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Sie war jung und dumm gewesen, als der Kaiser sich in sie verliebt und sie diese Verliebtheit als Auszeichnung empfunden hatte. Mit 15 Jahren hatte sie keine Ahnung davon gehabt, was es bedeutete, Kaiserin von Österreich zu sein. Ihr Vater war über die Heirat nie begeistert gewesen. Elisabeth hatte den Freiheitsdrang von ihm in die Wiege gelegt bekommen.
Sie erinnerte sich an die ersten Tage nach der Hochzeit, die sie in Schloss Laxenburg verbracht hatten. Die beiden Mütter lauerten wie Geier auf einen Beweis, dass die Ehe vollzogen worden war. Franz Joseph hatte sie die meiste Zeit allein gelassen, weil er den Regierungsgeschäften nachgehen musste. Erzherzogin Sophie, seine Mutter, hatte den ganzen Tag etwas an Elisabeth auszusetzen gehabt und mit ernster Miene ständig angemerkt, dass sie sich dem Hofprotokoll unterzuordnen hatte.
Damals war ihr klargeworden, dass sie in einem goldenen Käfig gefangen saß. Aus Sisi, die voller Lebensfreude steckte, war Kaiserin Elisabeth geworden, die von Tag zu Tag bedrückter wurde.
In ihren Briefen an die geliebte Schwester Sophie hatte sie einmal geschrieben: Franz Joseph ist mehr Monarch als Ehemann. Die Pflicht geht für ihn immer vor. Die wichtigste Frau in seinem Leben ist seine Mutter. Es regiert in ihm der Kopf, kaum aber sein Herz.
Die quälenden Verpflichtungen als Kaiserin, der Tod der ersten Tochter, die Geburt von Rudolf, das alles hatte Elisabeth krank gemacht. Der schwere Husten, der sie quälte, erforderte eine Luftveränderung, hatte der Arzt diagnostiziert und Madeira vorgeschlagen. Elisabeth war glücklich gewesen, dem Hof, aber auch Franz Joseph und seiner Mutter entfliehen zu können.
Wehmütig dachte sie oft an ihre Kinderzeit zurück. Ihre Mutter hatte immer darüber geklagt, sie könne nie stillsitzen und interessiere sich wenig für das Lernen. Ihr Vater aber hatte ihre Liebe zum Reiten gefördert, ihre Zeichnungen bewundert und sich ihre ersten selbst verfassten Verse angehört. Wie gerne war sie mit ihm in die Berge gegangen oder hatte seinem Zitherspiel gelauscht.
Damals war sie die stürmische, vergnügte Sisi gewesen.
»Sisi«, sagte Franz Joseph neben ihr und riss sie aus der Grübelei. War er die ganze Zeit wach gewesen? Er verwendete ihren Kosenamen. Das bedeutete, er wollte etwas von ihr.
»Was willst du?«, fragte Elisabeth.
»Du hast heute schon wieder das Abendessen ausgelassen.«
»Ich war bei Rudi und Gisela. Sie brauchten ihre Mutter.« Elisabeth konnte sich diese Spitze nicht verkneifen, die gegen Erzherzogin Sophie, des Kaisers Mutter, gerichtet war, und vom Kaiser auch so verstanden wurde.
»Man hat mir zugetragen, dass einer der Lehrer plötzlich verstorben wäre. Die Kinder mussten es mitansehen, nicht wahr?«
»Deshalb habe ich den Abend mit ihnen verbracht.«
»Sisi, die neuen Lehrer haben nicht den Stand, um einen Kronprinzen zu unterrichten.«
»Wurde nicht einer deiner Lehrer im Duell getötet? Ist das der richtige Stand, um Kinder zu unterrichten? Wenn zwei Männer die Waffen aufeinander richten, weil sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen?«
»Sisi, du musst das verstehen…«
»Ich muss nichts«, erinnerte ihn Elisabeth.
Das Schweigen bildete eine unsichtbare Wand, die sich mitten im Bett zwischen die Eheleute schob. Schließlich schliefen sie ein, jeder auf seiner Seite.


Kurz vor Mittag nahm Ida vor dem Haupteingang zum Ehrenhof des Schlosses einen Umschlag entgegen. Sie stand unter einem Kastanienbaum und blickte auf den Hof, wo das übliche Treiben herrschte: Kutschen kamen und brachten Bedienstete, wie Adelige und Mitarbeiter der kaiserlichen Kanzlei. Handwerker und Lieferanten eilten ein und aus.
Ida wollte sich nicht zu weit vom Schloss entfernen, falls die Kaiserin ihre Dienste benötigte. Gleichzeitig wollte sie nicht beim Treffen mit dem ungehobelten Burschen beobachtet werden. Peter, der Helfer von Amalie Buback, hatte den langen Weg quer durch Wien zurückgelegt, um den Umschlag zu übergeben. Und schon gar nicht wollte sie, dass Peter herausfand, für wen sie wirklich arbeitete.
»Es sind drei«, sagte er. »Eines von einer Gräfin, eines von dem Selbstmörder und eines von einem Mann, der heute beerdigt wird.«
Ida kramte in ihrem kleinen Beutel nach Münzen, um den vereinbarten Preis zu bezahlen. Dann aber überlegte sie es sich anders.
»Ich will die Bilder sehen, bevor ich bezahle.«
Peter schob sich die Kappe in den Nacken. Widerwillig öffnete er den Umschlag und entnahm die Photographien. Es waren drei dünne Platten mit graubraunen Bildern.
Die Toten waren alle von der Seite aufgenommen worden. Ihre Köpfe ruhten auf Kissen. Die Qualität der Bilder war erstklassig, wenn auch Ida von den Motiven wenig begeistert war. Das musste sie aber auch nicht sein. Der Kaiserin sollten sie gefallen. Sie glaubte, die tote Gräfin zu kennen und sie schon einmal bei einer Festivität im Schloss oder in der Winterresidenz gesehen zu haben. Sie ruhe sanft, dachte Ida. Den Selbstmörder legte sie schnell unter die anderen Bilder, weil sie sich den Anblick und die Erinnerung an die klaffende Wunde an seiner Schläfe ersparen wollte.
Das dritte Bild zeigte einen älteren Mann mit dunklem Haarkranz und Glatze. Ida zog die Luft ein. Sie drehte das Bild, sodass der Kopf aufrecht vor ihr stand. Inständig hoffte sie, sich zu täuschen.
»Kennen Sie den Namen dieses Mannes?«, wollte sie von Peter wissen.
Der Bursche warf die Kappe mit einer Hand hoch und fuhr sich mit der anderen durch die Haare. »Irgendwas mit Land oder so. Albert, glaube ich.«
»Oberland?« Ida hoffte inständig, der Bursche würde verneinen.
»Ja, das ist der Name. Albert Oberland.«
»Alfred Oberland!«, korrigierte ihn Ida.
»Kann auch sein. Ich merke mir Namen nicht so gut.«
Sie wagte noch einen Blick auf das Foto. Kein Zweifel. Er war es.
In Idas Ohren begann es zu rauschen. Das Klappern der Pferdehufe auf der Straße verhallte. Die Leute, die geschäftig herumeilten, verschwammen in ihren Augenwinkeln. In ihrem Kopf lief noch einmal ab, was sie vor wenigen Tagen erlebt hatte.
Sie sah Alfred Oberland vor sich stehen, das Päckchen in der Hand. Er hatte von großer Dringlichkeit gesprochen und davon, der Kaiserin eine vertrauliche Mitteilung machen zu müssen.
Der Vorfall war Ida seltsam erschienen, doch die Beschaffung schöner Leichen hatte sie darauf vergessen lassen.
Alfred Oberland war tot.
Vor wenigen Tagen war er ihr noch gesund erschienen, wenn auch ausgesprochen nervös.
»Woran ist der Mann gestorben?« Sie sah Peter auf eine strenge Art an, die ihn dazu bringen sollte, seine Erinnerung etwas anzustrengen.
»Weiß ich nicht.«
»Haben Sie nichts von den Verwandten erfahren?«
Peter zuckte mit der Schulter. Doch dann erhellte sich sein Gesicht. »Da war etwas. Sein Bruder wollte, dass wir ein Foto machen, für die Gattin des Verstorbenen. Er sagte etwas von einer Biene, die ihn gestochen hat. Imker wäre er gewesen. Amalie hat ihm den Mund aufgemacht.«
»Wieso hat sie so etwas getan?« Ida spürte, wie bei der Vorstellung ihre Beine schwächer wurden.
»Das müssen Sie Amalie selbst fragen. Sie hat gemeint, irgendetwas sei eigenartig. Aber ich habe nicht nachgefragt. Bin froh, wenn ich die Toten nicht zu lange sehen muss.«
Ida schaffte es gerade noch, dem Burschen das Geld in die Hand zu drücken. Mit den Fotos eilte sie zum Schloss.
Was sollte sie der Kaiserin sagen?
Ida hätte den Mann unter keinen Umständen vorlassen dürfen. Aber wenn sie gewusst hätte, dass er so kurze Zeit später tot sein würde…
Was hatte das Päckchen enthalten?
Alfred Oberland war ein Lehrer des Kronprinzen. Sie wollte Latour nach ihm fragen. Er musste mehr wissen. Vielleicht konnte er ihr auch einen Rat geben, wie sie ihre seltsame Begegnung mit Alfred Oberland der Kaiserin erklären sollte.
Ida bekreuzigte sich im Gehen. Friede der Seele des armen Mannes.


»Wie kommt diese Photographie ins Schloss? Wieso bringen Sie sie in die Gemächer des Kronprinzen?« Latour bemerkte, dass er fast schrie. Ida starrte ihn überrascht an.
Latour bewohnte die Landschaftszimmer neben Rudolfs Appartement. Sie waren vom Boden bis zur Decke von einem Künstler gestaltet und bemalt worden. Die Wandbilder gaben den Eindruck, über eine Insel zu blicken, auf der sich schmale Pfade zwischen Bäumen dahinzogen, die große Früchte trugen. In der Ferne schimmerte das Blau des Meeres. Normalerweise hatten die Malereien eine beruhigende Wirkung auf Latour. Diesmal aber konnten die sanften Farben seine Aufregung nicht mäßigen.
Ida wich seinem Blick aus. Sie sah über seine Schulter und fixierte etwas an der Wand. Er drehte sich um. Es handelte sich um ein Stillleben aus aufgeschnittenen Melonen, das Teil des Landschaftsbildes war.
Latour sprang auf.
»Das Foto darf unter keinen Umständen in die Hände der kaiserlichen Hoheiten fallen. Sie sind über den Schock noch immer nicht hinweg.«
»Was für ein Schock?«
Latour schilderte mit wenigen Worten den Tod des Imkers. »Wie kommen Sie an das Bild und weshalb bringen Sie es zu mir?«
Ida erzählte ihm von der neuen Leidenschaft der Kaiserin, schöne Leichen zu sammeln. Latour ging, während sie sprach, im Raum auf und ab. Als sie fertig war, ließ er sich auf das Sofa niedersinken und faltete die Hände vor dem Gesicht zu einem Dach. Er lehnte die Stirn dagegen und überlegte.
»Soll ich die Kaiserin vom Auftauchen des Lehrers unterrichten?«, wollte Ida von Latour wissen. »Haben tatsächlich Sie Herr Oberland bei der Kaiserin angekündigt, wie er behauptet hat?«
»Er hat sich vor einer Woche an mich gewandt und inständig gebeten, dass ich für ihn bei der Kaiserin vorspreche. Ich hatte aber keine Gelegenheit dazu und wollte es gleich nach dem Besuch des Kronprinzen und seiner Schwester bei Oberland tun. Die Hoheiten hätten ihrer Mutter sicherlich begeistert vom Besuch beim Imker erzählt. In diesem Zusammenhang sah ich eine gute Gelegenheit, Ihre Majestät um Audienz für den Lehrer zu bitten.«
»Hat er Ihnen gegenüber das Päckchen erwähnt?«
Latour verneinte. »Er sprach von einer wissenschaftlichen Entdeckung, bei der er …« Latour versuchte sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. »Oberland redete von einer wissenschaftlichen Entdeckung, die den Schutz einer Kaiserin benötigt.«
»Verstehen Sie, was er damit gemeint hat?«
»Nein«, sagte Latour. »Oberland war ein guter Lehrer und bei den Hoheiten sehr beliebt«, fuhr er fort. »Er verstand es, lebendig über Musik und Komponisten zu erzählen. Er spielte den beiden auch gerne auf seiner Geige vor. Gleichzeitig aber war Oberland auch ein seltsamer Zeitgenosse, sehr in sich gekehrt, sehr in seine Studien vertieft. Und oft mit seinem Steckenpferd, der Imkerei, beschäftigt.«
»Was raten Sie mir?«, wollte Ida wissen. »Was soll ich der Kaiserin sagen?«
»Die Wahrheit. Sie haben die Pflicht, der Kaiserin die Begegnung mit Oberland zu schildern.«
»Würden Sie mich begleiten? Ich nehme an, die Kaiserin wird Fragen stellen. Wahrscheinlich können Sie einige eher beantworten als ich.«
Latour war bereit.


Die Unterredung fand im Gartenzimmer statt. Elisabeth saß auf dem Sofa, Houseguard lag neben ihr. Seine Pfoten hingen über die Kante. Er machte einen sehr majestätischen Eindruck. Während sie ihm den Kopf streichelte, hörte sich Elisabeth an, was ihr Ida und Latour zu sagen hatten.
»Was kann er damit gemeint haben: eine Entdeckung, die meinen Schutz benötigt?«, fragte Elisabeth, als die beiden fertig erzählt hatten.
»Ich habe leider keine Erklärung, Majestät«, sagte Latour.
»Ich hätte den Mann ernst nehmen sollen«, sagte Ida betroffen. »Jetzt ist es zu spät.«
Die Kaiserin machte den beiden keine Vorwürfe. »Es ist Ihre Pflicht, mich vor zudringlichen Menschen zu bewahren.«
Oberlands Annahme, sie könnte eine wissenschaftliche Erkenntnis schützen, berührte Elisabeth. Sie wurde manchmal um finanzielle Unterstützung gebeten, aber nie zuvor hatte ihr jemand eine solche Aufgabe zugetraut.
»Der Mann war mutig genug, zu mir vorzudringen«, überlegte Elisabeth laut. »Er wollte mir etwas geben, von dem wir nicht wissen, was es sein könnte.«
»Ein Buch vielleicht. Das Päckchen hätte eines enthalten können«, warf Ida ein.
Elisabeth strich mit einem Finger über das Foto des Toten.
»Vor den Augen meiner Kinder stirbt der Mann ganz plötzlich«, setzte sie fort. Sie sah ihre beiden Vertrauten an. »Eine Anhäufung recht eigenartiger Ereignisse, finden Sie nicht auch?«
Ida und Latour gaben ihr recht.
»Ich weiß nicht, ob es sich schickt, davon zu erzählen…« Ida zögerte.
Elisabeth deutete ihr, weiterzureden.
»Die Photographin hat dem Toten den Mund geöffnet.«
»Aus welchem Grund?« Die Vorstellung war Elisabeth unangenehm. »Ist so etwas überhaupt gestattet?«
Ida sah von Latour zur Kaiserin. »Die Photographin fand an der Leiche etwas ›eigenartig‹.«
»Schon wieder dieses Wort.« Elisabeth erhob sich, der Wolfshund mit ihr. »Eigenartig. Alle Geschehnisse im Zusammenhang mit Oberland sind eigenartig. Die Anhäufung ist noch größer als zuerst angenommen.« Sie deutete auf Ida. »Suche diese Photographin sofort auf. Sie soll dir erläutern, was sie an dem Toten so eigenartig fand.«
Zu Latour sagte sie: »Was ist mit dem Sohn des Toten? Hat er seinen Dienst als Lehrer wieder angetreten?«
»Er kam gestern, aber heute findet die Beerdigung seines Vaters statt, für die ich ihn wieder freigestellt habe.«
»Wenn er sich morgen zum Dienst einfindet, reden Sie mit ihm. Das Päckchen muss im Nachlass seines Vaters zu finden sein. Wenn es etwas enthält, das ich als Kaiserin schützen soll, so werde ich den Willen des Mannes gerne erfüllen.«
Elisabeths Neugier war erwacht. Die Strenge des Hofes schien verschwunden und sie fühlte sich so lebendig wie damals, als junges Mädchen in Bayern.
Was war sie doch für ein mutiges Kind gewesen. Sogar auf das Trapez hatte sie sich gewagt, das ihr Vater im Hof hatte aufhängen lassen. Wild war Sisi hin und her geschwungen. Sie wollte besser sein als die Artisten im Zirkus. Ihr Sturz hätte damals auch tödlich enden können. Die Mutter hatte die Akrobatik danach streng verboten. Doch die Aussicht auf Gefahr hatte Sisi nie geängstigt. Vielmehr war sie ihr immer Ansporn gewesen.
Nachdem Latour und Ida das Appartement verlassen hatten, beschloss Elisabeth, sich noch körperlich zu ertüchtigen. Der Nebenraum war ihren Wünschen entsprechend dafür eingerichtet worden.
Es gab Ringe an Seilen, eine Sprossenwand, Gewichte und ein Turngerät, das »Pferd« genannt wurde.
Wenn sie sich in den Ringen aufstützte und schwang, fühlte sich Elisabeth in ihre glückliche Kinderzeit versetzt. Das dunkle Gewand, das sie an diesem Tage trug, wehte um ihre Beine. Sie sah aus wie ein schwarzer Paradiesvogel mit langen Federn.
Sie war wieder Sisi. Sie fühlte sich frei.


Alexander stützte seine Mutter. Sie war seit dem Tod ihres Mannes in sich zusammengesunken und oft überkamen sie unkontrollierte Weinkrämpfe.
Familie Oberland besaß auf dem St. Marxer Friedhof ein Grab, in dem bereits Alexanders Großeltern beerdigt worden waren. In den grauen Grabstein waren bei der Errichtung die Namen seiner Eltern und ihre Geburtsjahre eingehauen worden. Bei ihrem Tod musste nur noch die Jahreszahl ergänzt werden.
ALFRED OBERLAND
1814 -
MARGARETHE OBERLAND
1817 -
Nie hätte Alexander gedacht, dass 1866 als Todesjahr eines Elternteils auf dem Stein stehen würde. Als Kind hatte er die Eltern für unsterblich gehalten und als Erwachsener waren ihm beide stets gesund vorgekommen.
Der Arzt der Familie hatte den Tod einen Unfall genannt. »Das Gift der Bienen ist nicht zu unterschätzen«, hatte er doziert. »Im Fuß oder in der Hand führt es zu Schwellungen, die jeder schon einmal erlebt hat. Sie geben eine Vorstellung, was sich in der Nase oder im Rachen abspielen kann.«
Alexander hätte den Arzt am liebsten aus dem Haus geworfen. Seine Mutter hatte heftig geschluchzt. Der geliebte Vater und Ehemann war tot, von einer Minute auf die andere aus dem Leben gerissen. Doch der Arzt hörte nicht auf, zu reden und Erklärungen abzugeben. Mitgefühl schien er nicht zu kennen.
Während der Trauerzug dem Sarg zum Grab folgte, musste Alexander immer wieder an den Moment denken, an dem sein Vater zusammengebrochen war. Er hatte sofort geahnt, dass der Vater tot war. Seine Augen hatten starr ins Leere geblickt und schnell ihren Glanz verloren.
Immer wieder liefen diese Momente und Bilder in seinem Kopf ab. Alexander konnte sie nicht verdrängen.
Seine Mutter stolperte und Alexander konnte sie gerade noch auffangen. Er drückte ihren Arm an sich.
Hinter ihnen hörte Alexander die knirschenden Schritte der Trauergäste und hin und wieder ein kurzes Schluchzen. Sein Vater war angesehen gewesen, auch wenn er die Zurückgezogenheit liebte. Zum Begräbnis waren Leute gekommen, denen Alexander nie zuvor begegnet war. Sie hatten sich als Kollegen aus der Hofbibliothek und als Historiker der Universität vorgestellt. Sein Onkel, seine Tante, zwei Cousinen, einige Freunde und Bekannte waren auch unter den Trauernden. Alle vereinte die Erschütterung über den unerwarteten Tod von Alfred Oberland.
Als sie das offene Grab erreichten, blieb der Pfarrer neben dem Erdhügel stehen. Vier Männer des Bestattungsunternehmens, in schwarze Gewänder gehüllt, hoben den Sarg vom Wagen, den sie selbst gezogen hatten. Der Priester begann, die Worte der Einsegnung zu sprechen.
Ein leichter Wind strich über die Trauergemeinde hinweg und ließ das Gewand des Pfarrers flattern. Alexander überkam ein Gefühl von unendlicher Einsamkeit. Natürlich hatte er noch seine Mutter, aber der Vater war der wichtigste Mensch in seinem Leben gewesen.
Alexander war ein kranker und schwächlicher Junge gewesen. In der Schule war er wegen seiner zarten Glieder und Blässe verspottet worden. Sein Vater hatte ihn immer getröstet und versichert, auch in einem Kind wie ihm steckten viele Talente. Er hatte seine Wissbegier und seine Freude am Lesen gefördert und ihn ständig mit Büchern versorgt.
Wenn andere seines Alters feierten, tranken und tanzten, ging Alexander nicht mit. Ihm fehlte der Mut dazu. Er bekam einen roten Kopf, wenn er mit einem Mädchen sprach, und da sein linkes Bein ein wenig kürzer war und er hinkte, traute er sich nicht zu tanzen. Als sein Vater noch lebte, war Alexander nie allein gewesen. Was aber sollte nun werden?
Bei den Worten des Geistlichen spürte Alexander Bitterkeit in sich hochsteigen. Trost empfand er keinen, wenn er von Vorausgehen und Auferstehung und dem versprochenen Wiedersehen hörte. Sein Vater, sein geliebter und hoch geschätzter Vater, war nicht mehr unter ihnen und er würde ihn nie wieder um Rat fragen können. Er hatte einen wahren Freund verloren. Seinen einzigen Freund.
Weil er es nicht ertrug, den Sarg anzusehen, ließ er den Blick in die nächsten Reihen des Friedhofs schweifen. Wie mahnende Kreaturen erschienen ihm die Grabsteine, die in regelmäßigen Abständen nebeneinanderstanden. Mit lautem Krächzen flatterten ein paar Krähen auf. Alexander blickte in die Richtung, aus der ihre Schreie gekommen waren.
Hatte er richtig gesehen? War dort jemand? Ihm kam es vor, als hätte sich jemand hinter einem dunklen Grabstein geduckt. Er zählte. Das Grab war drei Reihen entfernt und wurde von einer Weide beschattet. Auf den Grabstein stütze sich, seitlich nach vorne gebeugt, eine steinerne Figur in Kutte und mit weiter Kapuze.
Hatte von dort drüben jemand zu ihnen herübergeblickt?
Alexander ließ das Grabmal nicht aus den Augen.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, hörte er den Pfarrer sagen.
»Amen«, antwortete die Trauergemeinde.
Noch immer fixierte Alexander die Stelle, an der er die Bewegung wahrgenommen hatte. Wer sich von seinem Vater verabschieden wollte, musste sich doch nicht verstecken.
Seine Mutter löste sich von seinem Arm und machte einen Schritt nach vorne. Alexander blieb stehen, den Blick weiter starr auf das Grab gerichtet.
»Herr Oberland«, sagte der Pfarrer mit ernster Stimme.
Alexander zuckte, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Einer der Schwarzgekleideten streckte ihm eine kleine Schaufel mit Erde entgegen. Alexander trat vor, ergriff sie und ließ die Erde auf den Sarg in der Grube fallen. Als die Erde auf den Sarg prasselte, erschauderte er. Es war, als verschüttete er einen Teil von sich selbst.
Seine Mutter und er wurden ein paar Schritte weitergeschoben. Jemand erklärte murmelnd, sie sollten hier am Wegesrand für die Kondolenz stehenbleiben.
Da entdeckte Alexander die Person erneut. Sie huschte geduckt hinter dem Grabstein vor. Schwarze Jacke, schwarze Hose und ein schwarzer Hut mit Feder. Sehr schlanke Gestalt, nicht sehr groß. Alter unmöglich zu schätzen.
Wer immer das auch war, wieso ging er nicht aufrecht? Wieso diese gebückte Haltung? Alexander erschien es, als wollte jemand nicht bemerkt werden. Allerdings stellte er sich dabei sehr ungeschickt an. Der Unbekannte verschwand im hinteren Teil des Friedhofs.
Gab es hier Landstreicher? Oder Grabräuber?
Alexander bemerkte, dass ihn jemand angesprochen hatte. Vor ihm stand eine Nachbarin, die ihm die Hand reichte und ihr Beileid ausdrückte. Er wollte über ihre Schulter in die Richtung sehen, wo der Unbekannte verschwunden war, zwang sich dann aber, die Kondolenz entgegenzunehmen und nicht unhöflich zu wirken. Abwesend schüttelte er Hände, und nickte, wenn die Leute murmelten, wie entsetzlich der Tod seines Vaters doch sei.
Jemand schien ihn vorhin beobachtet zu haben. Aber wer?
Die Schlange der Kondolierenden nahm kein Ende. Seine Mutter konnte vor Kummer kaum sprechen. Auf Rat seines Onkels, dem Bruder seines Vaters, hatten sie in einem nahen Wirtshaus ein Hinterzimmer reserviert, in das sie die engsten Verwandten und Kollegen zum Essen einluden.
Der Leichenschmaus gehörte eben zu einer schönen Leich dazu.
Die Mutter drückte Alexander Geld in die Hand, nachdem der letzte Trauergast seine Aufwartung gemacht hatte. »Für die Pomfüneberer«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Alexander ging zu den Schwarzgekleideten und verteilte die Münzen. Die Totengräber, zwei einfache Männer in erdverkrusteten Hosen, warteten ebenfalls auf ihr Trinkgeld. Alle bedankten sich und die Totengräber wollten bereits damit beginnen, das Grab zuzuschaufeln.
»Warten Sie«, sagte Alexander. Die Männer sahen überrascht zu ihm.
»Ich habe eine Frage. Vorhin war dort hinten eine kleine Person. Dünn. So groß.« Er zeigt mit der Hand die geschätzte Größe. »Ganz in Schwarz. Sie hat herübergesehen und sich versteckt. Wissen Sie, wer das gewesen sein könnte? Ist diese Person öfter hier?«