- -
- 100%
- +
Plosicz erstarrte. Als er dem Niedergeschlagenen hinterher schaute, sah er über die Kante der Seitenbordwand hinweg von links eine Cabrio-Frontscheibe und einen Frauenkopf mit brünettem Haar vorbeikommen. Im selben Augenblick krachte es. Reifen blockierten, gefolgt von einem leisen ‚pflatsch’. Dann war es für einen kurzen Moment still. Bis die Frau ganz entsetzlich schrill zu schreien begann.
Der Killer war von der Öffnung zurückgewichen und mit einem Satz von dem Kistenstapel heruntergesprungen. Dann hatte er mit einem Ruck die Plane zugezogen. Er lauschte nach draußen, wo man jetzt aufgeregte Stimmen hörte. Rufe nach Rettungsdienst und Polizei wurden laut.
Für Plosicz die Chance, aus diesem Wahnsinn heraus zu kommen. Schnell war er von den Kisten heruntergestiegen, durch den Frachtraum gesprintet und aus der Ladetür gesprungen. Draußen warf er den offenen Flügel zu und legte kurzerhand den Riegel um. Er hatte gehofft, dass sein Peiniger hinterhergekommen wäre und dabei in die Tür eingeklemmt, zumindest aber von ihr getroffen würde. Doch der große Aufschrei blieb aus. Auch ein fast ersehntes Geräusch brechender Knochen war nicht zu vernehmen.
Immerhin aber war der Drecksack jetzt für einen Moment gefangen. Denn er würde sich angesichts des Menschenauflaufs draußen nicht trauen, die Plane wieder zurückzuziehen und seitlich über die Ladebordwand auf die Straße herunter zu klettern. Zumal es einen kleinen Stau entlang der geparkten Lastzüge gab. Zu viele Augenzeugen.
Der Flüchtende wollte ebenfalls ungesehen davonkommen. Sachte schaute er auf der Gehwegseite um die Ecke des Trucks nach vorn. Keine Menschenseele zu sehen. Auch von hinten nichts. Nur die Lücke bis zum nächsten Lastzug ließ ihn da stehen wie auf dem berühmten Präsentierteller. Zu seinem großen Glück wendeten auf der Straße gleich zwei Pkw hintereinander. Deren Fahrer wollten offenbar aus dem Stau heraus und einen anderen Weg in die Stadt hineinnehmen. Die hatten etwas Wichtigeres zu tun, als nach ihm zu schauen. Mit zwei großen Sätzen überquerte er also den Gehweg und verschwand hinter den Büschen. Die boten ausreichend Sichtschutz. Aber seine Freude darüber währte nicht lange. Denn zwei Meter weiter bremste ihn ein Zaun.
Mist! Wohin jetzt? Nach rechts ging es nicht weiter. Da endete die Buschgruppe. Und man hätte ihn von der Straße aus sehen können. Also nach links. Nach ein paar Metern wehte ihm der verräterische Duft der Imbissbude um die Nase. Pommes und Bratwurst. Augenblicklich bekam Plosicz Hunger. Aber er konnte sich beherrschen. Für eine Portion Pommes rot/weiß war die Bedrohung viel zu groß. Lieber hungrig davonkommen, als beim Essen von diesem durchgedrehten Typen erwischt zu werden. Kurz darauf hatte er den Lidl-Parkplatz erreicht.
Vor und neben dem „Wittgensteiner Hof“ hatten die von der SpuSi das ganz große Besteck aufgefahren. Mindestens fünf Leute in weißen Raumfahreranzügen und mit blauen Plastiküberschuhen wuselten dort herum. Die Parkstraße war nach wie vor voll gesperrt. Der Verkehr wurde über den Berlebach, an den Kliniken vorbei, umgeleitet. Noch immer standen Neugierige an den Absperrungen herum und erzählten sich die wildesten Räuberpistolen. Nur Clemens Finger, der freie Journalist, hatte mittlerweile eine klarere Sicht der Dinge. Auf allen Vieren kriechend, um den Polizeiblicken zu entgehen, hatte er sich hinter der Schlossmauer in Position gebracht und direkt in die Gasse blicken können, an deren Ende der Leichnam gefunden worden war. Jede Einzelheit hatte er mit seinem ofenrohrgroßen Tele eingefangen. Die Bilder waren längst per Mail zu einer Fotoagentur gegangen.
Und weil er aus seiner unbequemen, aber strategisch optimalen Position heraus so ganz nebenbei manches Gespräch der Ermittler belauschen konnte, manchmal auch nur Gesprächsfetzen, baute er sich aus dem Erlebten und Gesehenen seine ganz eigene Geschichte zusammen. Für die Boulevardpresse. Nicht umsonst hatte er in der Branche von den seriösen Kollegen den Spitznamen „Schlimmer Finger“ bekommen.
Eigentlich war es purer Zufall, dass Finger diesen Aufreger in Bad Berleburg mitbekam. Denn sein Augenmerk hatte er ursprünglich auf das Flüchtlingserstaufnahmelager in der ehemaligen Rothaarklinik gelegt. Mal sehen, wie sich dort die Wachmannschaften aufführen. Nach den wirklich furchtbaren Zuständen in Burbach und anderswo, nicht nur für einen Boulevard-Reporter ein Thema, an dem man eigentlich nicht vorbeikommt.
Doch irgendwie kam er hier nicht zu Potte. Die Lage schien unaufgeregt zu sein, dort oben. Und die Flüchtlinge, die er unterwegs traf, meist Menschen aus Syrien, wussten nichts besonders Negatives zu berichten. Außer, dass sie durch ihre Unterkunft sehr weit entfernt von der Stadt waren. Tatsächlich war das schon eine elendige Latscherei von dem Klinikkomplex am „Spielacker“ runter in die Innenstadt. Und zurück erst recht. Da waren einige Höhenmeter zu überwinden.
Die hatte übrigens auch Clemens Finger aus Dortmund-Hombruch in den Knochen. Denn wer Geschichten von Menschen erfahren will, die zu Fuß unterwegs sind, sollte tunlichst auf das Nebenherfahren mit dem Auto verzichten. Schweren Herzens hatte er sich also selbst per pedes auf den wirklich beschwerlichen Weg gemacht, um seine Story „rund“ zu bekommen, wie die Journalisten sagen. Allein, es war ihm trotz heftiger Bemühungen und einigem Rauf auf den Berg und Runter in die Stadt nicht gelungen, auch nur einen der meist Englisch sprechenden Flüchtlinge dazu zu bekommen, so richtig abzulästern. Das, was er von den Leuten am häufigsten als Antwort bekam, war „thank you Germany“. Frustrierend für einen, der ausgezogen war, einer Schweinerei auf die Spur zu kommen.
Bis er auf einem seiner Wege über das Rainchen hinauf zur Oberstadt plötzlich auf die Polizeiabsperrung Ecke Parkstraße traf. Fünf Minuten Recherche, den Gaffern zuhören und beobachten, reichten dem routinierten Schlagzeilenhai völlig aus. Schlagartig switchte er im Kopf um, vergaß augenblicklich die emotionsgeladene Geschichte von misshandelten Menschen im Flüchtlingslager. Hier lauerte die wahre Geschichte. Ein grausames Verbrechen in der Provinz. Eine Story, die es in sich hatte – und Geld brachte. Das hatte er im Urin.
Nachdem der Tote abtransportiert worden war, hatte der fiese Gestank in der Oberstadt stark nachgelassen. Verschwunden aber war er noch nicht. Kein Wunder. Denn der Leichensaft, oder wie immer man die Flüssigkeit bezeichnen wollte, die da aus dem Plastiksack ausgetreten war, hatte das Erdreich getränkt. Und das müsste dringend abgetragen und entsorgt werden. Allerdings waren da die Herren im Ganzkörperkondom strikt dagegen. „Zunächst müssen die Spuren dort akribisch gesichert werden“, hatte Gert Steiner, Chef der Spurensicherung, bereits den Nachbarn mitgeteilt. Und damit deren Illusion zerstört, bald wieder befreit einatmen zu können. „Sorry, das dauert noch. Wir haben ja bis jetzt nicht einmal eine Ahnung, wie der Mann überhaupt dort unten hingekommen ist. Vom Warum ganz zu schweigen. Aber das müssen die Kollegen von der Kripo klären.“
Und die hatten richtig was zu tun. Erst die Leiche am Rainchen. Und jetzt auch noch der versuchte Mord in der Limburgstraße. Das war mehr, als man in dem eher verbrechensarmen Wittgenstein seit Jahrzehnten erlebt hatte. Vorsichtshalber hatte Hauptkommissar Klaiser in Absprache mit Dienststellenleiter Bernd Dickel schon mal die Kollegen in Siegen um Mithilfe gebeten. Denn die Aufgaben, die jetzt auf sie zukommen würden, überschritten ihre personellen Möglichkeiten um ein Vielfaches. Selbst wenn sie sich die Fälle teilten, was im Übrigen bereits geschehen war.
Während er an dieser ausgesprochen seltsamen Sache mit dem Toten am „Wittgensteiner Hof“ bleiben wollte, übernahm Kriminalkommissarin Corinna Lauber den versuchten Mord am Truck. Und jeder von ihnen hatte lediglich einen Kollegen als Unterstützung an der Hand. Corinna konnte auf die dauerhafte Hilfe von Polizeiobermeister Pattrick Born zählen. Und Klaiser hatte eigentlich auf Jürgen Winter gebaut, der ihm schon in der jüngeren Vergangenheit immer wieder mal mit hervorragender Arbeit zur Seite gestanden hatte. Doch der war nach seinem Sturz auf dem Lastzug zur Untersuchung und Beobachtung ins Krankenhaus gekommen. Wie lange er ausfallen würde, dazu war keine Prognose zu bekommen.
Also holte er sich Obermeister Sven Lukas als Teamkollegen. Der war zwar ein unglaublicher Computerfreak und daher eher für IT-Ermittlungen in Wirtschaftskriminalfällen geeignet, aber Klaiser wusste, dass dieser Mann sich in komplizierte Fälle richtiggehend reinbeißen konnte. Recherchieren bis der Arzt kommt. Genau das, was jetzt gefragt war.
Längst hatten sie alle verfügbaren Kolleginnen und Kollegen der Schutzpolizei auf den Schlossberg geschickt, um Befragungen bei den Anwohnern zu machen. Hatte jemand etwas Verdächtiges gesehen, gehört? Und, wenn ja, was und wann? Wem waren Fahrzeuge und/oder Leute aufgefallen, die zwischen „Wittgensteiner Hof“ und Café etwas abgeladen hatten, oder zumindest abgeladen haben könnten; eventuell eine Leiche.
Wadim Plosicz schnappte noch immer heftig nach Luft. Die Flucht bis zu dieser Mauer am Hilgenacker hatte erstaunlich viel Kraft gekostet. Überraschend viel für den Mann, der sich eigentlich sportlich fit wähnte. ‚Wahrscheinlich machen dich die K.-o.-Tropfen so fertig’, dachte er, während er nach wie vor den spielenden Kindern gegenüber zuschaute.
Plötzlich war am Himmel ein Hubschrauber zu hören. Erst nur vage. Dann schien er zügig immer näher zu kommen. Und dort, von wo aus er geflohen war, startete ein Fahrzeug mit Martinshorn. Neugierig versuchte der Flüchtende zu verstehen, was da abging. Aber er traute sich nicht einmal, um die Hausecke hinter seinem Rücken zu schauen.
Der Hubschrauberpilot schien auf einem Platz ganz in der Nähe landen zu wollen. Vadim kannte das verräterische Knattern der Rotorblätter, wenn sie vom Piloten verstellt werden, um Höhe zu verlieren. Immer näher kam er und wurde immer lauter. Und dann war der Eurocopter zu seinem großen Erschrecken auf einmal direkt über ihm und zog eine Schleife. Deutlich konnte er von unten „ADAC Luftrettung“ an der knallgelben Maschine lesen. Dann war sie schon wieder weg. Hinter den Hausdächern verschwunden.
Die Kinder von gegenüber, die die Erscheinung am Himmel genau so hatte zusammenfahren lassen wie Plosicz, rannten jetzt quer über die Straße in Richtung des Landeplatzes. Deutlich hörte man, wie der Heli jetzt die letzten Meter herunterkam und dann aufsetzte. Blütenblätter, Staub und Papierfetzen flogen durch die Luft. Er schien vor einem Getränkemarkt hinten um die Ecke gelandet zu sein. Dann verlor sich das Schwirren der Rotorblätter. Nur noch Turbinengeräusche, die immer weiter nachließen, bis nur noch der normale Stadtlärm zu hören war.
Frank Drescher stieß einen leichten Fluch aus, als er die Polizeistreife in Bad Laasphe am Straßenrand sah und erkannte, dass er anhalten sollte. Die rote Kelle am hoch gestreckten rechten Arm des Polizisten und die ausgestreckte Linke in Richtung Bordstein waren unmissverständlich. ‚Was ist denn jetzt schon wieder los? Haben mich die Armleuchter etwa am Forsthaus Bracht geblitzt?’ Er hatte es etwas laufen lassen auf der recht verkehrsarmen Strecke. Und seit die Fahrbahn vor ein paar Jahren nach einer halben Ewigkeit des Dahingammelns endlich saniert worden war, konnte man hier auch mit dem Lastzug gefahrlos etwas zügiger fahren.
„Guten Tag, allgemeine Verkehrskontrolle. Bitte Ihren Führerschein, Fahrzeugschein und die Ladepapiere.“ Drescher hatte das Seitenfenster heruntergefahren, herausgeschaut und zurückgegrüßt. Der Beamte, der mit Blick zu ihm hinauf die ganze Litanei stereotyp heruntergeleiert hatte, machte keinen sonderlich freundlichen Eindruck. Sein Kollege, der drei Meter weiter vorne stand, im Übrigen auch nicht. Mit der rechten Hand am Pistolenholster, sicherte der die Kontrollaktion des Kollegen mit langem Gesicht ab. ‚Arme Bullen’, dachte Drescher, während er die Papiere nach draußen reichte, ‚Euch macht der Job offensichtlich keinen Spaß’. Ihm schwante Übles. Denn mit griesgrämigen Polizeibeamten hatte er in der Vergangenheit immer wieder mal Probleme gehabt.
Als der eine mitsamt den Papieren zum Streifenwagen gegangen war, rückte der andere etwas näher an den Truck heran. Frank Drescher wollte aussteigen. Aber der Polizist erhob die Hand und rief: „Bleiben Sie bitte sitzen.“
„Oh wei, was wird das denn?“, entfuhr es dem Trucker. „Was habe ich denn angestellt? War ich zu schnell – oder was?“
„Warten Sie´s ab“, kam die lapidare Antwort aus dem langen Gesicht.
„Na, das kann ja heiter werden“, bemerkte Drescher und fügte in Gedanken noch ‚Du bist vielleicht ein Blödmann’ an, während er sein Radio ausschaltete, um so vielleicht etwas von dem Funkverkehr aus dem Polizeiwagen mitzubekommen. Aber Fehlanzeige.
Sein Gegenüber, mit der Hand auf der „Wumme“, blieb weiter ungerührt und ließ ihn nicht aus den Augen. Das konnte gar kein Spaß sein, so bei dieser Hitze auf der Straße zu stehen und Brummifahrer in Schach zu halten, dachte sich Drescher. Viel mehr aber marterte ihn der Gedanke, welcher Untat er jetzt bezichtigt werden würde. Überladen hatte er auf gar keinen Fall, der Zug war gerade erst ohne Mängel durch den TÜV, die Bereifung einwandfrei. Und wenn er tatsächlich geblitzt worden wäre, hätte er das doch sehen müssen. Er wusste doch, wo sie die Radarfalle immer aufstellten. „Scheiße Mann, Scheiße“, fluchte er leise vor sich hin. Doch jede weitere Gewissenserforschung brachte ihn keinen Schritt weiter. Er konnte sich einfach nicht erklären, was die Polizei von ihm wollte.
Bis ihm plötzlich klar wurde, dass das hier mit Stoppen nach einer Geschwindigkeitskontrolle nichts zu tun haben konnte. Da waren sie in der Regel nämlich mindestens zu viert und mit zwei Fahrzeugen. Und überhaupt, die anderen Autos, die das Laasphetal durch die Wasserstraße herunterkamen, durften unbehelligt weiterfahren. Nein, da war was anderes im Busch.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Polizist Nummer eins wieder zurück, reichte ihm seine Papiere hoch und fragte ihn: „Kennen Sie einen Mann namens Kamil Czoch?“
Frank Drescher überlegte einen Augenblick – ziemlich angestrengt sogar. Denn er war ja nun häufig in Polen. Und der Name hörte sich schon ziemlich polnisch an. Aber an gerade diesen konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. „Nein, kenne ich nicht.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja, ganz sicher!“
„Seltsam, Sie haben heute Nachmittag noch mit ihm geredet“, ereiferte sich der Bulle und schaute Drescher tief in die Augen.
„Wo?“, wollte der Fernfahrer wissen.
„Das müssten Sie doch am besten wissen.“
„Verdammt noch mal, jetzt wird mir das Ganze hier zu blöd. Ich weiß es nicht. Und wenn Sie behaupten, ich hätte es doch getan, dann sagen Sie mir …“ Drescher unterbrach sich. „Oh, Kacke. War das etwa der durchgeknallte Typ, der vor der Pommesbude mit dem Messer auf mich los ist?“
„Das sagten zumindest Zeugen, wie wir hörten.“
„Ja, aber den kannte ich doch gar nicht. Der wurde nur auf einmal aggressiv, weil ich ihn aufgefordert habe, seine Rechnung bei Hannes, dem Budenbesitzer, zu bezahlen.“
„Allerdings in polnischer Sprache. Woher wussten Sie, dass er Pole ist, wenn Sie ihn nicht kannten?“
„Weil er auf dem Display seines Smartphones, mit dem er ständig rumhantierte, in großen Lettern den Namen seines polnischen Providers stehen hatte. ‚Polkomtel’. Den würden Sie hier in Deutschland sicher auch nicht als Ihren Netzbetreiber wählen. Und weil der Vogel auf die Zahlungsaufforderung von Hannes einfach nicht reagiert hat, habe ich ihn am Hemdkragen festgehalten und es einfach mal auf polnisch probiert. Wissen Sie, der Hannes is´n prima Kerl. Den bescheißt man nicht.“
„Aha. Und woher können Sie so gut polnisch?“, wollte der Polizist wissen.
„Kann ich gar nicht. Aber wenn Sie, wie ich, mehrfach im Jahr nach Polen fahren müssten, dann würden selbst Sie zumindest die Floskeln kennen, die mit Bezahlen zu tun haben“, meinte Drescher nett lächelnd. „Denn Einkaufen und Essen müssen Sie unterwegs ja auch gelegentlich. Ach so, nee, Sie haben da ja eher Glück“, fügte er eine Spur zu süffisant an, „bei Ihnen ist ja immer Deutschland.“
„Wir machen auch nur unseren Job, Herrrrr Drescher“, überbetonte der Beamte. „Warum haben Sie den Mann eigentlich nicht angezeigt?“
„Weil ich mir genau diesen Zinnober hier ersparen wollte, Herrrrr Wachtmeister“, gab der Angesprochene angefressen zurück. „Ich glaube, das war ’ne Reflexhandlung bei dem, als ich ihn von hinten angefasst habe. Sie wissen doch, dass es Menschen gibt, die schnell mal überdrehen. Und das war bei dem genauso. Aber als der sich umdrehte und mich sah, ist dem aus Angst fast die Klinge aus der Hand gefallen. Diese halbe Portion hätte ich beim tief Luft holen quer unter der Nase hängen gehabt, verstehen Sie.“ Drescher fühlte sich obenauf.
„Mag ja sein, aber eine Anzeige wäre absolut richtig gewesen.“ Der Polizist wollte offenbar partout das letzte Wort haben.
„Hören Sie“, begann Drescher wieder und jetzt eine Spur eindringlicher, „ich bin auf dem Weg nach Krakau in Polen. Das sind rund 980 Kilometer und etwa 13 Stunden reine Fahrzeit bis dort hin. Wenn alles gut geht. Dazu meine Rast- und Ruhezeiten. Morgen spätestens um 17.30 Uhr muss ich dort sein, habe einen festen Abladetermin und vorher mindestens fünf bis sechs Staus. Meinen Sie, da könnte ich mir noch große Anzeigen- und Protokollarien bei der Polizei leisten? Ich muss los, Mensch! Kommen Sie, hier haben Sie meine Karte, da stehen meine Mobil- und meine Festnetznummer drauf und meine E-Mail-Adresse.“
Wie ein Gentleman überreichte er dem reichlich baff dreinschauenden Polizisten die Visitenkarte aus seinem Truckfenster von oben herunter. „Ich bin in spätestens drei Tagen mit einer Rückladung wieder zuhause. Ich wohne in Hemschlar, haben Sie ja gesehen in den Papieren. Dann komme ich gerne auf die Wache in Berleburg und gebe alles zu Protokoll. Und wenn noch was unklar ist, rufen Sie mich einfach auf dem Handy an. Ich hab‘ ’ne Freisprecheinrichtung auf meinem Bock. Da verrutscht nix.“
Der eine Polizist schaute den anderen an. Irgendwie schien beiden diese ganze Geschichte einzuleuchten. Und irgendwie hatten beide auch keine Lust, hier noch den großen Larry raushängen zu lassen. War bald Schichtwechsel. Irgendwann musste es ja gut sein.
„Okay, Herr Drescher. Sie können fahren. Wenn noch Fragen sind, werden sich die Kollegen von der Wache in Berleburg an Sie wenden. Gute Fahrt.“
„Danke, schönen Abend noch“, entgegnete der und startete den Truck. Da fiel ihm etwas siedendheiß ein. „Ääh, Moment, Herr Wachtmeister. Moment bitte noch. Was war denn jetzt eigentlich? Hat mich jetzt etwa der Pole angezeigt? Oder warum wollten Sie das alles so genau wissen? Aber woher hätten Sie sonst seinen Namen. Falls der überhaupt stimmt.“
„Der Mann war in einen schweren Unfall verwickelt. Da waren Sie wohl gerade erst ein paar Minuten weg. Die Kollegen konnten ihn über seine Papiere identifizieren.“
„Das gibt´s doch gar nicht. Das ist ja der Hammer. Hat der sich mit seinem Truck auf die Fresse gelegt?“
„Nein, er ist vor einer Imbissbude von einem PKW erfasst und schwer verletzt worden. Mehr wissen wir auch nicht. Tschüß.“ Die beiden wendeten sich ihrem Dienstwagen zu und ließen Drescher verdattert stehen.
„Mann, Mann, Mann, das ist ja ´n Ding.“ Drescher setzte den Blinker links, legte den ersten Gang ein und löste die Bremsen. Langsam zog er mit seinem Gespann hinter den abfahrenden Polizeiwagen und fuhr gesittet runter in die Laaspher Innenstadt. Um dort links auf die B 62 in Richtung Marburg einzubiegen. Die Rushhour hatte eingesetzt. Der Mist hier hatte einfach elend lange gedauert.
Jetzt konnte er sich den geplanten Halt bei der Metzgerei Reuter in der Bahnhofstraße getrost abschminken, musste erstmal raus aus dem Schlamassel hier. ‚Vielleicht klappt´s ja bei Kalender in Sterzhausen’, überlegte er. Er wollte unbedingt noch einen Kringel Fleischwurst für unterwegs mit in seine Kühlkiste nehmen. Als Proviant. Wenn´s zu eng für Essenspausen würde. Brötchen und geschmierte Butterbrote hatte er dabei. Alleine fahren ließ einfach keine Alternativen offen. Und einen zweiten Fahrer auf dem Truck gab es schon lange nicht mehr.
Corinna Lauber war am Ort des Geschehens in der Limburgstraße eingetroffen. Um den Tatort in Augenschein zu nehmen. Eine ganz wichtige Komponente für Ermittler, die sich von allen Abläufen ein möglichst plastisches Bild machen wollen. Nur war das nun nicht mehr so ganz möglich. Weil der Lastzug nicht mehr dort stand, wo er zur Zeit der Tat geparkt war und auch das BMW-Cabriolet jetzt auf der Seite stand. Nur Kreidemarkierungen auf der Fahrbahn ließen auf den Punkt des Aufpralls und auf den Punkt nach der Vollbremsung schließen. Dazu gab es einige Polizeifotos.
Corinna war fassungslos. Zumindest die Endpositionen nach der Attacke des LKW-Fahrers hätten sie einhalten müssen. „Wer hat das denn veranlasst? Seid Ihr alle verrückt? Nichts am Tatort verändern, heißt es immer. Ich fasse es nicht! Wie kann man nur so“ … ‚blöd sein’, wollte sie eigentlich sagen. Aber die hübsche junge Frau verkniff es sich. Gar nicht so einfach bei einem so dicken Hals. Es war schließlich ihr erster Fall eines eventuellen Mordversuchs, den sie in Eigenverantwortung übertragen bekommen hatte.
„Also pass mal auf, Corinna“, mischte sich mal wieder Pommesdealer Hannes ein. „Der LKW stand da hinten, hinter den beiden Trucks da.“ Er schob die verdatterte Kriminalistin in die Straßenmitte und zeigte mit seiner Linken in die angegebene Richtung. „Der Mann, der auf den BMW geflogen ist, wurde von dessen Sattelauflieger einfach heruntergeworfen und ist auf Motorhaube und Frontscheibe des Cabrios geknallt.“
„Interessante Theorie“, sagte Corinna. „Aber Du solltest mich erst mal mit den Kollegen reden lassen. Okay!?“
„Schon gut, schon gut“, zog der leicht beleidigte Hannes mit erhobenen Händen von dannen, hielt sich aber weiter am Straßenrand auf. Das Ding war genau so gelaufen. Das war für ihn so klar wie Kloßbrühe. Da brachte ihn niemand von ab. Anders konnte es gar nicht gewesen sein. Und spätestens, nachdem er den Fahrer gesehen und ihn mit Polizeigriff festgehalten hatte, war ihm klar, dass der auch die Kräfte dazu hatte, den dürren Polen einfach so aus dem Lastzug zu schmeißen.
Pattrick Born kletterte gerade aus einem der Polizeibusse, in dem sie den Fahrer des Lastzugs mit Handschellen festgesetzt hatten, als Corinna auf den Wagen zusteuerte. Er grüßte freundlich und wollte an ihr vorbei. „Wo is´n der Klaiser?“
„Nix Klaiser. Mein Fall“, lächelte die Kommissarin ein wenig unsicher und bat Born um ein kurzes aber sauberes Lagebild.
„Ach so, wusste ich nicht, sorry“, bemühte sich Born, seinen Fehler – aus purer Gewohnheit entstanden – mit roten Ohren wieder auszubügeln. Und dann beschrieb er ein Szenario, das nahezu passgleich das Bild von Imbissstandbesitzer Hannes Schöler widerspiegelte. „Der Kollege Winter und ich haben das alles inspiziert und durchgespielt.“
„Hatte der Curry-Hannes also doch recht“, sinnierte sie und bemühte dabei einen der fast unzähligen Spitznamen von Hannes Schöler. Den sie natürlich alle kannten. Denn es gab nur noch zwei ernst zu nehmende Pommesbuden in der Stadt. Und Polizei ohne Imbiss … Das geht gar nicht!
„Was, meinst Du, hat sich da auf dem Lastzug abgespielt?“, wollte Corinna von Pattrick Born wissen.
„Keine Ahnung. Wirklich. Absolut null Ahnung. Dein Part, das rauszukriegen. Der Typ da drin sagt kein Wort. Nur seinen Namen. Jegor Solowjow aus Nowosibirsk, ganz weit hinten in Russland.“
„Na klasse. Wo ist der Verletzte? Wo ist die BMW-Fahrerin?“
„Der Verletzte, wirklich ganz schwer Verletzte, wurde gerade da drüben beim Getränkemarkt in den Rettungshubschrauber verladen und drinnen offenbar noch versorgt. Hoffentlich überlebt er das, der arme Hund. Und die BMW-Fahrerin sitzt drüben in dem anderen Rettungswagen. Sie soll aus Sicherheitsgründen in die Klinik, sagen die Sanis, weigert sich aber noch.“
Corinna ging rüber, klopfte kurz an die Seitentür des DRK-Fahrzeugs und öffnete. „Darf ich kurz?“, fragte sie und zeigte ihren Ausweis vor. Sie durfte. Jule Homrighausen saß aufrecht in einem gepolsterten Sitz, hatte eine Infusion im Arm und schaute zur Polizistin herüber. „Der ist mir einfach vorne auf die Haube geflogen. Aus dem Lastzug heraus. Das ist alles. Mehr kann ich nicht sagen. Es war fürchterlich.“