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Wolfgang Breuer
Ein Wittgenstein-Krimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.
Wolfgang Breuer
In aller Stille Ein Wittgenstein-Krimi
Cover: Riegel mit Schloss an einer Scheune,
Foto Wolfgang Breuer
Autorenfoto: Fotoatelier Christiane
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© Sommer 2017
Impressum
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eISBN 978-3-96136-014-7
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Inhalt
Mittwoch, 15. Juli
Donnerstag, 16. Juli
Freitag, 17. Juli
Samstag, 18. Juli
Sonntag, 19. Juli
Montag, 20. Juli
Mittwoch, 15. Juli
„Booooaaaah, was ist denn das für ein abartiger Gestank hier?“ Der Prinz war gerade in den Ökonomiehof von Schloss Berleburg gefahren und aus seinem Offroader geklettert, als er eine richtige Ladung dieser penetranten Widerwärtigkeit einatmete. „Das ist ja grausam!“ Der Mann in den lässigen Outdoorklamotten rümpfte die Nase und schnüffelte vorsichtig in alle Himmelsrichtungen. Seine drei Hunde taten es ihm gleich. Gerade noch waren sie wie abgezogene Flitzbögen hinter dem Adligen her aus dem Geländewagen gesprungen. Aber jetzt standen sie da, als hätte ihnen jemand verdorbenes Fleisch vorgeworfen. Mit fast angewidertem Gesichtsausdruck. Die Lefzen herunterhängend, schnupperten sie diesen süßlich-fauligen Geruch, der die Luft an diesem heißen Mittag schwängerte.
„Das ist ja nicht auszuhalten, Krämer. Seit wann mieft das denn hier so unglaublich?“ Prinz Gustav hatte sich zum Ökonomieverwalter umgedreht, der mit todunglücklichem Gesicht aus seinem Büro gekommen war. „Keine Ahnung, Prinz. Ich … ich weiß auch nicht“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Heute Morgen war das noch nicht. Ich … ich glaube, das ging erst so am späten Vormittag los. Und dann wurde es von Minute zu Minute schlimmer. Wir haben schon überall nachgeschaut. Geguckt, ob irgendwo einer der Hunde vielleicht was rangeschleppt hat. Ein gerissenes Kaninchen oder so. Aber da ist nichts. Die Wildkammern sind absolut sauber. Die Lagerscheunen auch. Und nirgendwo eine tote Katze oder ein Kadaver von irgendwas. Da ist nix. Ich weiß es wirklich nicht, tut mir leid.“ Dem Manne war fast zum Heulen zumute. Und zum Kotzen. Aber das sagte er dem jungen Schlossherrn natürlich nicht.
Dabei ging es dem nicht anders. Gustav, Prinz zu Sayn-Wittgenstein -Berleburg musste gegen Würgereize kämpfen, behielt aber die Contenance. „Ja, kommen Sie, bleiben Sie um Gottes Willen ruhig. Ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf. Wer weiß, wo das herkommt. Vielleicht aus der Kanalisation.“
„Nein, Prinz. Daher kommt das nicht. Das haben wir schon überprüft. Aus den Gullideckeln riecht es fast medizinisch im Vergleich zu diesem … diesem Mist hier. Entschuldigung.“
„Wissen Sie was, wir gehen mal rüber zu Röhl und fragen, ob der uns einen Schluck aus der Edelschnapspulle für Gäste genehmigt. Das macht die Atemwege wieder frei. Und dann schauen wir mal gemeinsam, was wir tun können.“
Prinz Gustav stieß einen spitzen Pfiff aus. Und schon tummelten sich die drei Rassehunde um seine Beine. Während er aus dem Hof herausging und über die Straße zum Eingang des Schlossgartens wechselte.
„Ccccchhhhbrrrr“, kam es aus dem Geviert vor der Orangerie. Digby, das Lieblingspferd von Prinzessin Nathalie, Gustavs Schwester, querte gerade in einer perfekten Transversale diagonal über den Dressurplatz. Unterstützt durch leichtes Schnalzen seiner Reiterin. Die beiden hatten´s drauf. Hatten die Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen in Peking geholt. Sie mussten keinem mehr etwas beweisen. Trotzdem, ohne Training geht gar nichts.
Als sie ihren Bruder sah, brach Nathalie allerdings das Programm ab und kam im leichten Trab herüber zu ihm und Rainer Krämer. Tätschelnd animierte sie das mächtige Tier zum Anhalten. „Sag mal, habt Ihr das auch gerochen? Das ist ja furchtbar, wie es da drüben in der Parkstraße riecht. Was ist denn das?“
„Kandierter Wallach in Senfsoße – etwas überlagert“, grinste der Prinz und hob gleich schützend die Hände über sich. Nathalie spielte die Angewiderte und warf den Kopf zur Seite.
„Nein, nein, im Ernst. Wir haben keine Ahnung. Vom Ökonomiehof kommt es zumindest nicht. Herr Krämer und die Leute haben alles kontrolliert. Die können sich auch keinen Reim darauf machen.“ Krämer zuckte zur Bestätigung abermals mit den Schultern. „Aber wir wollen mal eben rüber zu Herrn Röhl. Womöglich hat der eine Ahnung.“
„Könnt Ihr Euch sparen. Da kommt er schon“, meinte sie. Nathalie hatte sich aufgerichtet und dem Leiter der fürstlichen Rentkammer zugewunken, der zügigen Schrittes auf dem Weg entlang der Schlossmauer unterwegs in Richtung Parkausgang war. Doch der Forstdirektor zeigte nur mit ausgestrecktem Arm nach vorn und rief: „Wäre schön, wenn Sie mitkommen könnten, Prinz. Und Sie auch, Krämer. Wir müssen drüben bei den Nachbarn mal was nachschauen. Die haben ein riesiges Problem.“
Sein dynamischer Gang erlahmte allerdings schlagartig. Wild kramte Röhl plötzlich ein Taschentuch aus einer seiner Hosentaschen und presste es augenblicklich auf Mund und Nase. Dabei fuhr er herum und starrte zu den dreien am Dressurplatz herüber. „Mann Gottes“, stöhnte er, „was ist das denn?“ Sekunden später wurde auch die Gruppe mit Pferd von dem süßlichen Faulgeruch umhüllt. Ein sachter Windhauch hatte ihn herangetragen. Prinzessin Nathalie sprang vom Pferd und würgte in die rechte Armbeuge.
„Kommen Sie bitte, kommen Sie“, rief Röhl durchs Taschentuch und verschwand durch das Tor des Schlossgartens.
Die Parkstraße war wie leergefegt. Keine Passanten unterwegs. Nur hin und wieder kam ein Auto vorbei. Lediglich vor dem Café „Anno Dazumal“ hatte sich eine kleine Personengruppe zusammengefunden. Nachbarn. Und zwei Männer in Orange mit einem ebensolchen Pickup. Sie hatten Atemschutzmasken in der Hand. Offenbar Mitarbeiter der Stadtwerke, die wohl bereit waren, dem Übel auf den Grund zu gehen. Das mussten sie auch, denn der Café-Besitzer, Michael Kirchhof, hatte richtig Druck gemacht. Eigentlich war das kleine Lokal um diese Zeit immer gut frequentiert. Doch jetzt fanden sich weder drinnen noch draußen irgendwelche Gäste.
Die Maskenmänner verschwanden zwischen Hotel und Café. Begleitet von einem der Rompel-Brüder, die zuvor mit in der Gruppe gestanden hatten. Die beiden Unternehmer hatten vor einiger Zeit das Kurhotel „Wittgensteiner Hof“ gekauft. Seit Jahren war dieses einst renommierte Haus geschlossen. Und noch war nicht klar, ob das altehrwürdige Haus umgebaut oder durch einen Neubau ersetzt werden sollte. „Wir haben neulich noch jeden einzelnen Raum inspiziert, vom Keller bis zum Dachboden“, berichtete Kai Rompel. „Da ist nichts drin, was einen solchen Gestank provozieren könnte. Und in das Haus kommt auch nicht die kleinste Maus rein. Alles dicht.“
„Haja, aber von Euch da drüben kommt der Geruch doch“, ereiferte sich der Nachbar. „Eindeutig. Oder vom Ökonomiehof.“
„Nee, nee“, rief Prinz Gustav, der mittlerweile auch eingetroffen war. „Bei uns ist absolut nichts. Alles inspiziert, alles sauber. Aber der Gestank ist tatsächlich bestialisch. Ich würde jedoch auch eher sagen, dass der Grund dafür dort unten liegt.“ Er zeigte in die Gasse, in der das Trio verschwunden war. „Wäre das weiter drüben bei uns, könnte die Ostluft an dieser Stelle hier nicht einen solch infernalischen Mief verbreiten.“ Wieder trieb eine leichte Böe den Hang hinauf und provozierte die Anwesenden zu allen möglichen Ausweichbewegungen.
Schwer lastete die für Wittgensteiner Verhältnisse ungewöhnliche Hitze auf der Szenerie, in der sich die Männer ratlos ansahen. Johannes Röhl schnupperte mit angewidertem Blick. „Ich habe einen solchen Geruch schon einmal erlebt“, sagte er. „Dieses fiese Süßliche darin kriegt man nicht mehr aus der Nase. Im Teutoburger Wald war das. Damals wurde dort ein seit Monaten vermisster …“
Weiter kam er nicht. Denn in diesem Moment tauchte Uwe Rompel zwischen den Häusern wieder auf und schrie wie irre. „Um Gottes Willen, lieber Gott im Himmel, wie ist denn so was möglich.“ Das pure Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dann drehte er ab und kämpfte sehr mit seinem Mageninhalt.
Johannes Röhl wollte nachschauen, was den Mann so entsetzt hatte. Doch da fing sich der Geschockte ein wenig, griff nach des Forstrats Arm und rief: „Nicht. Geh´ nicht runter. Das ist ganz furchtbar. Wir müssen sofort die Polizei rufen.“
In diesem Moment kamen auch die beiden Mitarbeiter der Stadtwerke und rissen sich die Gasmasken vom Gesicht. Einer würgte. „Oh Leute, das ist ja Wahnsinn. So was habe ich noch nicht gesehen. Und ich wünschte, ich hätte es auch nicht gesehen.“
„Ja was ist denn da unten passiert?“ Der Café-Besitzer schob sich nahe an den Mann heran und schaute ihm tief in die Augen. „Ihr tut ja gerade so, als wäre Euch der Leibhaftige begegnet. Was ist denn da unten? Was stinkt denn da so bestialisch?“
„Es ist nicht die Frage, was da stinkt, sondern wer“, brachte der Mann stockend hervor. ‚Jonas Kreidel’ stand auf dem Namensschild seines Overalls.
„Was heißt das, Herr Kreidel? Wer stinkt?“
„Ein Mensch! Eine Leiche stinkt dort, Herr Kirchhof. Eine stark verweste Leiche, verdammt noch mal! Und jetzt lassen Sie mich bitte einen Moment in Ruhe.“
Kreidel drehte ab, dem Kaffeehausbesitzer verschlug es die Sprache. Seine Augen weiteten sich. Dann griff er sich an die Brust. Man hatte den Eindruck, die Nachricht sei geeignet, Herzflimmern bei ihm auszulösen. Aber er setzte sich nur mit leerem Blick auf einen der leeren Stühle vor seinem leeren Café und nahm einen Schluck Mineralwasser.
Im Hintergrund vernahm man energisches Reden. Johannes Röhl hatte, etwas abseitsstehend, zum Smartphone gegriffen und den Polizei-Notruf angewählt. „Natürlich werden Sie eine Spurensicherung brauchen. … Woher ich das weiß? Jetzt stellen Sie bitte nicht so seltsame Fragen. Hier liegt ein halb verwester Mensch herum, sagen die Männer, die ihn gefunden haben. Da werden sie wohl kaum die Verkehrspolizei mit Putzlappen und Schaufel vorbeischicken, nehme ich an. … Wie bitte? Ja, genau. … Ja, der bin ich. … Okay. Natürlich, wir warten hier.“
„Unglaublich, wirklich unglaublich“, murmelte er vor sich hin, als er das Smartphone wieder wegsteckte. „Da hätte ich doch besser gleich hier auf der Wache in Berleburg angerufen. Da kennt man die Leute wenigstens. Der Mensch am zentralen Notruf hat gedacht, ich würde ihn auf den Arm nehmen.“
Wenig später wurde es laut unten in der Stadt. Polizeisirenen. Erst eine, dann zwei oder drei, sendeten ihre enervierenden Töne durch das Tal der Odeborn. Hausfronten reflektierten den sich überschlagenden Klang-Wirrwarr und ließen die Oberstadt mithören.
„Das gibt es überhaupt nicht. Wie der Mann daliegt. Das ist unglaublich.“ Jonas Kreidel berichtete mit bleichem Gesicht von der entsetzlichen Entdeckung, die sie im Hang am Rainchen gemacht hatten. Direkt unterhalb des alten Hotels, an einem Zaun. „Die Leiche muss die ganze Zeit über in einem Plastiksack gesteckt haben. Und der Sack ist wohl jetzt erst geplatzt oder aufgerissen. Vermute ich jedenfalls. Mann, das ist so furchtbar da unten.“
Seine Zuhörer schauderte es ordentlich. Zumal gerade wieder ein Windstoß den Hang hinauf neuen Fäulnisgeruch verbreitete.
„Was meinen Sie, wie lange der Mann schon tot ist?“ Kriminalhauptkommissar Klaus Klaiser hatte sich gerade der Plastiküberschuhe entledigt und auf einen der Stühle vor dem Café gesetzt. Ihm gegenüber saß, im weißen Ganzkörperkondom, Dr. Julius Kölblin vom Rechtsmedizinischen Institut. „Ich habe im Moment nicht die geringste Ahnung. Dazu müssen wir deutlich mehr von dem Leichnam sehen und untersuchen. Bisher kann ich Ihnen nur sagen, dass der Mann eventuell an einer Schnittverletzung am Hals gestorben ist. Aber auch das nur ganz vage. Weil das in diesem, verzeihen Sie, verwesenden Haut- und Gewebematsch vor Ort nicht eindeutig zu erkennen war.“
„Oh, das ist wirklich nicht viel“, entgegnete Klaiser. Der Anblick des Toten hatte ihm unglaublich zugesetzt. „Ich nehme an, es wird eine Zeit dauern, bis Sie klarer sehen“, fügte er an. Der andere nickte. „Das bringt uns natürlich gewaltig unter Druck.“
„Ist mir schon klar. Aber ich kann es wirklich nicht ändern. Wir werden hier vor Ort auch nichts weiter an der Leiche unternehmen. Um nicht etwa Gefahr zu laufen, dass uns irgendwelche Spuren oder Hinweise verloren gehen.“
„Ja, ja, verstehe“, sagte Klaiser, halb abwesend. Er überlegte gerade, wie er die Suche nach der Identität eines Mannes in Gang bringen könnte, ohne auch nur den Ansatz einer Information zur Person zu haben. Schwarzes Haar hatte der Tote. Das war im aufgefallen. Mehr hatte er nicht erkennen können – und auch nicht wollen.
„Warum sich allerdings der Mann, der, ich schätze mal, zwischen Mitte 30 und Anfang 40 Jahre alt gewesen sein dürfte, in diesem Zustand befindet, dazu kann ich Ihnen einiges mehr sagen“, holte ihn der Rechtsmediziner wieder zurück. Der Hauptkommissar schreckte richtiggehend hoch. „Ja? Und warum?“
„Sehen Sie. Der oder die Täter haben den Leichnam mehr oder weniger zusammengefaltet, ihn in diesen Sack aus Kunststoffgewebe gesteckt und regelrecht eingeschweißt. Anders kann man es gar nicht bezeichnen. Damit war so etwas wie Luftdichtigkeit hergestellt. Weil aber unter den hohen Temperaturen der vergangenen Tage die Verwesung zügig voranschritt, sich Faulgase noch und nöcher gebildet haben und der Druck innen anstieg, muss der Sack irgendwann geplatzt sein. Wahrscheinlich heute Vormittag. Kurz darauf wurde der Gestank das erste Mal in der Nachbarschaft der Fundstelle wahrgenommen.“
Klaiser schüttelte sich unweigerlich. Nicht nur wegen der Schlussfolgerungen des Pathologen. Die Bilder vom Fundort schossen ihm immer wieder durch den Kopf. Der junge Kripobeamte hatte zwar schon einige Leichen gesehen. Vor allem bei seinem vorherigen Job im Münsterland. Diese hier aber war mit Abstand die Entstellteste von allen. Es war einfach nur grausig anzusehen, dieses schmierige, nackte Knäuel, das einmal ein Mensch gewesen war.
Für die Bergung der sterblichen Überreste hatten die Männer von der Rechtsmedizin einen luftdicht verschließbaren Spezialbehälter eingesetzt. Ein einfacher Zinksarg hätte weder die förmlich zusammengeklappte Leiche aufnehmen, noch die erforderliche Geruchsdichte garantieren können. Der Spezialbehälter allerdings wirkte Wunder. Der widerwärtige Geruch war fast wie weggeblasen.
Während die Männer in den weißen Anzügen den Behälter durch die Gasse zwischen Hotel und Café nach oben brachten und in ihren Transporter verluden, war die Parkstraße weiträumig abgesperrt. Und das erwies sich auch als dringend nötig. Denn es hatten sich genügend Neugierige eingefunden. Gaffer! Aufmerksam geworden durch das massive Polizeiaufgebot in der Berleburger Oberstadt.
Natürlich machten dort bereits die ersten Gerüchte die Runde. Vom Mord unter Asylbewerbern bis hin zur Horrorvision eines Touristen aus Kopenhagen, der fürchtete, es habe einen Anschlag auf ein Mitglied der Fürstlichen Familie gegeben. Schließlich habe er beobachtet, dass ein aufgeregter Prinz Gustav von Polizeibeamten umringt gewesen sei. Er wähnte darin eine Art Personenschutz für den Mann, dessen Mutter immerhin die Schwester der dänischen Königin ist.
Die Polizeibeamten an den Absperrungen konnten einem leid tun. Denn sie wussten weder konkret, was dort vorne vorgefallen war, noch hätten sie es den Leuten sagen dürfen. Auch nicht dem freien Journalisten Clemens Finger aus dem Ruhrgebiet, der mit seiner Fotokamera ganze Bilderserien machte und immer wieder versuchte, in bessere Schussposition zu kommen.
Christian Retter hatte sich da eine bessere Stelle ausgesucht. Weiß der Himmel, woher der Lokalreporter die eher detaillierte Info über den Tatort hatte. Jedenfalls war er von der Unterstadt her den steilen Hang des Schlossbergs hinaufgeklettert und hatte mit dem Teleobjektiv die Bergung des bedauernswerten Mannes im Plastiksack fotografiert. Ihm drehte sich gerade der Magen um, als er wieder unten auf der Straße stand und die Fotos im Display seiner Kamera kontrollierte. Da würde er einiges „verpixeln“ müssen.
Der hagere Mann an der Pommesbude in der Limburgstraße hatte es eilig, seine Currywurst und die Fritten mit Ketchup und Majo zu verdrücken. Ständig schaute er abwechselnd auf seine Armbanduhr und auf sein Handy, das er vor sich auf den Bistrotisch gelegt hatte. Er war wohl einer der fünf, sechs Trucker, die hier noch einen Happen aßen, um sich für die nächsten Stunden auf ihrem Bock zu stärken. Schon allein der Weg raus aus Wittgenstein war eine Aufgabe für sich. So schön dieser Flecken Erde auch ist, so miserabel ist er an das Fernstraßennetz angebunden. Von Berleburg bis zur nächsten Autobahn mit dem Lastzug mindestens eineinhalb Stunden. Und dann muss man verdammt viel Glück haben, auf den wenigen Bundesstraßen dort hin, die streckenweise diesen Namen nicht mal verdient hatten. Aufgereiht hinter einander harrten ihre Brummis auf dem Parkstreifen dieser Herausforderung.
Wieder schaute der Mann angespannt auf die Uhr und schaufelte die letzten Kartoffelstäbchen in sich hinein. Er schien richtig Druck zu haben. Schweiß rann über jede seiner erkennbaren Hautpartien. Und das offenbar nicht erst neuerdings. Er müffelte, als habe er seit Tagen weder eine Dusche gesehen, noch frische Wäsche.
Plötzlich entspannten sich seine Gesichtszüge. Es hatte leise „kling“ gemacht. Auf seinem Smartphone war eine WhatsApp angekommen, die er wohl sehnlich erwartet hatte. Sofort öffnete er sie. Dann grinste er wie ein Honigkuchenpferd. Es schien ihm zu gefallen, was er dort sah.
Schnell schmiss der Hagere die Pappschalen in den Abfallkorb und wandte sich zum Gehen. Da rief der Pommeskocher: „Hey, Du müsstest noch zahlen.“ Der Mann zeigte keine Reaktion, kramte in der Hosentasche nach irgendetwas und wandte sich ab. Da kam plötzlich aus dem Knäuel dreier zusammenstehender und mampfender Fernfahrer ein mächtiger Arm hervorgeschossen. Die Riesenpranke am vorderen Ende griff den Hemdkragen des Davonstrebenden und zerrte kurz daran. „Trzeba zaplacic´ za!“ Eine ziemlich perfekte Übersetzung der Zahlungsaufforderung ins Polnische.
Mit ungeheurer Geschwindigkeit schoss der klapperdürre Kutscher herum und hielt dem schrankbreiten Berufskollegen ein spitzes Klappmesser unter die Nase. Was den wiederum dazu veranlasste, sofort seine Mordspfote zurück zu ziehen. „Is’ ja gut, is’ ja gut“, beschwichtigte er und hielt seine Handflächen wie kleine Bratpfannen nach außen. Ein Schutzmechanismus, der keine Fragen offen ließ. Auch die Danebenstehenden bevorzugten die Passiv-Variante und murmelten alles mögliche in ihre nicht vorhandenen Bärte.
Hannes Schöler, der Mann hinterm Grill, stand da wie angewurzelt. Mit offenem Mund und entsetztem Blick beobachtete er, was seine Kundschaft da so veranstaltete und wollte gerade in Deckung gehen, als ihm der aggressive Hungerhaken einen zusammen geknüllten Zehneuroschein über die Theke fast ins Gesicht warf und rief: „Is gutt so. Chab ich vargässen. T´schuldigung.“ Verstohlen nestelte Hannes das aufgefangene Geld auseinander und wisperte tonlos: „Is´ okay … Danke. Gute Fahrt.“
Dann war der Mann auf der Straßenseite, entlang der Schlange stehenden Trucks, verschwunden. Neugierig hielten die Zurückgebliebenen Ausschau nach dem Gespann, das der „vermutliche Pole“ dort heraussteuern würde. Aber es passierte nichts. Minutenlang nur vorbeifahrende Autos oder neue Hungrige an der Pommesbude.
„Was war´n das, was Du dem da vorhin hinterhergerufen hast?“, wollte ein nicht gerader baumlanger Trucker von dem Hünen wissen.
„’Du musst noch bezahlen’ auf Polnisch.“
„Aha. Woher kannst´n das?“
„Ach, Junge. Zweimal die Woche Berleburg – Krakau. Und das seit fast vier Jahren. Da hast Du das drauf, sag´ ich Dir.“
„Ja, und wo ist er jetzt hin?“
„Keine Ahnung. Der hat ja nix gesagt. Und ich weiß ja noch nicht mal, ob er mich überhaupt verstanden hat. Ist mir auch egal. Eigentlich müsste ich ihn anzeigen, wegen der Sache mit dem Messer. Aber ich glaub´, das lass´ich.“
„Wieso denn das?“ Der dritte Mann der Runde schaltete sich ein. „Der war doch drauf und dran dich abzustechen.“
„Ich denke, der hatte Angst, dass ich ihm die Luft abdrehe mit dem Kragen. Deshalb ist der ausgerastet.“
„Ja, ja. Kann sein. Aber hast Du Dich nicht gefragt, warum der gleich so´n Messer in der Hand hatte?“
„Meinste, der hätte mit ’nem Taschenmesser ’ne Chance gegen mich gehabt?“, grinste der Hüne. „Außerdem habe ich keine Lust auf Polizei und auf blöde Fragen. Krakau wartet, Jungs. Ich pack´s mal. Macht´s gut.“ Sprach´s, zahlte schnell und verschwand. Zwei Minuten später zog sein Fünfachser aus der Parkreihe heraus und glitt röhrend vorbei. Beladen mit Elastiksportböden aus Bad Berleburg, wie die Planenaufschrift verriet.
„Ja, okay, dann hau´ ich jetzt auch ab. Muss noch nach Aachen heute und bis 23 Uhr abgeladen haben. Scheiß A4 da hinter Köln. Eine Baustelle nach der anderen. Und morgen dann nach Antwerpen und sofort retour. Ochsentour, verdammte“, raunte der 1,68-Mann und machte sich ebenfalls ans Bezahlen. Er musste jedoch noch einen Moment warten. Weil jemand vor ihm gerade offenbar die Bestellung für ein Konzern-Abendessen aufzugeben schien. Hannes bat um Geduld.
„Buff“, machte es ziemlich fies jenseits des zweiten Trucks auf der Limburgstraße. Gefolgt von dem Geräusch blockierender Räder. Dann Stille. Fünf Sekunden ganz hässliche Stille. Und dann ein hysterischer Frauenschrei, der nicht mehr enden wollte. Entsetzt rannten alle Gäste des Imbisses gleichzeitig zur vermeintlichen Unfallstelle.
Auf der Fahrbahn links ein weißes BMW-Cabriolet mit offenem Dach, demolierter Frontscheibe und beträchtlicher Delle in der Motorhaube. In der offenen Fahrertür eine schlanke Mitvierzigerin in elegantem Sommerkostüm und auf offenen roten High Heels. Vorstandssekretärin mindestens. Und, gemessen an der Höhe ihres Schreis, leistungsfähige „Sopranette“. Sie war gerade verstummt, als die Armada der Neugierigen und Hilfsbereiten um das Führerhaus des ersten Lastzugs herum auftauchte.
Etwa fünf Meter vor dem BMW liegend ein eigentümlich verrenkter Männerkörper. Reglos und blutend aus allen Knopflöchern. Sofort beugten sich gleich zwei Männer über den Bedauernswerten, der jetzt von einem der beiden ganz langsam von der Bauch- in eine Seitenlage gedreht wurde. Der andere versuchte, den Puls zu ertasten. Mit nachdenklicher Miene und immer wieder mit dem Tastfinger am Handgelenk rauf und runterfahrend. Ein dritter Mann brachte einen Verbandkasten heran und telefonierte parallel mit der Rettungsleitstelle. „Limburgstraße heißt das hier. Direkt vor einem Schnellimbiss. … Ja, sehr schwer verletzt.“
„Ist er tot?“ Die brünette BMW-Fahrerin fragte zaghaft nach und kam näher. Der Mann am Puls hörte sie offenbar nicht, suchte jetzt an der Halsschlagader. „Ist der Mann tot? Sagen Sie doch was!“