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Thomas Brezina:
Sisis schöne Leichen
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 edition a, Wien
www.edition-a.at
Lektorat: Maximilian Hauptmann
Covergestaltung: Bastian Welzer
Coverillustration: Bernd Ertl
Satz: Lucas Reisigl
Gesetzt in der Garamond
Gedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 25 24 23 22 21
ISBN 978-3-99001-542-1
eISBN 978-3-99001-543-8
THOMAS BREZINA
Kaiserin Elisabeth ermittelt

Inhalt
28. Mai 1866
Kapitel 01
29. Mai 1866
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
1. Juni 1866
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
2. Juni 1866
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
5. Juni 1866
Kapitel 22
Kapitel 23
6. Juni 1866
Kapitel 24
9. Juni 1866
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
10. Juni 1866
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
11. Juni 1866
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
15. Juni 1866
Kapitel 36
16. Juni 1866
Kapitel 37
Kapitel 38
19. Juni 1866
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
20. Juni 1866
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
21. Juni 1866
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
22. Juni 1866
Kapitel 51
Kapitel 52
23. Juni 1866
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
24. Juni 1866
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
18. August 1866
Kapitel 64
1. September 1866
Kapitel 65
29. Februar 2020
Kapitel 66
Danke
Für diesen Krimi wollte ich die Persönlichkeit von Kaiserin Elisabeth und die Atmosphäre am Kaiserhof kennenlernen und erfühlen. Dabei haben mir Expertinnen und Experten auf vielerlei Art geholfen. Ich bekam Spezialführungen und zahlreiche Unterlagen, wie zum Beispiel Elisabeths Kosmetikrezepte oder das Menü eines kaiserlichen Abendessens. Besonders wichtig waren die interessanten Gespräche mit
Mag. Michaela Lindinger vom Wien Museum
Dr. Elfriede Iby, Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung von Schloss Schönbrunn
Michael Wohlfahrt, Kurator Sisi Museum
Sowohl beim Planen des Mordes als auch bei den Überlegungen zur Ermittlung hat mir mein Freund Christian Reiter, Gerichtsmediziner, wertvolle Ideen und Informationen geliefert.
Da er außerdem Hobby-Imker ist, hat er mich auch auf diesem Gebiet beraten.
Verleger Bernhard Salomon, Lektor Maximilian Hauptmann und das Team der edition a haben dafür gesorgt, dass dieses Buch in bester Qualität erscheinen kann.
Es ist eine große Beruhigung zu wissen, dass meine Bücher und Projekte professionell und leidenschaftlich von Walter Fischl gemanagt werden, gemeinsam mit Michael Prügl und Bernhard Trenz. Alle drei sind mehr als berufliche Partner.
Während des Schreibens dieses Buches hatte ich viele Nachdenkphasen. Mein Mann Ivo hat es geduldig ertragen, dass ich auf den langen Spaziergängen mit unserem Hund Joppy kreativ geschwiegen habe. Sein Verständnis und seine Unterstützung sind einfach großartig.
Danke, danke, danke an alle! Ich weiß zu schätzen, von so vielen wunderbaren Menschen umgeben zu sein.


»Ida, ich möchte schöne Leichen haben.«
Die Hofdame war an die ausgefallenen Wünsche von Kaiserin Elisabeth gewohnt. Doch dieser ließ sie verzweifeln. Wie sollte ihn Ida erfüllen?
Bekleidet mit einem weißen Morgenmantel aus Seide, Ränder und Saum mit Spitzen besetzt, lag die Kaiserin auf der Chaiselongue in ihrem Gartenappartement im Schloss Schönbrunn. Die Fenster des Raumes waren geschlossen, um Hitze und Licht draußen zu halten. Die hohen Temperaturen waren für die Jahreszeit ungewöhnlich. Vielleicht waren sie der Grund für Elisabeths nicht nachlassende Migräne.
»Bringe mir schöne Leichen«, wiederholte Elisabeth.
Für Ida klang die Kaiserin wie ein krankes Kind, das sich von den Eltern ein Geschenk zur Besserung wünschte.
»Elisabeth, du wirst verstehen…«, begann Ida. Es gab nur wenige Menschen, die Kaiserin Elisabeth mit dem vertrauten Du ansprechen durften. Ida gehörte zu ihnen, zumindest, wenn die beiden alleine waren. »Es ist nicht so einfach, sie zu beschaffen.«
Die Kaiserin seufzte. Obwohl Ida ein Jahr jünger war als Elisabeth, empfand die Hofdame manchmal mütterliche Gefühle für sie. Ganz besonders an einem Tag wie heute, an dem Elisabeth so litt.
Ihre langen, dunkelbraunen Haare waren zu zwei lockeren Zöpfen geflochten. Sie ruhten hinter der Kaiserin leicht erhöht auf Gestellen mit vergoldeten Füßen und Querstangen. So wurde die Kopfhaut entlastet, für die das Gewicht der wadenlangen Haare eine große Strapaze darstellte. Der Hofarzt hatte der Kaiserin diese Therapie bei Migräne und Kopfschmerz verordnet.
»Wirst du heute Abend dem Empfang beiwohnen und der Delegation aus China die Ehre geben?«, fragte Ida, obwohl sie die Antwort im Voraus kannte.
»Bestelle dem Kaiser, dass ich zu krank dafür bin.« Elisabeth schloss die Augen und atmete tief aus.
»Ich werde es auf der Stelle tun.« Ida war bereits aufgestanden, doch die Kaiserin rief sie zurück.
»Warte!«
Ida wandte sich um.
»Du vergisst die schönen Leichen nicht.«
Im Stillen verfluchte Ida die Friseuse Fanny. Sie hatte der Kaiserin vor einigen Tagen beim täglichen Bürsten von den schönen Leichen erzählt. Seither wollte Elisabeth eine ganze Sammlung davon anlegen.
»Ich tue mein Bestes«, versprach sie.
»Beeile dich. Ich will die Schönheit des Todes studieren.«
»Sehr wohl, Elisabeth.« Ida verließ das Zimmer und schloss leise die Türe hinter sich. Als sie zur Wendeltreppe schritt, die nach oben in das kaiserliche Appartement führte, räusperte sich jemand hinter ihr. Ida drehte sich erschrocken um.
Neben der Tür, die in den Garten führte, saß ein Mann, den Hut auf seinen Knien. Niemand außer den Hofdamen und Bediensteten hatte Zutritt zum privaten Appartement der Kaiserin.
Ida öffnete den Mund, um nach der Wache zu rufen. Der flehende Blick des Mannes ließ sie innehalten. Ihre Augen wanderten über seinen schlichten Anzug. Rock und Hosen waren weit und an Ellbogen und Knien etwas ausgebeult. Sein Haupt war bis auf einen dünnen, dunklen Haarkranz kahl. Die blauen Flecken an seinen Fingern sahen nach Tinte aus. Sie kannte ihn. Aber woher?
»Alfred Oberland«, stellte er sich vor. »Hofbibliothekar und Lehrer der Künste für Seine Hoheit, den Kronprinzen.«
Ida erinnerte sich, den Mann in Begleitung von Josef Latour gesehen zu haben, der seit einigen Monaten für die Erziehung des Kronprinzen verantwortlich war.
»Wer hat Sie hereingelassen?«
Oberland hatte eine leicht gebückte, devote Haltung. »Oberst Latour hat mich bei Ihrer Majestät, der Kaiserin, angekündigt.«
»Das muss mir entgangen sein«, entgegnete Ida kühl. Sie wusste über alle Audienzen und andere Verpflichtungen von Elisabeth Bescheid.
»Oberst Latour hatte die Freundlichkeit, der Kaiserin zu bestellen, dass ich ihr etwas übergeben möchte.« Er zog ein flaches Päckchen aus seinem schwarzen Rock. Es war in festes, graues Papier eingeschlagen und mehrfach mit Faden umwickelt. Ein dickes, grünes Siegel prangte über dem Knoten der Verschnürung.
Idas Blick wanderte von dem Päckchen zu den wässrigen Augen des Mannes. Es rührte sie, wie er mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick dastand.
»Ich bitte Sie, ich muss zur Kaiserin und das hier in ihre Hände legen.« Oberlands Stimme war ein leises Flehen.
»Das ist am heutigen Tage unmöglich.« Die Hofdame stellte sich vor die Tür des Zimmers, in dem Elisabeth lag, um ihm ohne weitere Worte klarzumachen, dass er gehen sollte.
»Bitte«, wiederholte er leise. »Es ist von großer Dringlichkeit. Glauben Sie mir!«
»Geben Sie mir, was Sie für die Kaiserin haben. Ich werde es an sie weiterleiten.« Ida streckte die Hand nach dem Päckchen aus, aber Oberland zog es zurück.
»Nein, nein, nein, ich muss es ihr persönlich geben und dazu eine sehr vertrauliche Mitteilung machen.«
»Suchen Sie um eine neue Audienz an.« Ida konnte mit ihren 26 Jahren bestimmter auftreten, als ihre mädchenhafte Erscheinung erwarten ließ.
Alfred Oberland hob an, etwas zu sagen, unterließ es dann aber. Er wandte sich um und schritt zum Ausgang. Grüßend nickte er ihr noch einmal zu, bevor er die Türe öffnete und die Stufen hinunterging.
Kurz darauf war er im Park von Schloss Schönbrunn verschwunden.


Latour wusste, dass er keine Schuld an dem trug, was die Kaiserkinder an diesem Tag hatten mitansehen müssen. Er konnte doch nicht ahnen, dass der Mann vor Gisela und Rudolfs Augen tot umfallen würde.
Josef Latour war erst seit einigen Monaten von Elisabeth mit der Erziehung des Kronprinzen betraut worden. Er wusste, dass sie seine Besetzung gegen den Widerstand des Kaisers durchgesetzt hatte. Man erzählte sich im Schloss, Elisabeth hätte dem Kaiser ein Ultimatum gestellt: Entweder sie durfte allein darüber entscheiden, wo sie wohnte, wohin sie reiste und von wem der Kronprinz unterrichtet wurde, oder sie würde Kaiser Franz Joseph verlassen.
Der Kaiser hatte nachgegeben. Ob aus Liebe oder Angst vor dem Skandal, konnte Latour nicht einschätzen.
Und nun dieser schreckliche Vorfall. Dabei hatte alles wunderbar begonnen.
Alexander, der junge Naturkundelehrer, hatte vorgeschlagen, mit Rudolf einen Ausflug zu machen. Um ihm das Leben der Bienen näherzubringen, wollte er mit dem Kronprinzen und Latour seinen Vater besuchen, dessen große Leidenschaft die Imkerei war.
Kronprinz Rudolf und seine zwei Jahre ältere Schwester Gisela wurden getrennt unterrichtet. Die Erzherzogin hatte einen weiblichen Hofstaat, der sich um ihre Ausbildung kümmerte. Die Geschwister sahen sich nur noch selten, und das schmerzte sie sehr. Rudolf beklagte sich oft darüber, wie sehr er seine Schwester vermisste. Der Ausflug war auch dafür gedacht, den beiden einen gemeinsamen Tag zu ermöglichen. Kaiserin Elisabeth hatte Latour ausdrücklich ihre Zustimmung erteilt. Ob sie mit dem Kaiser darüber gesprochen hatte, darauf wollte Latour allerdings nicht wetten.
Den ganzen Hinweg war der kleine Kronprinz so vergnügt gewesen, wie es ein Siebenjähriger nur sein konnte. Er genoss die Kutschenfahrt und redete die ganze Zeit vom Honig, den er so gerne aß. Gisela war neugierig, wie echte Bienenwaben aussahen. In den letzten Monaten hatte Latour öfters solche Momente erlebt. Es waren Momente, in denen er erkannte, dass Rudolf und Gisela gewöhnliche Kinder waren, unbeschwert und unberührt von der komplizierten Welt der Erwachsenen. Dann schmerzte es Latour manchmal, wenn er daran dachte, was diese Welt für die beiden Kinder, vor allem für Rudolf, bereithielt.
Latour und Alexander waren mit den Kaiserkindern zu einem Fuhrwerkerhaus gefahren, nicht unweit des Praters.
»Fuhrwerke gibt es dort schon seit einer Generation nicht mehr«, erzählte Alexander, als sie in die Straße einbogen, in der das Haus lag. »Mein Vater war der erste in der Familie, der ein Universitätsstudium absolvierte. Doch seine große Liebe gilt der Imkerei.«
Alexanders Mutter, eine rundliche Frau mit rosigen Backen, hatte die Gäste empfangen und tief vor den kaiserlichen Hoheiten geknickst. In der Küche warteten auf einem Tisch mit Honigcreme gefüllter Kuchen und Limonade, die mit Honig gesüßt war. Zwei Gläser Honig standen zum Mitnehmen bereit.
Als hätten sie seit Tagen nichts zu essen gehabt, machten sich die Kinder über Kuchen und Limonade her.
Alexanders Vater kam aus dem Garten und begrüßte die hohen Besucher. Er schwitzte und sein kragenloses Hemd klebte an seinem Rücken. Auf Latour machte er einen nervösen Eindruck. Vermutlich hatte seine Aufregung mit den Kaiserkindern zu tun. Seine Frau bot ihm Kuchen und Limonade an, aber ihr Mann lehnte alles ab.
Durch eine niedrige Tür traten sie ins Freie. Der Imker zeigte ihnen eine Holzkiste, die an der Oberseite einen Deckel hatte.
»Die neueste Technik der Imkerei«, erklärte er und zog Holzrahmen heraus. »In diesen Rahmen bauen die Bienen aus Wachs ihre Waben. Sind sie mit Honig gefüllt und verschlossen, kann ich sie herausnehmen. Ich kratze die Wachsdeckel ab und stelle die Rahmen in diese Schleuder. Auch sie ist brandneu. Erst vor einem Jahr wurde sie vorgestellt und ich habe eine der ersten erstehen können.«
Die Schleuder war eine nach oben hin geöffnete Trommel mit einer Kurbelmechanik. Rudolf und Gisela durften beide an der Kurbel drehen und die leere Schleuder in Betrieb sehen.
Höhepunkt der ungewöhnlichen Unterrichtsstunde war der Besuch bei den Bienenstöcken.
»Für den Besuch der kaiserlichen Hoheiten habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht«, verkündete der Imker. »Zum ersten Mal in diesem Jahr werde ich einen vollen Rahmen aus einem Stock entnehmen. Die Hoheiten müssen mir dann helfen, den Honig herauszuschleudern.«
Er führte die Besucher zu einem Strauch, wo ein Tisch und zwei Stühle bereitstanden. Rudolf und Gisela setzten sich und konnten wie im Theater zu den Bienenstöcken sehen, die sich zehn Meter entfernt befanden.
Der Imker hatte ein graues Arbeitsgewand übergestreift, bei dem Ärmel und Hosenbeine an den Gelenken eng verschlossen werden konnten. Danach setzte er sich einen Hut auf, von dessen Krempe ein dünner Schleier auf seine Schultern herabfiel.
Auf dem Tisch wartete ein blauer Henkelkrug mit einer aufgemalten weißen Biene.
»Die ist aber groß«, stellte Gisela fest. »Und so schön gemalt.«
»Ein Imker hat immer kaltes Wasser bereit«, erklärte Alexanders Vater. »Es muss sehr kalt sein, denn falls mich eine Biene sticht, kann ich den Stich sofort damit kühlen.«
Augenzwinkernd fügte er hinzu: »An einem so warmen Tag dient es mir aber vor allem, um den Durst bei der Arbeit zu stillen.« Zum Beweis nahm er einen großen Schluck. Danach schüttelte er den Krug und warf einen Blick hinein.
»Kaum noch etwas drin«, stellte er ein wenig verlegen fest. »Die Vorbereitungen haben mich durstig gemacht… Ich werde ihn später nachfüllen.«
Latour konnte sehen, wie stolz Alexander auf seinen Vater war. Ihm gefiel, wie kundig und spannend er den Kaiserkindern von der Imkerei erzählte.
Die kaiserlichen Hoheiten beobachteten aufgeregt, wie der Imker zu den Kisten ging. Doch auf halbem Weg stockte er. Er fuhr sich mit der Hand zum Hals und wandte sich um. Seine Augen waren aufgerissen, als hätte er etwas Schreckliches gesehen. Nach Luft ringend fiel er zu Boden.
»Vater, Vater!« Alexander lief sofort zu ihm. Alfred Oberland lag seitlich im Gras und kehrte den Kindern den Rücken zu. Als er nicht reagierte, rüttelte Alexander seinen Vater an der Schulter. Da er noch immer kein Lebenszeichen von sich gab, drehte er ihn auf den Rücken, hob den Schleier und öffnete den obersten Knopf des Hemdes. »Ein Arzt, holt den Doktor! Schnell! Schnell!«, rief er.
Schützend hatte sich Latour vor die Kinder gestellt. Er zog sie in die Höhe und schob sie Richtung Haus. Als er zurückblickte, benetzte Alexander gerade das Gesicht des Vaters mit dem Rest des Wassers aus dem blauen Krug.
Seine Mutter kam aus der Küche und verstand die Aufregung zunächst nicht. Sie deutete auf die Hoheiten. »Hat sie eine Biene gestochen?«
»Holen Sie einen Arzt. Ihr Mann braucht Hilfe«, raunte Latour ihr zu. Er brachte die Kinder in die Küche und setzte sie an den Tisch, an dem sie zehn Minuten zuvor Kuchen gegessen hatten. Gisela hatte den Arm um den kleinen Bruder gelegt, dessen Augen ständig von Latour zu seiner Schwester und dann wieder durch die offene Tür wanderten. Der Arzt musste in der Nähe seine Praxis haben, vermutete Latour, als ein Mann mit Tasche in der Hand nur wenig später an ihm vorbei nach draußen stürmte. Alexanders Mutter lief hinter ihm. Es dauerte nur kurz, dann kam sie zurück. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Eilig führte Latour die kaiserlichen Hoheiten aus dem Haus und verfrachtete sie in die Kutsche. Er trug dem Kutscher auf, sich um die zwei zu kümmern. Latour selbst lief in den Garten zurück, wo er den geschockten Alexander und seine weinende Mutter fand. Der Arzt stand gerade auf und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Es muss ein Bienenstich gewesen sein. Wahrscheinlich im Mund, vielleicht auch in der Nase. Er ist erstickt.«
Alexanders Mutter schluchzte auf und umarmte ihren Sohn.
»Es ging schnell«, meinte der Arzt bloß.
Latour trat neben Mutter und Sohn. »Mein aufrichtiges Beileid.« Er war mit der Situation überfordert und wusste nichts anderes zu tun, als sein Mitgefühl auszusprechen.
Der Arzt holte Papiere aus seiner Tasche, setzte sich an den Tisch, auf dem noch der blaue Henkelkrug stand, und begann, den Totenschein auszufüllen. Latour bot seine Hilfe an, aber Alexander lehnte ab. Die kaiserlichen Hoheiten mussten auf dem schnellsten Weg zurück nach Schönbrunn.
Auf dem ganzen Rückweg sprach Latour kein Wort. Ihn plagte die Sorge, dass die Kaiserin seine neuen Lernmethoden, zu denen auch dieser Ausflug gehörte, kritisieren würde. Außerdem konnte er gewiss sein, dass sein Vorgänger, Graf Gondrecourt, von dem Vorfall erfahren würde. Der Graf war unehrenhaft entlassen worden und Latour war daran nicht unbeteiligt gewesen. Er würde jede Gelegenheit nutzen, um sich an Latour zu rächen.


Elisabeth saß am kleinen Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer und verfasste einen Brief an ihre Schwester Helene. Auf dem roten Sofa lag Houseguard ausgestreckt. Der Wolfshund gab leise schnarchende Laute von sich. Hinter Elisabeth flog die Tür auf. Sie drehte sich um und wollte gegen die Störung protestieren, als sie sah, dass es Rudolf war, der hereinstürmte. Sein Gesicht glänzte feucht, sein Haar klebte an der Stirn. Das Hemd hing aus der Kniehose und ein Strumpf war bis zum Schuh hinuntergerutscht.
Hinter Rudolf folgte seine große Schwester Gisela. Die Schleifen in ihrem dunkelblonden Haar waren aufgegangen, die Enden hingen lose herab.
Houseguard hob den Kopf und knurrte.
»Still«, befahl ihm Elisabeth. »Du kennst die zwei doch.«
Der Wolfshund klopfte nun zur Begrüßung mit dem Schwanz auf den seidenen Bezug des Sofas.
»Mama!« Rudolf schluchzte auf, lief zu ihr und verbarg seinen Kopf in ihrem Schoß. Elisabeth hob die Hände und legte sie nach kurzem Zögern tröstend auf den Jungen.
Gisela blickte sie mit großen Augen an. Ihre Unterlippe zitterte.
»Ist etwas geschehen?«, wollte Elisabeth wissen.
Als Antwort huschte Gisela neben sie und umklammerte ihren Oberarm.
Mit einer Hand strich die Kaiserin Rudolf über den Kopf, die andere musste sie verdrehen, um Giselas Gesicht zu ertasten. Sie fühlte etwas Feuchtes auf ihren Wangen. Gisela weinte.
Elisabeth hörte ein kurzes Räuspern. Sie sah Latour mit seiner betont aufrechten Haltung eintreten. Hinter sich schloss er die Türe. Sein Haar war dicht und gescheitelt, ein buschiger, sorgsam gepflegter Schnauzbart verdeckte den Großteil seiner Oberlippe.
»Latour?« Die Kaiserin deutete mit den Augen auf die verstörten Kinder.
Elisabeth hörte, wie Rudolf etwas murmelte.
»Was hast du gesagt?«
Rudolf richtete sich auf. »Er kommt doch morgen wieder? Morgen ist er wieder da, oder?«
Gisela schluchzte.
Elisabeth war ratlos über den Gefühlsausbruch der Geschwister. Josef Latour schien nach Worten zu ringen.
Houseguard verließ das Sofa. Helle Haare blieben auf dem Stoff zurück. Der Wolfshund gähnte und schüttelte sich, worauf sich noch mehr Haare aus dem Fell lösten und durch die Luft schwebten.
Die Kaiserin wollte nach der kleinen Glocke greifen, die auf dem Schreibtisch stand, die Umklammerung der Kinder hinderte sie aber daran. Latour kam zu Hilfe und reichte Elisabeth die Glocke. Es dauerte nur einige Sekunden, bis ein Diener eintrat.
»Majestät?«
»Limonade für die Kinder und…?« Sie blickte Latour fragend an.
»Limonade auch für mich, bitte.«
Der Diener verneigte sich und verschwand so schnell und lautlos, wie er gekommen war.
»Rudolf, Gisela, ihr erdrückt mich«, sagte Elisabeth und versuchte, sich behutsam zu befreien. Doch Rudolf krallte sich nur noch fester in den gekreppten Stoff des Rockes.
Josef Latour fasste den Kronprinzen sachte an den Schultern. »Kaiserliche Hoheiten, setzt Euch mit mir. Wir trinken Limonade und beruhigen uns.«
Die Kinder gehorchten. Er nahm sie mit zum Sofa, auf dem Houseguard gelegen hatte. Als Elisabeth den Mund öffnete, um sich nach dem Grund für die Aufregung zu erkundigen, platzte Gisela schon damit heraus.
»Er ist tot.«
»Wer ist tot?«, fragte Elisabeth erschrocken.
Rudolf und Gisela schluchzten wieder leise.
Latour wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Majestät, auf unserem heutigen Ausflug zu Studienzwecken waren die kaiserlichen Hoheiten unglücklicherweise Augenzeugen eines bedauerlichen Unfalls.«
»Wie fürchterlich.« Elisabeth wollte fragen, wer ums Leben gekommen war, aber es erschien ihr besser, damit zu warten, bis sie mit Latour allein war.
»Als wir ins Schloss zurückkamen, wollten die Hoheiten sofort zu Ihnen und ich konnte ihnen diese Bitte nicht verwehren.«
»Natürlich nicht.« Die Kaiserin sah ihre Kinder mitfühlend an. »Meine armen Lieblinge.«