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„Nein“, der Gesichtsausdruck des Ersthelfers hellte sich auf. „Nein, ich fühle Puls“, rief er euphorisch. „Und der Mann atmet.“
„Oh Gott, bin ich froh. Bin ich froh. Ich dachte schon …“, dann stockte sie und begann leise zu weinen. Passanten stützten die plötzlich Zitternde und führten sie zu ihrem Wagen, damit sie sich setzen sollte. Und Hannes, der kreidebleich seinen Pommeswagen verlassen hatte, reichte ihr eine Flasche Mineralwasser. „Trink was, Jule. Trink. Ich kann Dir auch einen Schnaps holen, wenn Du willst.“
Aber Jule Homrighausen winkte ab, schniefte in ein Taschentuch und schaute sofort wieder herüber zu dem Mann auf der Straße, der gerade auf eine Notfalldecke und ein Kissen gebettet worden war. Abermals dröhnten Martinshörner in der Odebornstadt.
„Der ist mir einfach auf die Haube geflogen. Unglaublich. Auf einmal kam er angeflogen.“ Die BMW-Fahrerin berichtete mit weit aufgerissenen Augen von einem Erlebnis, das keiner so recht glauben mochte.
„Er kam angeflogen?“ Jule musste einen gewaltigen Schock abbekommen haben. Da war sich Hannes sicher.
Er kannte die Frau von Kindesbeinen an, war gemeinsam mit ihr zur Schule gegangen. Bis zur Mittleren Reife. Dann war sie in eine kaufmännische Ausbildung eingestiegen. Er hatte noch das Fachabitur nachgelegt, wollte Sozialpädagoge werden. Damit war er allerdings grandios gescheitert, drohte gar total abzurutschen. Nach Jahren der Um- und Neuorientierung und mindestens einem Dutzend unterschiedlichster Jobs, hatte er schließlich die zündende und gleichermaßen lukrative Idee vom Schnellimbiss, an dieser Entlastungsstraße der B 480. Seine Eltern hatten ihm Wagen und Ausstattung finanziert. Keine sonderlich belastende Hypothek. Denn der Imbisswagen wurde zum Selbstläufer.
Der erste Rettungswagen traf ein. Und kurz darauf der Wagen mit dem Notarzt. Eilig machten sich die Besatzungen daran, den Schwerverletzten auf der Straße grob zu untersuchen, zu intubieren, Infusionen und EKG-Elektroden zu legen und ihm eine Halskrause zu verpassen. Mit äußerster Vorsicht betteten sie den Mann auf eine Art aufgeblasene Unterlage, aus der augenblicklich die Luft abgelassen wurde. So passte sich das Teil der Körperform an, was den Transport bei eventuellen Wirbelsäulenverletzungen bedeutend risikoärmer und für den Verletzten erträglicher machte.
Hannes Schöler hatte ihn längst erkannt. Trotz seiner blutenden Wunden. Der Mann auf der Trage war der vermeintliche Pole, der vor seinem Imbiss mit dem Messer gedroht hatte. ‚Mein Gott, hat es den übel erwischt’, ging es ihm durch den Kopf. ‚Aber wo war der Mann, nachdem er den Imbiss verlassen hatte? Und von woher kam er „geflogen?“’ Vergeblich versuchte er, etwas von den Gesprächen des Rettungsteams mitzubekommen. Er wollte etwas über den Zustand des nach wie vor Regungslosen wissen, der jetzt in den Krankentransporter gehievt wurde. Dann schloss sich die Tür des rot-weißen DRK-Wagens hinter den Helfern.
Schon hörte man das nächste Martinshorn. Ein Polizeifahrzeug kam zügig heran, ein weiteres positionierte sich an der Odebornbrücke vor der Gunsetal. Die Limburgstraße wurde gesperrt, der Verkehr nach oben über die Ederstraße umgeleitet. Am anderen Ende an der Emil-Wolf-Straße hatten sie wohl ähnliches gemacht. Außer einem zweiten Rettungswagen kam nämlich von dort nichts mehr.
Während Frau Homrighausen behutsam zum anderen Sanka geführt wurde, versuchten zwei Polizisten, sich ein Bild von dem Unfall zu machen. Doch niemand der Umherstehenden hatte den Polen beobachtet. Keiner war auffindbar, der zur Wahrheitsfindung hätte beitragen können.
„Die Fahrerin sagt, er sei einfach angeflogen gekommen und auf ihr Auto gekracht.“ Hannes hatte sich sachte an die Beamten heran geschoben und sein Wissen preisgegeben, um sie nicht ganz ahnungslos zu lassen. Denn aus den Krankenwagen war ja zunächst nichts zu erfahren. Auch für die Männer in blau nicht.
„Ja wie …, kam einfach angeflogen. Was meinte sie denn damit?“ Polizeihauptmeister Jürgen Winter hatte bei seiner Frage den Kopf etwas schief gehalten und schaute eher ungläubig aus der Dienstwäsche. Polizeiobermeister Pattrick Born nicht minder. „Will sie damit etwa sagen, dass ihr der Mann von der Seite her auf die Haube gesprungen ist? Kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Im Übrigen gibt es bestimmt sicherere Arten sich umzubringen.“
„Ich habe nicht die mindeste Ahnung, was Frau Homrighausen damit sagen wollte. Sie zeigte sich nur völlig entsetzt über das Geschehene. Wir hatten auch keine Gelegenheit, ausführlicher darüber zu reden.“
„Aha, Homrighausen heißt die Dame. Kennen Sie auch ihren Vornamen?“
„Na klar. Jule …, genauer gesagt Juliane. Geboren irgendwann im Juli 1969.“
„Prima, danke. Sie kennen die Frau offenbar näher.“
„Nicht näher. Aber schon länger. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“
Der Pommeskocher ließ seine Blicke wandern und blieb dabei schließlich an der demolierten BMW-Haube kleben. „Wissen Sie was?!? Wenn ich mir das hier anschaue, dann muss der Pole tatsächlich geflogen gekommen sein. Aber nicht von der Seite, sondern von schräg oben.“
„Wie kommen Sie denn darauf“, wollte Winter wissen. „Und woher wissen Sie, dass der Mann Pole ist?“
„Also, das mit der Nationalität war die Vermutung eines Fernfahrers, mit dem der da drin – er zeigte mit seinem rechten Daumen über die Schulter Richtung Notarztwagen – aneinander geraten war. Weil der Mann bei mir nicht bezahlt hatte, rief er ihm auf Polnisch nach, dass er mir noch Geld schulde. Und der hat tatsächlich reagiert. Auf meine Aufforderung in Deutsch vorher nämlich nicht.“
„Und warum sind die beiden aneinander geraten?“
„Naja, der Frank Drescher, so heißt der Trucker, hatte ihn von hinten ein wenig heftig am Hemdkragen gezupft. Darauf hin hat der …, der ääääh Pole, sein Messer gezogen und den Drescher bedroht. Ist aber nix passiert. Und gezahlt hat er schließlich auch. Sogar mit sattem Trinkgeld“, grinste Schöler die beiden Polizeibeamten an.
Pattrick Born machte sich unentwegt Notizen in ein kleines DIN-A6-Blöckchen und sah dabei ein wenig aus wie der amerikanische Schmuddelkommissar Columbo. Nicht etwa, weil er ebenfalls in vergammeltem Trenchcoat und verstrubbeltem Haar in der Gegend herumlaufen würde. Nein, er hielt nur Block und Stift in ähnlicher Manier, lächelte dabei stets nett und hatte einen ähnlich leichten Silberblick wie der US-Fernsehkollege.
„Wo ist denn der Drescher jetzt?“ Jürgen Winter hatte das gefragt und sich dabei über die Kühlerhaube des Unfallwagens gebeugt.
„Auf dem Weg nach Krakau – mit seinem Truck. Vielleicht ’ne Viertelstunde, eher 20 Minuten weg.“
„Haben Sie zufällig eine Handynummer von ihm?“
„Nein. Aber ich kann Ihnen die Autonummer geben. Ist ’n Brummi von der „Regupol“. Der kann noch nicht weit sein. Ich schätze mal, der fährt gerade über Sassenhausen das Laasphetal runter und dann über Biedenkopf, Marburg auf die Autobahn.“
Born schrieb mit und ließ sich die Nummer geben, mit der er spornstreichs zum Streifenwagen ging, um diesen Drescher möglichst bald ausfindig zu machen.
„Moment mal“, Hannes Schöler schluckte, „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Drescher den Polen, oder was immer er ist, auf den vorbeifahrenden BMW geschmissen hat. Der war doch längst weg, als das passiert ist. Außerdem hatte er gar keinen Brass auf den.“
„Haben Sie denn gesehen, ob sich die beiden noch mal getroffen haben, bevor Drescher losfuhr?“
„Nee, konnte ich ja nicht. Die Kutscher gehen ja immer, von mir aus gesehen, um die Böcke herum auf die andere Seite und laufen an der Fahrbahn lang zu ihren Führerhäusern. Der Parkstreifen ist ja breit genug.“
„Na also. Wer sagt Ihnen denn dann, dass da nichts passiert ist? Aber, wie immer, wir brauchen eine Aussage von diesem Fahrer“, erklärte Winter und wandte sich wieder dem BMW zu. „Erklären Sie mir lieber mal, warum Sie meinen, dass der Mann von oben herunter auf das Auto geflogen ist.“
„Will ich Ihnen gerne zeigen und erklären. Schauen Sie her. In der Mitte der Haube ist eine tiefe Delle, fast wie eine Kuhle. Das deutet auf einem senkrechten oder fast senkrechten Fall hin. Der Einschlag in der Scheibe war wahrscheinlich der Kopf. Bei der Vollbremsung wurde er dann noch vorne abgeworfen. Wäre der Mann von der Seite her in den Wagen gesprungen oder geflogen, hätte ihn das Auto wie über einen Keil aufgeladen und eventuell sogar über die Scheibe nach hinten geschleudert. Der Einschlag würde nach meiner Meinung deutlich schwächere Spuren hinterlassen. Die dafür aber quer über die Motorhaube.“
„Alle Achtung“, staunte Jürgen Winter, „das leuchtet irgendwie ein. Aber, sagen Sie mal, woher wissen Sie das denn alles so genau?“
„Ach, ich habe mal ein paar Monate während meines Studiums in einer Karosseriewerkstatt im Ruhrgebiet gearbeitet. Da lernt man es, solche Spuren zu lesen.“
Pattrick Born war zurückgekommen, hatte den Rest gerade noch mit angehört und dann Winter ins Ohr geflüstert: „Wenn dieser Hannes recht hat, dann muss es ja wenigstens einen der Lastzüge da vorne geben, wahrscheinlich der dritte oder der vierte, von dem der Mann heruntergesprungen ist.“
„Oder heruntergeworfen wurde“, ergänzte der Hauptmeister. „Wir sollten mal nachgucken, bevor uns da noch was ganz Wichtiges durch die Lappen geht.“
Die beiden trennten sich. Born übernahm den Kontrollgang auf der Gehwegseite, Winter den auf der Straße. Eigentlich hatten sie gar keine klaren Vorstellungen von dem, was sie suchten, waren mehr auf Zufallsfunde aus.
Es war müßig, die beiden ersten Lastzüge näher zu betrachten. Denn das demolierte Cabriolet stand in Höhe des Führerhauses von Truck Nummer zwei. Sturz und Aufprall müssten also deutlich weiter hinten stattgefunden haben, wenn man Reaktionszeit und Bremsweg dazu rechnete. Mindestens in Höhe der Ladefläche des dritten Zuges. Dahinter war auch eine Lücke. „Da hat der Drescher-Bock gestanden“, berichtete Hannes Schöler, der sich wie eine Klette an Winter gehängt hatte. Der Polizist ertrug das zähneknirschend. Obwohl der ihn gerne abgeschüttelt hätte. Aber immerhin hatte ihm der Karosseriekenner ordentlich geholfen. „Haben Sie eigentlich keine Angst, dass Ihnen derweil jemand den Imbiss ausräumt?“
„Nee, nee. Da verrutscht nix. Meine Freundin is´ gerade gekommen. Die schmeißt den Laden“, grinste Hannes und sah nicht danach aus, als wolle er sich vertreiben lassen. Vielmehr zeigte er auf die Seitenplane an dem Lastzug, die irgendwie schlaff wirkte. „Das ist ja seltsam. Normalerweise sind die an den Trucks so festgespannt, dass man schon mal auf die Idee kommen könnte, die Seitenwand sei aus Metall. Aber vielleicht hat der Fahrer was nachgesehen oder was umgeladen.“
„Gehen Sie jetzt am besten mal ein paar Schritte zurück, nach da vorne“, flüsterte der Beamte Schöler zu und verdeutlichte seinen Hinweis mit energischem Blick und Armwinken in Richtung Menschenauflauf.
„Wieso das denn?“
„Weil ich es sage. Kann sein, dass das hier nicht ganz ungefährlich ist.“
Hannes Schöler schluckte und machte große Augen. „Ich ääääh …!“
„Nun los, bitte gehen Sie.“
Hauptmeister Winter beobachtete noch den Rückzug seines Beraters und machte sich dann für Born bemerkbar. „Gssst, Pattrick, hey“, flüsterte er halblaut. „Kannst Du da drüben was in dem Laderaum erkennen?“
„Nichts. Aber komisch ist das schon“, kam von der anderen Seite.
„Was ist komisch bei Dir?“
„Hier ist die Beifahrertür nur angelehnt, aber keiner im Führerhaus. Hab´ schon geguckt. Wer lässt denn seine Karre so offen rumstehen?“
„Keine Ahnung.“ Winter ging ein paar Schritte zurück und schaute auf das Nummernschild. Der Lastzug kam aus Frankfurt/Main. Schnell machte er ein Foto mit seinem Smartphone. Dann ging er wieder bis zur Ladefläche.
„Gssst, Pattrick, ist die Plane da drüben bei Dir auch offen?“
„Scheint mir nicht so. Fest verzurrt“, antwortete der und schaute zwischen Führerhaus und Sattelauflieger zu Jürgen Winter herüber. „Aber ich kann ja mal hinten nachschauen, wie´s da aussieht.“
„Warte, ich komme auch. Sei vorsichtig.“
Es sah schon fast albern aus, wie sich die beiden, jeweils Hand an der Waffe im Holster, zum Heck des Fuhrwerks begaben. Vorsichtig, gestelzt, als würde jeder ihrer Schritte sonst ein Erdbeben auslösen.
Hinten angekommen baute sich Winter tatsächlich mit seiner Walther P99 in der Hand links neben der Ladetür auf, während Born den großen Hebel herumzog und den Laderaum sachte öffnete. Ganz sachte. Doch es passierte nichts. Dann riss er die Tür ganz auf. Immer noch nichts. Allerdings konnte man nun in den Laderaum hineinschauen. Soweit das schummrige Licht dies zuließ. Die Deckenplanen oben waren leicht transparent.
Ganz vorne im Laderaum, also direkt hinter dem Führerhaus, standen jede Menge Holzkisten. Auf-, neben- und voreinander gestapelt. Sah nach einer geschlossenen Lieferung aus. Alle mit Aufdruck. Mit Spanngurten am Verrutschen gehindert und mit Bruchsicherungen aus Stahlband. Bis auf eine längliche, gut zwei Meter lange, Kiste mit Scharnieren und einem Klappschloss, die quer oben draufstand. Ansonsten gähnende Leere im Frachtraum. Da war noch viel Platz zum Zuladen. Einzig ein paar am Boden fest genagelte Vierkanthölzer verrieten, dass darin etwas Großflächiges transportiert werden sollte oder bereits transportiert worden war.
Mit einem Satz war Pattrick Born auf die Ladefläche gesprungen, während Winter draußen die Wumme wegsteckte und dann ebenfalls hinaufkletterte.
„Eigentlich müsste der Mann von hier aus auf den BMW gesprungen sein“, sinnierte Born, als er vor einem Kistenstapel vorne stand und versuchte, die Plane nach hinten zu ziehen. Klappte wie am Schnürchen. Ihre Sicherung war gelöst. Sie glitt zurück wie eine Gardine in der Laufschiene.
„Müsste“, mischte sich Winter in die Gedanken des Kollegen ein, „ist er aber nicht. Das sieht hier ganz schwer nach Mordversuch aus.“
„Um Gottes Willen. Meinst Du nicht, Du übertreibst jetzt ein bisschen?“
„Absolut nicht. Überleg doch mal. Wenn der Mann alleine war und tatsächlich von dem Kistenstapel hinaus auf die Straße gesprungen wäre, hätte er dann im freien Flug die Plane hinter sich wieder zuziehen können? Wohl kaum.“
Pattrick Born schaute erst den Kollegen an, dann die Plane. „Du hast recht. Das wäre die absolut perfekte „One-Man-Show“ gewesen. Die muss jemand wieder zugezogen haben, nachdem der arme Kerl hier rausgeflogen ist.“
Winter zückte das Smartphone und rief in der Wache an, äußerte dort seinen Verdacht und bat um Verstärkung. Irgendwie mussten sie sich ja auch um den eigentlichen Unfall kümmern. Am besten würden da gleich auch Kollegen von der Kripo mitkommen. „Die sollen tunlichst auch die von der Spurensicherung informieren. Das wird hier … Was ist denn jetzt los?“, schrie Jürgen Winter plötzlich auf.
Der LKW bewegte sich, setzte zurück und bremste. Winter haute es der Länge nach hin. Pattrick Born hatte sich gerade noch an einem Spriegel unter der Deckenplane festhalten können. Vorsichtshalber war er aber vom Kistenstapel heruntergesprungen und musste sich jetzt auf dem Boden abrollen, als sich der Truck wieder nach vorne bewegte.
„Bleib´ stehen, Du Irrer! Hey, wir sind hier hinten auf der Ladefläche! Mach keinen Scheiß! Mann! Polizei. Stehen bleiben!“
Doch die Rufe verhallten ungehört. Oder zumindest ohne große Wirkung. Langsam zog der Lastzug aus der Parklücke und wurde beschleunigt. „Der Verrückte fährt auf die Unfallstelle zu“, schrie Born, der sich an der Seitenwand entlang nach hinten bis fast zur Ladetür vorgewagt hatte. Plötzlich kam die Vollbremsung. Die Ladetür knallte zu und Born machte zwei, drei Schritte. Dann stolperte er über eines der Kanthölzer und knallte nun seinerseits auf den Boden. So richtig mit Schmackes.
Doch das schien den jungen Polizisten nur wenig zu beeindrucken. Als der Truck stand, sprang er hinten vom Zug und rannte wie von einer Tarantel gestochen zum Führerhaus. Gerade war die Fahrertür aufgegangen und ein recht muskulöser Mann herausgeklettert, als der Sprinter bei ihm ankam. Er schnappte sich den Typen, riss ihn herum und drehte seinen rechten Arm auf den Rücken. Dann drückte er ihn ziemlich unsanft gegen die LKW-Tür. „Sag mal, bist Du total bekloppt, Mann? Du kannst doch nicht einfach losfahren, wenn wir noch hinten drauf…“ Den Rest verschluckte er. Der Fahrer konnte ja gar nicht ahnen, dass da jemand auf der Ladefläche herumturnt, fiel ihm plötzlich siedend heiß ein.
„Was loss? Was willst Du, Polizei? Ich Pappirre in Ordnung, will farre nach Chause. Lange nix gesänn Cheimatt. Ich chabe grosse Fammilie.“
Jürgen Winter war aufgetaucht. Er machte einen leicht belämmerten Eindruck. Er hatte wohl bei dem Sturz auf den Boden einen heftigen Schlag abbekommen. „Komm, lass ihn los. Aber bleib´ bei ihm. Und lass´ Dir seine Papiere zeigen. Auch die Frachtpapiere. Die Kollegen sind unterwegs. Ich muss mal gerade zum Sani“, lallte er noch. Dann klappte er zusammen wie ein Gummimännchen. Born stierte fassungslos auf ihn herunter.
Diese Schrecksekunde nutzte der gerade noch Festgesetzte und wollte sich um die Motorhaube seines Trucks herum verdünnisieren. Aber der Polizist hatte geschaltet und stellte dem Flüchtenden ein Bein, so dass der sich selbst in die Hacken trat und stürzte. Direkt vor dem neugierigen Schöler. „Halt´ den mal grad´ am Boden fest. Arm einfach nach hinten drehen. Das geht schon. Ich muss schnell nach meinem Kollegen gucken!“, rief Born. Doch da war bereits ein Rettungssanitäter aus dem Wagen gesprungen und zu dem Beamten herübergelaufen, der sich gerade aufrappeln wollte. „Nix, nix, liegen bleiben. Erst mal sehen, was mit Ihnen los ist.“
Born, der sich mit Blick aus dem Augenwinkel versicherte, dass Schöler den Mann am Boden unter Kontrolle hatte, schilderte dem Sanitäter kurz, was mit Winter passiert war und fragte: „Sagen Sie, wissen Sie, wie es dem Unfallopfer geht?“
„Ich sitze auf dem anderen Wagen, habe mich um Frau Homrighausen gekümmert. Aber so viel ich mitgekriegt habe, nicht besonders gut. Der hat richtig was abbekommen. Mehrere Knochenbrüche wohl, innere Verletzungen und, so wie es aussieht, vermutlich auch einen Schädelbruch. Sie haben Christoph 25 bestellt. Der muss gleich hier sein. Landet vermutlich am Ende der Parkkolonne.“
„Was für eine verfluchte Scheiße“, entwich es dem sonst eher besonnenen Pattrick Born. „Und das alles noch zusätzlich zu dem Leichenfund von heute Mittag. … Passen Sie gut auf meinen Kollegen auf.“ Von letzterem verabschiedete er sich wie ein Hipp-Hopper, Faust auf Faust. „Wird schon, Alter. Ich drück´ Dir die Daumen.“ Dann drehte er ab, um Schöler den am Boden liegenden Trucker zu entreißen. Der Sünder lag auf dem Bauch, den rechten Arm auf den Rücken gedreht und ein Knie des Pommesbarons im Kreuz.
„Danke, kannst loslassen. Und bitte, steig von ihm ab.“
Wadim Plosicz rannte wie von tausend Teufeln gehetzt. Immer wieder dreht sich der Mann beim Laufen um und schaute wie ein gejagtes Tier nach hinten. Mit Ach und Krach war er unentdeckt von dem Lastzug weggekommen, war zwischen ein paar Büschen durchgewutscht und über den Lidl-Parkplatz zu einer Parallelstraße herübergerannt. Mitten in einem Industriegebiet war er gelandet und hatte nicht die geringste Ahnung, wo genau, in welcher Stadt. Noch bis vor einer halben Stunde hatte er tief geschlafen, in der Koje des Lastzuges. Direkt hinter dem Fahrer. Zum ersten Mal seit fast drei Tagen.
Der Mann aus Kaunas in Litauen war wieder mal durchgefahren, von Malaga in Spanien bis nach Frankfurt. Ohne Schlaf. Dafür aber mit jeder Menge gekauter Kaffeebohnen. Und auf drei verschiedenen Lastzügen, die immer im lockeren Konvoi hinter einander herfuhren. Malaga, Barcelona, Lyon, Neuenburg am Rhein, Frankfurt. Das machten sie schon immer so bei seiner Spedition. Durch den Fahrerwechsel auf der Strecke hätte ihnen keine Polizei der Welt etwas wegen Überziehung der gesetzlichen Lenk- und Ruhezeiten anhaben können. Seit Jahren verdiente er sein Geld mit Lebensmitteltransporten. Einmal die Woche mit Tiefkühltorten von Frankfurt nach Malaga, dann sechs Stunden Schlaf. Und zurück mit einer Ladung Früchte für den Frankfurter Großmarkt.
Von dort hatten sie ihn einfach entführt. Ihm völlig unbekannte Typen. Angebliche Inspizienten seines Arbeitgebers, der Spedition TruckiTRANS aus Vilnius. Sie waren auf dem Großmarkt aufgetaucht, hatten ihm ein Papier mit dem Briefkopf von TruckiTRANS unter die Nase gehalten und sich durch reichlich Interna aus dem Unternehmen legitimiert. Ein Info-Gespräch sollten sie mit ihm führen. Wie mit all seinen Kollegen auch, denen sie angeblich schon vorher begegnet waren. Natürlich hatte er nichts gegen eine gute Tasse starken Kaffees und ein ordentliches Frühstück gehabt und war ihnen in ein Straßencafé gefolgt. Aber dort endete seine Erinnerung nach zwei, drei Schlucken Kaffee und nicht mal einem halben Schinkenbrötchen. K.-o.-Tropfen vermutete er.
Wadim Plosicz musste anhalten, sich auf eine Gartenmauer setzen. Sein Puls hämmerte in den Halsschlagadern. Sterne tanzten vor seinen Augen. Die Kondition spielte einfach nicht mehr mit. Tief atmete er durch und versuchte so, seinen Puls zu beruhigen. Sein kariertes Hemd war nur noch durch zwei Knöpfe vor der Brust gehalten. Die anderen hatte er aufgemacht, um Luft an seinen muskulösen, schwitzenden Körper zu lassen. Wieder schaute er sich sichernd um. Drüben auf der anderen Straßenseite spielten drei Kinder auf dem Rasen vor einem Mehrfamilienhaus. Ansonsten kamen lediglich Passanten und Autofahrer vorbei. Desinteressierte. Niemand kümmerte sich um den Mann auf der Mauer. Dass er am linken Handgelenk eine Handschelle trug, hatte wohl keiner bemerkt.
Was war das für eine widerwärtige Aktion, die sich da vor seinen Augen abgespielt hatte. Der Fahrer hatte ihn ziemlich unsanft geweckt, die Handschelle am Haltegriff in der Kabine gelöst und ihn aufgefordert, sofort aus der Koje heraus zu klettern. Als das dem Trucker nicht schnell genug ging, half er mit zwei markigen Faustschlägen in Rippen und Magengrube nach. Dann war er auf die Ladefläche des Zuges getrieben worden, wo ihn der Fahrer ganz nach vorne nötigte. „Mach´ mal links die Plane zurück, damit man hier mehr sieht“, hatte er ihn auf Russisch angeherrscht. Und Plosicz gehorchte mit schmerzendem Körper. Danach war er wieder angekettet worden.
Plötzlich war ein zweiter Mann auf der Ladefläche. Den hatte der andere offenbar erwartet und war mit ihm ohne große Worte auf den Kistenstapel geklettert, wo sie nun gemeinsam das obere Behältnis öffneten. Der Trucker hatte einen Schlüssel dafür. Eifrig räumten sie in der Kiste jede Menge Teile beiseite. Wohl, um weiter unten fündig zu werden. Doch dann hatte der Fahrer plötzlich eine Eisenstange in der Hand, die er dem anderen kurzerhand auf den Hinterkopf schlug. Der Aufschlag der Stange auf die Schädeldecke hörte sich für Plosicz an, als wäre ein Kürbis beim Herabfallen auf den Fußboden geborsten. Ekelhaft. Vor seinen entsetzten Augen war der klapperdürre Mann blutend zusammengebrochen und auf dem Rand der offenen Kiste liegen geblieben. Er rührte sich nicht mehr. ‚Um Gottes Willen. Ist der Mann tot? Was soll der Scheiß? Warum schlägt dieser brutale Hund hier einfach einen Menschen tot?’ Ihm wurde schlecht vor Angst.
Als der gnadenlose Fahrer auf ihn zukam, dachte der Mann aus Litauen, sein Ende stehe bevor. Er wollte schreien. Doch dieser Schweinehund drückte ihm von vorn so heftig die Kehle zu, dass er glaubte, jeden Moment werde der Knorpel im Hals brechen.
„Du chilfst mirr jetzt“, herrschte ihn der Mann an. „Sonst bringe ich dich um. Wie den da.“ Dann schloss er die eine Handschellenhälfte auf, befreite ihn so von der Ladebordwand und schleppte ihn mit Karnickelfanggriff zum Kistenstapel. Hustend und röchelnd war Plosicz, die Pranke des Irren im Genick, stolpernd mitgelaufen und am Fuß des Kistenberges angelangt. „Rauf mit Dirr“, brüllte dieser Unmensch und folgte ihm die zwei, drei Stufen auf der Seite mit der offenen Plane. Immer wieder schaute er nach hinten durch die offene Ladetür, bis er auf einmal brüllte: „Komm, ancheben! Nun los, mach! Schneller!“ Dann lud er mit Plosicz´s Hilfe den Leblosen über seine rechte Schulter, drehte sich zur offenen Seite des Trucks hin und warf sein Opfer mit beiden Armen einfach hinaus. Als wenn der Mann gar nichts wöge. Er warf ihn einfach so weg.