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„Komm, lass uns schnell frühstücken. Ich habe um halb acht den ersten Patienten auf dem Behandlungstisch liegen.“
„Aber vorher ziehst Du Dir bitte noch was ordentliches an“, scherzte er. „Sonst erleidet der Mensch auf Deinem Tisch einen weiteren Schlaganfall. Und das wollen wir doch nicht riskieren.“ Beide lachten. Mit einem Blick auf den Wecker war ihm klar, dass sie wohl recht zügig frühstücken mussten. Es war zwanzig vor sieben. Und er eigentlich schon viel zu spät dran. In zwanzig Minuten hätte er zum Dienstbeginn in Berleburg sein müssen. Doch heute würde man ihm die halbe Stunde später ja wohl hoffentlich verzeihen.
Ute hatte sich schon mit ganz lieben Küssen verabschiedet und war mit ihrem weißen VW Beetle Cabrio bereits gestartet, als Klaus das Haus verließ. Seinen Dienstwagen hatte er an der Straße geparkt. Das war locker möglich. Denn sie wohnten in einer Sackgasse. Einer recht kurzen obendrein. Und als er einsteigen wollte, fiel sein Blick im Neubaugebiet „Auf dem Brunkel“ auf einen Kran, der dort gerade aufgerichtet wurde. ‚Ohne Dich hätten wir Deppe nie gekriegt’, dachte er fast in Dankbarkeit. Denn das gelbe Stahlgerippe konnte nur das sein, mit dem der LKW-Fahrer gestern so unheimliche Mühe hatte.
Als er über den Stöppel nach Berleburg fuhr, musste er an die junge Frau denken, die dort in unmittelbarer Nähe von Deppe gesehen worden war. Hatte sie zuvor wirklich in dem Porsche gesessen? Für Klaus unvorstellbar. Es sei denn, durchfuhr es ihn siedend heiß, es sei denn, sie hätte in dem Wagen gelegen. Aber warum hätte sie das machen sollen?
Die Fragen würden ihnen in diesem, seinem ersten Fall dieser Art, mit großer Sicherheit nicht ausgehen.
Hektische Aktivitäten, als er in die Wache kam. Über alle zwei Etagen Betrieb wie in einem Bienenstock. „Gut, dass Du kommst“, begrüßte ihn Bernd Dickel, als er in dessen Büro hineinschaute. „Komm rein und setz Dich“, forderte er Klaus auf. „Hier überschlagen sich die Informationen. In Siegen kommen sie mit diesem Frank Deppe nicht weiter. Der macht einfach auf stur. Und heute Nacht hat er plötzlich dermaßen viel Blut gespuckt, dass er sofort in die nächste Klinik gebracht worden ist. Da liegt er noch immer. Super schwer bewacht. Aber von Mönkemann bisher keine müde Spur. Die Fahndung nach ihm läuft intensivst. Die SOKO wird mit Euch erweitert. Aber wir kümmern uns zunächst nur um all das, was den Entführer hier nach Wittgenstein getrieben und was er hier ‚veranstaltet’ hat. Das ist mit Jörg Gabriel so abgesprochen. Grüße soll ich Dir bestellen.“
Dickel wischte sich Schweiß von der Stirn. Dabei war es gar nicht so warm. Aber Klaus hatte den Eindruck, dass der Dienststellenleiter einfach nur platt war. „Wie lange warst Du gestern noch im Einsatz?“, fragte er. „Was heißt ‚warst’? Ich bin immer noch. Hab´ mich heute Morgen bloß mit Kaffee und Ibuprofen voll gepumpt. Eigentlich sollte ich im Bett liegen. Hab‘ nämlich seit zwei Tagen schon ’ne Grippe. Die erste seit Jahren. Und das ausgerechnet jetzt.“
„Was kann ich tun, um Dir zu helfen?“ Seine Frage kam ein wenig zaghaft und deshalb für Bernd auch nicht sehr glaubwürdig. Denn beide wussten sehr genau, dass er zunächst einmal all die Vorgänge von gestern haarklein in seinem Bericht in den PC zu tippen hatte. Alle. Auch die Gründe, die ihn dazu bewogen hatten, die Verfolgung des wieder ausgekniffenen Gangsters allein und ohne Eigenschutz aufzunehmen. Nichts, was ihm Freude bereitete.
„Was Du tun kannst?“ Bernd Dickel schaute ihn mit gerunzelter Stirn an und nahm einen Schluck aus der großen Kaffeetasse mit Polizei-NRW-Emblem. „Du machst Deinen Papierkram so schnell wie möglich fertig und dann schaust Du Dich am besten mal in und in der Nähe der Weststraße in Raumland um. Es muss doch irgendjemanden geben, der außer dem Hinweisgeber diese ominöse Frau gesehen hat.
Es hat übrigens auch keiner was dagegen, wenn du Markus Schröder mal im Krankenhaus besuchst. Der hat den Schuss ins Bein richtig gut weggesteckt. Macht schon wieder auf dicke Hose“, grinste er.
„Doch bevor Du das tust, schau mal in die Zeitungen, falls du‘s noch nicht getan haben solltest. Die sind verdammt gut informiert und wissen mehr als das, was unsere Pressestelle raus gegeben hat.“
Das erledigt Klaus sofort. Beim PvD lagen alle drei Gazetten aus der Region: Westfalenpost, Westfälische Rundschau und Siegener Zeitung. Von den beiden ersten brauchte er nur in eine zu schauen. Beide hatten einen identischen Lokalteil. Und der hatte auf der ersten Seite richtig fett mit dem Fall aufgemacht. „SEK beendet Flucht eines Kidnappers unblutig“ mit der Unterzeile „Verfolgung, Schießerei und Geiselnahme in Berghausen – Kripo-Mann Held des Tages“. Dazu zwei großformatige Fotos. Eines zeigte Frank Deppe von hinten, wie er mit Handschellen von den beiden kölschen Kollegen Richtung VW-Bus geführt wurde. Und das andere zeigte den quer stehenden Porsche vor dem Kranwagen-Gespann. Vermutlich beides Handy-Fotos von Passanten.
Der Artikel war gespickt mit jeder Menge guter Informationen. Von Dotzlar bis ins Altmühlbachtal. Nichts dramatisiert, nichts aufgebauscht. Detailgetreu und sauber recherchiert. Und angereichert mit jeder Menge Insiderkenntnis. ‚Da hat mal wieder jemand von den Uniformierten das Wasser nicht halten können‘, dachte er. Nichts jedoch von der gesuchten Frau.
Seine Rolle fand er selbst ein wenig zu dick aufgetragen. Wenngleich er natürlich stolz war wie Bolle. „Quasi vor der eigenen Haustür hatte er den Gewaltverbrecher zunächst im Alleingang zur Strecke gebracht.“
‚Stimmt ja auch‘, dachte er. ‚Wenn bloß dieser extrem humanitäre Zug der Ärztin nicht gewesen und dadurch der haarsträubende Bock mit den Handschellen nicht passiert wäre. Das hätte Schmerzen und Ängste verschiedener Menschen und Ressourcen der Polizei gespart.’
Ähnliches in der Siegener Zeitung. „SEK schnappt Entführer in Berghausen“, „Kriminalkommissar Klaus K. auf der richtigen Spur“, „Kein Lebenszeichen von IT-Entwickler Mönkemann“. Die Journalisten der „Siegener“ mussten denselben Informanten gehabt haben wie die aus Berleburg. Denn die Geschichte wies ähnliche Fragmente auf. Die Fotos waren zwar etwas anders, aber aus gleicher Position gemacht. Spätestens seit Beginn des Smartphone-Zeitalters haben die Zeitungen jede Menge neuer Freier Mitarbeiter.
Was Klaus Klaiser am wichtigsten fand: alle Zeitungen hatten an exponierter Stelle nicht nur über die Entführung in Kirchhundem berichtet. Sie brachten auch eine Personenbeschreibung und eine des Fahrzeugs. Dazu ein Passfoto des Gekidnappten.
„Gesucht wird Bernd Mönkemann, 42 Jahre alt, 1,88 m groß, schlank, hellblondes zurückgekämmtes Haar, Dreitagebart. Bei der Entführung trug der IT-Entwickler einen hellgrauen Anzug mit braunem Gürtel, ein weißes Kurzarmhemd und braune Slipper. Er war unterwegs mit seinem metallicblauen Porsche Panamera, amtliches Kennzeichen OE-JJ 276, mit breiter Bereifung.“
Als Klaus Klaiser sein Büro betrat, klingelte das Telefon. Er nahm ab und hatte Jürgen, einen Kollegen von der Wache dran. „Moin Klaus. Wollte Dir nur sagen, wir hatten heute Morgen mindestens zehn Anrufe, die allesamt mit dem Entführer zu tun haben. Und in allen wurde ähnliches berichtet: ein blauer Porsche, der mit hoher Geschwindigkeit durch die Dörfer und über Landstraßen gejagt ist. Ohne Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer.“
„Hat sich denn daraus ein Profil ablesen lassen?“, wollte Klaus wissen.
„Ich denke schon“, war sich sein Gegenüber am Telefon ziemlich sicher. „Demnach ist der Wagen gegen 15 Uhr und kurz danach wenigstens viermal in Erndtebrück aufgefallen. Dort ist er wohl einfach quer über einen Verkehrskreisel gerast. Minuten später wurde er dann mehrfach in und bei Schameder, in der Nähe von Leimstruth, bei Stünzel und in Sassenhausen gesehen. Laut allen Beobachtern war übrigens immer nur eine Person im Auto.“
Lediglich eine ältere Dame habe laut Jürgen berichtet, der Porsche sei um 15.16 Uhr von Niederlaasphe her nach Bad Laasphe herein geschossen. Es war die einzige Meldung, die nicht zu den anderen passte.
„Von der Strecke her sind die übrigen Angaben aber durchaus schlüssig. Der Porsche kam ja dann auch bei Dir in Dotzlar vorbei“, sagte Polizeihauptmeister Jürgen Winter. „Das einzige, womit ich nicht klar komme ist, warum er so lange gebraucht hat, um bis zu Dir zu kommen.“
„Wie meinst Du das mit dem ‚um bis zu Dir zu kommen’? Verstehe ich nicht so richtig“, war Klaus jetzt ein wenig begriffsstutzig.
„Na ja, Du kennst doch die Strecke von Erndtebrück über Leimstruth und Stünzel bis nach Dotzlar. Dort hast Du doch den Porsche zum ersten Mal gesehen. Kurz nach 16 Uhr, wenn ich das richtig verstanden habe, ist er dann ‚bei Dir angekommen’.“
„Ach Gott, ich Hornochse“, schalt‘ sich Klaiser. „Natürlich. Jetzt weiß ich, was Du meinst. Klar. Stimmt. Das war ja fast eine Stunde von Erndtebrück bis da hin.“
„Wir haben das mal bei Google Maps nachgemessen. Das sind von Erndtebrück Ortsmitte bis Dotzlar knapp 16 Kilometer. Die hast Du bei normalem Verkehr und normaler Fahrweise in 18 Minuten gefahren“, berichtet Jürgen Winter. „Nun ist der aber allen Beschreibungen nach – und auch nach Deiner – gerast wie ein Irrer. Warum braucht er dann rund 60 Minuten für diese Strecke? Das stimmt doch vorne und hinten nicht.“ Damit hatte der Kollege recht.
„Hast Du das schon mit Bernd Dickel besprochen?“
„Klar. Die Infos haben wir auch schon alle an die SOKO weitergegeben. Jetzt sind Kollegen unterwegs, um sich mit den einzelnen Zeugen noch mal intensiver zu unterhalten.“
„Super. Ich danke Dir. Werde jetzt erst mal meine Berichte schreiben. Dann komm‘ ich runter.“
Kurz vor zehn Uhr hatte er seine Aufgabe erledigt, die Berichte wieder und wieder durchgelesen, korrigiert und schließlich ausgedruckt, unterschrieben und an den Chef, SOKO „Lenne“ und an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Als er kurz darauf nach unten zu Jürgen Winter ging, hing der gerade am Telefon. Auch der Kollege gegenüber telefonierte und schrieb eifrig mit. Soweit Klaus Klaiser verstehen konnte, kamen auf beiden Leitungen neue Infos zu dem Porsche rein. Winter winkte ihm zu, deutete ihm an, sich kurz zu setzen und warf vor Klaus zwei Aktendeckel auf den Tisch. „Schau mal rein“, flüsterte er ihm zu. „Nein, nein, ich meinte nicht Sie, erzählen Sie bitte weiter.“
Der Hauptkommissar öffnete die oberste Kladde und sah plötzlich auf Fotos zwei „alte Bekannte“ wieder. Einen links heftig angekratzten silbergrauen Ford Mondeo neuerer Bauart und einen auf der gleichen Seite ziemlich demolierten karminroten VW Passat. Die Autos, die Frank Deppe auf seiner rasenden Fahrt durch Berghausen beim Überholen touchiert hatte. Es waren mehrere Fotos aus verschiedenen Perspektiven, samt Unfallmeldungen und samt Beschwerde über einen vorbeijagenden Fahrer, offenbar Polizist, in einem Audi mit Blaulicht.
Klaus war etwas ratlos, wusste nicht, ob er da nicht doch einen Fehler gemacht hatte. Hätte er etwa stehen bleiben und sich um den Crash kümmern sollen? Aber dann wäre ihm der Porsche sicher erneut durch die Lappen gegangen. Im
Übrigen hatte er ja kurz nachgeschaut und gesehen, dass die Fahrer offenbar keine Verletzungen davon getragen hatten. Und die Wache war per Funk darüber informiert worden.
Im anderen Aktendeckel waren nur Fotos. Richtig große. Fotos vom Porsche. Auf dem Dach liegend und auf den Rädern stehend. Von allen Seiten. Nahe und Totale. Ein Bild des Jammers. Dieses schöne Auto so arg zugerichtet.
„Ja, hab‘ ich im Original schon gesehen. Sieht übel aus, der Schlitten.“ Klaus war etwas irritiert. Wusste nicht, was Jürgen mit dieser Bildershow bezwecken wollte. Als der sein Telefonat beendet hatte, kam er um den Tisch herum und nahm drei Bilder in die Hand, die die rechte Flanke des Porsche zeigten. „Schau mal genau auf den Farbabrieb, den die beiden Wagen der Länge nach hinterlassen haben. Hier ein wenig silber. Das war eindeutig der Mondeo. Und hier karminrot. Das war der Passat. Unsere Techniker haben keinerlei Zweifel, dass diese langen Striemen von den beiden Fahrzeugen stammen, die er in Berghausen abgedrängt hat.“ Bis dahin konnte Klaus den Ausführungen seines Kollegen folgen. Dann aber wurde es für ihn etwas kryptischer.
„Sieh mal hier vorne unten – am rausgezogenen Kotflügel und hier oben an der A-Säule, neben der Frontscheibe. Das ist schwarzer Gummi, der richtig mit Wucht da rein geknallt ist. Und am hinteren Kotflügel finden sich in dieser Macke hier Chromreste.“ Jürgen zeigte mit einem Kuli auf die Stelle, die aussah, als sei sie mit einer Flasche der Länge nach in das Blech gehauen worden.
„Ja – und was soll das jetzt? Das sind doch offenbar typische Unfallspuren, die er sich in Berghausen eingefangen hat. Hier an der A-Säule, das war der Spiegel von einem der beiden. Ich glaube, ich bin sogar über den drüber gefahren.“
„Eindeutiges Nein“, konterte Jürgen. „Beide haben zwar ihre Spiegel verloren. Aber die waren in Fahrzeugfarbe lackiert.
Auch das ist aktenkundig.“ Er schaute sein Gegenüber bedeutungsvoll an. „Die Jungs von der KTU sind felsenfest davon überzeugt, dass diese Spuren von einem dritten Unfall stammen. Und zwar einem, der schon v o r den anderen stattgefunden hat. Höchstwahrscheinlich mit einem Motorrad. Wahrscheinlich hat der Wahnsinnige irgendwo einen Biker von der Straße gefegt.“
Klaus Klaiser war sprachlos. „Ein Motorrad? … Wie um alles in der Welt haben sie denn das rausgefunden?“
„Eigentlich ganz einfach. Man muss nur die richtige Eingebung haben. Schau mal. Das hier vorne am Kotflügel war die Fußraste und das hier am Holm der Frontscheibe war der linke Griff des Motorradlenkers. Hinten am Kotflügel ist dann das Auspuffrohr eingeschlagen.“
„Nicht zu fassen.“ Klaus war sprachlos und dachte gleichzeitig an das arme Schwein, das da möglicherweise irgendwo in eine Wiese, einen Wald, womöglich sogar eine Böschung hinab gedrängt worden war und dort vielleicht immer noch, eventuell sogar schwer verletzt, hilflos herum lag. Das war sogar sehr wahrscheinlich. Denn Motorradunfälle waren laut Winter in den letzten 24 Stunden in ganz Südwestfalen keine gemeldet worden.
„Können wir denn ausschließen, dass der eigentliche Besitzer, also dass Bernd Mönkemann, vielleicht schon diesen Crash mit einem Motorrad hatte?“
„Offenbar schon, sagen die Kollegen. Der Wagen war gestern Morgen vor der Entführung noch in der Werkstatt. Das wäre denen dort aufgefallen, haben die den Beamten in Kirchhundem vorhin noch versichert. Vor allem auch, wenn dort der rechte Außenspiegel schon gefehlt hätte. Der ist jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo an der unbekannten Unfallstelle zu finden. In Berghausen zumindest lag er nicht rum. Dort gab es nur Fetzen von einem linken Mondeo-Spiegel.“
„So ein Mist. Das hätte mir doch auffallen müssen, wenn dem rechts der Spiegel gefehlt hätte. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern.“
Doch das kümmerte jetzt eigentlich auch niemanden mehr. Viel interessanter war zu erfahren, ob irgendwo an der Fahrstrecke des Porsche eventuell ein hilfloser, verletzter Motorradfahrer lag. Oder vielleicht sogar ein toter. Klaus erinnerte sich, dass nicht an allen Passagen der Route freier Blick ins Gelände möglich war. Und längst nicht überall waren Leitplanken entlang der Straßen.
„Wir müssen unbedingt die Streifenkollegen informieren und sie bitten, verstärkt die uns bekannte Route abzufahren und dort jeder Auffälligkeit und jeder Fahrzeugspur ins Gelände nachzugehen“, rief Klaus zu Jürgen Winter herüber, der sich schon wieder ans Telefon geklemmt hatte.
Zwei Minuten später standen sie beim PvD. Und mit ihnen der Dienststellenleiter und Corinna Lauber. Die war trotz Spätdienst schon am Morgen auf der Wache erschienen. Von wegen, „ein Fall, der mich nicht interessiert“.
„Passt auf, wir machen Folgendes“, ordnete Bernd Dickel jetzt die Lage. „Klaus und Corinna, Ihr fahrt jetzt nach Raumland und kümmert Euch um die Frau, die dort mit dem Entführer gesehen worden sein soll. Wir müssen dringend wissen, mit wem er Kontakt hatte und warum. Und wir sorgen hier dafür, dass die Kollegen verschärft nach dem vermeintlichen Motorradfahrer Ausschau halten.“
Der wunderschöne Morgen hatte einem grauen, regnerischen Vormittag Platz gemacht. Corinna hatte gebeten, fahren zu dürfen. Sie durfte. Natürlich. Klaus mochte diese nette und unkomplizierte Kollegin. Corinna war in Girkhausen geboren. Gerade einmal zehn Kilometer von Berleburg entfernt. Eine recht hübsche Ausgabe der großen Lauber-Sippe, die schwerpunktmäßig den Nordwesten Wittgensteins bevölkerte.
Corinna hatte Polizei von der Pike auf gelernt bzw. studiert. Eine der vielen „Bulletten“, wie der weibliche Nachwuchs auf der so genannten „Bullenhochschule“ in Bielefeld genannt wurde. Nichts, was Corinna jemals hätte ärgern können. Sie wusste ja, wie die Polizei in der Öffentlichkeit gesehen wurde. Auch und vor allem in ihrer Generation. „Bulle“ war da schon eine fast liebevolle Bezeichnung für die Uniformierten. Darüber ärgerte sich auch fast niemand mehr unter den Kollegen.
Nach Studium und Bachelor-Abschluss landete die Frau mit dem Einserabitur als Kommissarin schließlich bei der Schutzpolizei in Dortmund. Aber größere Städte bereiteten Corinna Unbehagen. Sie mochte mehr das Landleben und vor allem das in ihrer Heimat. Ein Phänomen, das den meisten Wittgensteinern zueigen ist. Sie bekommen Heimweh, wenn sie mal länger von zuhause fort sind. Corinna machte ihren Dienst in der Bier-Metropole zwar ganz wunderbar. Ihre Vorgesetzten und die Kollegen waren höchst beeindruckt. Aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit machte sie klar, dass Dortmund für sie keine Option für die Zukunft sei. Und bald konnten die Dienstoberen ihr den immer dringender werdenden Wunsch nach Versetzung nicht mehr abschlagen. Nur eineinhalb Jahre später war sie in Bad Berleburg. Und glücklich.
Der Audi schnurrte durch Post- und Ederstraße. Es war wenig Verkehr an diesem Donnerstag in der Berleburger Hauptstraße.
Die ersten Blätter fielen im Gunsetal bereits von den Bäumen. Nach einem extrem heißen Sommer. Es war einer der heißesten seit der Wetteraufzeichnung. Klaus musste daran denken, wie oft ihm beim Donnerstags-Freizeitkick die Zunge vor dem Hals gehangen hatte. Ihm, dem 38-jährigen Konditionswunder. Was er dabei allein in zwei Stunden an Mineralwasser verbrauchte hatte, hätte ihm sonst für zwei, drei Tage gereicht.
Er versuchte immer wieder, sich vorzustellen, wie das wohl für die Nationalfußballer bei der WM 2022 in Katar werden würde. Mittlerweile war das Turnier ja wegen der „klimatischen Besonderheiten“ auf Ende November verschoben worden. „Was für ein Schwachsinn“, murmelte der Hauptkommissar vor sich hin.
„Was ist Schwachsinn?“, wollte Corinna wissen und schaute irritiert vom Fahrersitz zu ihm rüber. Gerade waren sie beim Schulzentrum vorbei über die Straßenkuppe des Stöppel gekommen. Und über Raumland-Bahnhof hinweg eröffnete sich der Blick ins Edertal hinein und bis hinüber zum Kilbe und zur Birkefehler Höhe.
„Ach nix, hab‘ ein wenig über Fußball sinniert“, antwortete ihr Beifahrer und ergötzte sich an dem Anblick, der sich ihm bot. Gleich würde es regnen. Die Landschaft war gestochen scharf zu sehen. Ein untrügliches Zeichen für einen bevorstehenden Guss.
Und so kam es auch. Als sie links in den Stöppelsbach und gleich danach in die Weststraße einbogen, waren die ersten Tropfen auf der Frontscheibe des A5 zu sehen. „Beste Voraussetzungen für eventuelles Klinkenputzen“, lachte Corinna bitter. Aber als Wittgensteinerin war sie solches Wetter gewohnt. Und bei einer Temperatur von 22 Grad war das für hiesige Verhältnisse fast als subtropisch zu bezeichnen. „Wittjesteena Sürrelwäära“ war deutlich schlimmer.
Dann schien der Himmel förmlich zu platzen. Corinna hielt rechts an, stellte den Motor ab und den Funk etwas lauter. Der Regen prasselte heftig auf‘s Autodach.
„Solches Wetter hätten wir im Sommer öfter mal gebraucht. Jetzt ist‘s schon fast zu spät. Höchstens die Rasenbesitzer haben noch was davon.“ In ihr kam das Mädchen vom Lande durch. Ihre Eltern hatten noch immer ein paar Kühe im Stall stehen und betrieben einen kleinen Hofladen. In dem gab es in erster Linie hausgemachten Käse. Christa, ihre Mutter, hatte viele Lehrgänge besucht, um überhaupt eine Lizenz für die Erzeugung und den Verkauf zu bekommen. Und einen Haufen Umbauten hatte es daheim gegeben, um das Wagnis „Käseküche und Hofladen“ angehen zu können.
Da aber in Girkhausen jeder zweite „maurern“ kann, so auch Ernst, ihr Vater und ihr jüngster Bruder Bernd, war zumindest der Umbau der einst überdimensionierten Scheune kein Problem. Lediglich die Installationen waren zeitaufwendig und gingen richtig ins Geld. Entsprechend hoch waren daher natürlich die Erwartungen an den Verkauf der eigenen Produkte.
Doch es schien, als habe nicht nur Girkhausen, sondern ganz Wittgenstein auf die Eröffnung gewartet. Mit anderen Worten: der Hofladen wurde zu einem Riesenerfolg. Vor allem auch deshalb, weil Christa Lauber nicht nur ihre mindestens 15 verschiedenen Käsesorten anbot und das Brot, das Ernst im Backhaus neben dem Lauber-Hof selbst buk. Im Angebot waren auch die Erzeugnisse eines Metzgers und mancher Landwirte, die aus Girkhausen und der unmittelbaren Nachbarschaft kamen. „Alles vom Land – alles von hier.“ Der Slogan zog.
Der Regen hatte nachgelassen. Und blaue Streifen weiter westlich am Himmel ließen ahnen, dass auch die letzten Schauer bald vorbei sein würden. Klaus hatte sich inzwischen per Handy noch mal nach der Adresse des alten Herrn erkundigt, der tags zuvor den Porsche und die Unbekannte gesehen hatte. Wilhelm Schneider, Weststraße 4b.
Als sie dort klingelten, wurde innerhalb von Sekunden per Summer geöffnet. ‚Wir wurden also beobachtet‘, vermutete Corinna. Sie traten in einen gemütlichen und großen Hausflur, von dem eine Treppe in weitem Bogen nach oben führte. An deren oberem Ende stand ein älterer, freundlicher Mann, der Hausschuhe und eine Strickjacke über einem Pullover trug. „Kommen Sie bitte herauf. Hatte mir schon gedacht, dass da noch jemand von Ihnen die Nase zur Tür reinstecken würde. Leider bin ich ziemlich erkältet und bitte um Nachsicht, dass ich hier im Großen Polaranzug herumlaufe.“
Begeistert von der doch sehr jugendliche „Spreche“ des sicher um die 75 Lenze alten Herrn folgten die beiden Polizeibeamten fröhlich lächelnd der Aufforderung und fanden eine Etage höher ein opulent eingerichtetes Wohnzimmer, das sich nahezu über die gesamte Fläche des Hauses erstreckte. Ein heller Raum mit herrlichen Ausblicken durch riesige Fenster, die bis zum Boden reichten und nach hinten heraus den Blick frei machten ins Edertal und auf die „Niederhelle“. Nach vorn und zur Seite hatte man einen wunderbaren Überblick über alles, was sich auf der Weststraße und bei den Nachbarn so abspielte.
„Das ist mein Hochsitz“, meinte Herr Schneider grinsend, und wies auf einen modernen ledernen Drehsessel neben einem kleinen Glastisch. Dahinter ein riesiger offener Kamin – mitten im Raum. Hinter leicht verrußten Glasscheiben glimmten noch verkohlte Holzscheite vor sich hin. „Nein, im Ernst – hier sitze ich häufig, wenn die Knochen mal wieder zu weh tun und schaue entweder fern oder träume einfach ein wenig vor mich hin. Und manchmal, wenn ich mich umdrehe, gucke ich halt auch mal auf die Straße. Der Überblick ist ja genial.“
Sie hatten auf sein Bitten hin auf einer Sitzgruppe Platz genommen, sein Getränkeangebot aber dankend abgelehnt.
„Und von dem Sessel aus haben Sie auch den Porsche beobachtet?“, wollte Klaus wissen.
„Allerdings. Der Chaot hat mich nämlich mit röhrendem Motor aus meinem Dämmerschlaf gerissen. Ich hatte gerade ‚Eisbär, Giraffe und Co.’ angeschaut und war etwas eingeduselt, als der hier vorbeigedonnert kam und da drüben, drei, vier Häuser weiter, plötzlich anhielt. Ich also hoch und sehe, wie sich auf der Beifahrerseite eine junge schlanke Frau heruntergebeugt mit dem Fahrer durch die offene Beifahrertür unterhält.“
„War das ein langes Gespräch?“, wollte Corinna wissen.
„Kaum länger als eine Minute. Ich sah nur, wie die Frau immer wieder auf etwas in ihrer Hand schaute und mit dem Kopf schüttelte.“
„Was passierte dann?“
„Dann hat sie die Tür zugeschlagen und er ist … Nein. Moment.
Dann ist er weitergefahren und die Tür ist von allein zugefallen. Nee …, also ich weiß nicht mehr so genau. Irgendwie war die Sache komisch. Man hatte den Eindruck, dass es der in dem Porsche unheimlich eilig hatte. Der hat nämlich auch während des Gesprächs den Motor laufen lassen und immer wieder mal Gas gegeben.“