwischen den Polstern des Rücksitzes. Aber es wurde, wie wir mittlerweile vom Netzbetreiber wissen, seit dem Erpresseranruf um 12.03 Uhr nicht mehr benutzt und kurz danach ausgeschaltet. Um es nicht orten zu können, vermuten wir.“
Klaiser lief rot an. Mist. Da war er bei der Durchsuchung doch zu oberflächlich gewesen. Anfängerfehler. Verdammt. ‚So was darf einem nicht passieren.’
„So, ich muss wirklich weg. Wir bleiben aber in Kontakt. Morgen will ich genau wissen, welche Route der Typ hier in Eurem Beritt gefahren ist. Bevor er Dir vor die Flinte gekommen ist“, grinste er. „Ihr werdet einen Haufen Dreck fressen müssen. Wie wir alle. Aber wir müssen rauskriegen, wo Mönkemann ist. Das dürfte wohl klar sein. Seht Euch bitte im erweiterten Kreis der SOKO.“
Die beiden Männer umarmten sich kurz. „Halt‘ die Ohren steif, mein Lieber. Und grüß’ mir Bernd Dickel. Der ist noch im Krankenhaus und kümmert sich. Ich werde ihn morgen früh anrufen.“
Sprach´s und verschwand. Kurz darauf fuhr sein Wagen im Herrengarten sachte um die Kurve vor dem Kino. „Fack ju Göhte 2“ lief in dem altehrwürdigen „Capitol“, das als Programmkino durchgestartet hatte. War wohl, gemessen an der Menge der falsch an beiden Fahrbahnrändern geparkten Fahrzeuge, ein echter Publikumsrenner.
Wenig später war auch Klaus heimgefahren. Nachdem er hektographiert die Ereignisse des Tages zu einem Kurzbericht für die SOKO zusammengefasst und dorthin gemailt hatte. Mit den Kollegen auf der Wache hatte er sich darauf verständigt, alle weiteren Berichte und Formalitäten morgen zu erledigen. Er war zu platt und wollte einfach nur zu Ute. Die ziemlich aufgedreht wirkte, als er nach dem Einsatz endlich mit ihr telefonieren konnte.
Seine Frau wollte keine Einzelheiten mehr hören. Ihr reichte es, dass Klaus heil aus dem Schlamassel herausgekommen und jetzt bei ihr war. Während sie das Geschirr in die Spülmaschine räumte, telefonierte Klaus mit Heiner. Sein Kumpel war natürlich längst informiert über die Vorgänge am späten Nachmittag und am Abend. Und er hatte großes Verständnis dafür, dass der gemeinsame Fernseh-Fußballabend nun ausfallen würde. Wäre ohnehin nur eine Notlösung gewesen. Anstelle ihres Skatabends bei Ele in der „Linde“, dem ältesten Gasthaus im Dorf. Ihre Skatpartner hatten schon am Wochenende abgesagt. „Lyndi“, weil er mit seiner Frau das Berleburger Literaturpflaster besuchte. Und „Lulli“, weil er irgendwo zu einem Geburtstag eingeladen war. Und Bayern-Fan war nun wirklich keiner von ihnen. „Bayern kann jeder“, war die vorherrschende Meinung.
Ute hatte sich langsam an ihren Mann herangeschlichen und ihn von hinten liebevoll umfasst. Sie mochte seinen athletischen Körper, der nur winzig kleine Pölsterchen an den Hüften aufwies. Und sie mochte seine sonore Stimme, der sie jetzt, mit einem Ohr an seinem Brustkorb, lauschte. Hörte sich klasse an, wie sich seine „innere Stimme“ mit seinem Herzschlag mischte. Wie sehr sie ihn doch liebte, diesen gut aussehenden, intelligenten, aber leider viel zu risikobereiten Mann. Und er liebte sie.
Während er noch mit Heiner redete, fasste Klaus nach ihrer linken Hand und führte sie zum Mund, um sie mit kleinen Küssen zu überdecken. Der Freund am anderen Ende der Leitung hatte ganz schnell begriffen, was da lief und sich diskret verabschiedet. ‚Heiner ist eine Seele‘, dachte Klaus. ‚Ein richtig guter Freund halt.’
In inniger Umarmung hatten die beiden noch eine ganze Weile im Arbeitszimmer zusammengestanden, hatten herum geschmust und geturtelt. Eher unbewusst bauten sie so die innere Spannung ab, die beide noch fühlten. Und es gefiel ihnen. Der Tag war doch unerwartet hart gewesen. Und dann folgten Stunden, die die beiden atemlos und glücklich machten. Irgendwann waren sie total erschöpft eingeschlafen.
Donnerstag, 17. September
Als Klaus wach wurde, zog ein herrlicher Duft von frischem Kaffee und Toastbrot durch das sonnendurchflutete Schlafzimmer. Seine süße Frau hatte längst unter der Dusche gestanden und in einem hauchdünnen Morgenmantel das Frühstück zubereitet, das sie jetzt auf einem Tablett servierte. Ihr langes blondes Haar fiel verlockend leicht über die Schultern ihres wunderschönen Körpers, der sich unter dem Nichts aus weißer Seide abzeichnete. Sie war so topfit und durchtrainiert. Und alles an ihr war wohl proportioniert und schön. Das Bild einer Frau, die ihn jetzt auf eine harte Probe stellte.