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Die Mitarbeiter des Begräbnisunternehmens schüttelten den Kopf und gingen. Die Totengräber wussten auch nichts.
»Aber auf dem Friedhof treiben sich manchmal grausige Leute herum«, meinte einer von ihnen. »Da gibt es welche, die sind ganz narrisch auf die Toten. Vor allem auf die toten Frauen. Wenn sie jung sind.«
»Und vor ein paar Jahren hat einer Särge geöffnet und den Toten Disteln auf die Brust gelegt.«
»Wieso das?«, wollte Alexander wissen.
Der Totengräber schnitt eine Grimasse. »Damit die Geister in den Särgen bleiben. Es gibt so viele Narrische auf der Welt. Drum sind mir die Toten lieber. Die stellen nichts mehr an.«
»Außer einer wacht wieder auf und klopft von innen«, sagte der andere.
»Das kommt vor?«
Der Totengräber nickte mit wichtiger Miene. »Ist schon geschehen. Wir haben ihn gehört. Sonst wäre er lebendig eingegraben worden.«
Als er den anderen folgte, sah sich Alexander immer wieder um. Er konnte die Person in Schwarz nirgendwo mehr entdecken. Ihm war kalt und er zog seine Jacke fester zu. Wer so dünn war wie er, der fror leicht.
Dann ging er durch den Friedhof Richtung Wirtshaus. Dabei lauschte er aufmerksam, ob aus einem der Gräber ein Klopfen drang.


Das Wirtshaus war um diese Zeit leer. Das Hinterzimmer erwies sich als viel zu klein für die vielen Leute. Deshalb bot die quirlige Wirtin an, dass die Trauergäste sich an alle Tische setzen konnten. Zu Alexander und seiner Mutter sagte sie warnend: »Die Rechnung wird geschmalzen, das will ich Ihnen nur schon sagen.«
Der Onkel hatte die Warnung mitbekommen und beruhigte den Neffen und die Schwägerin damit, dass er für die Kosten aufkommen würde. Das sei er seinem Bruder schuldig.
Hunger hatte Alexander keinen. Er trank nur ein Bier. Stumm starrte er in den Bierkrug vor sich auf dem Tisch. In letzter Zeit schien das Unglück an ihm zu haften.
Der Stuhl neben ihm wurde gerückt. Alexander sah auf. Professor Lobmüller setzte sich zu ihm. Als Kind hatte ihm die Erscheinung des Professors Angst eingejagt. Professor Kilian Lobmüller war der Vorgesetzte seines Vaters gewesen und der oberste Direktor der Hofbibliothek. Seine Haare und der lange Vollbart waren schlohweiß. Seine Haut hatte etwas von dem Papier, mit dem er sich täglich umgab. Alexander kannte den Professor nur mit Vatermörderkragen und einer gekreuzten schwarzen Krawatte.
»Xandi!« Der Professor nickte ihm zu. Er war der Einzige, der ihn noch mit dem Spitznamen aus seiner Kindheit ansprechen durfte.
Alexander kam zu Bewusstsein, dass der Professor mindestens siebzig Jahre alt sein musste.
»Professor Lobmüller.«
»Komm zu mir in die Bibliothek. Lass uns sprechen.«
»Wenn es meine Arbeit für die kaiserlichen Hoheiten zulässt, sehr gerne. Aber ich werde vielleicht in nächster Zeit auch die Stunden meines Vaters übernehmen müssen. Oberst Latour hat sowas schon angedeutet.«
»Lass ihn von mir grüßen. Er soll dir einen Nachmittag frei geben. Dein Vater war ein besonderer Mensch und du sollst nicht denken, ab nun allein im Leben zu stehen.«
»Danke.« Mehr brachte Alexander nicht heraus.
Der Professor sah Alexander unter den buschigen weißen Augenbrauen gütig an. »Du kannst mich jederzeit in der Hofbibliothek aufsuchen, wenn du mit mir sprechen möchtest.«
Alexander bedankte sich mit einem Nicken. Ihm fiel ein, wie sein Vater ihn als Kind in den Ferien manchmal in die Hofbibliothek mitgenommen hatte. Er durfte an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer sitzen und bekam Bücher über Tiere und Pflanzen vorgelegt. Stundenlang blätterte er darin und bestaunte die Abbildungen. Bei der Erinnerung lächelte Alexander. »Ich komme sicher vorbei«, versprach er.
»Gut, Xandi. Gut.« Professor Lobmüller zögerte, bevor er die nächste Frage stellte. »Hat dein Vater im Kreis der Familie vielleicht etwas Ungewöhnliches erwähnt oder erzählt?«
»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.«
»Es ist mehr ein Gefühl als eine Gewissheit. In letzter Zeit war er viel außer Haus unterwegs, hat aber niemandem die Gründe dafür genannt. Ich wollte mit ihm darüber reden, doch dann…«
Er brach ab und rieb seine Fingerspitzen aneinander. »Leider kam es nicht mehr dazu. Ich mache mir Vorwürfe, er könnte Sorgen oder sogar Probleme gehabt haben, die mir nicht bewusst waren. Sind dir oder deiner Mutter Veränderungen an ihm aufgefallen?«
»Er hat keinen Alkohol mehr getrunken«, fiel Alexander ein. »Seit ein paar Wochen. Sonst trank er am Abend nach dem Essen immer ein Glas seines Kräuterlikörs. Er hat den Likör jedes Jahr selbst angesetzt.«
»Und wieso die plötzliche Abstinenz?« wollte Lobmüller wissen.
»Er ist vor nicht zu langer Zeit einmal sehr betrunken nach Hause gekommen. Am nächsten Tag war er sehr unruhig und hat besorgt gewirkt. Meiner Mutter hat er versichert, nie wieder Alkohol anrühren zu wollen.«
Alexander klopfte mit dem Finger auf die Tischplatte. »Weil die Zunge zu locker sitzt, wenn man zu viel trinkt, hat er gesagt. Ich erinnere mich genau. Er hat mich gewarnt, vom Wein und auch von Schnaps fernzubleiben, weil im Suff so mancher Streit beginnt und Worte gesagt werden, die besser nie ausgesprochen worden wären.«
»Der gute Alfred.« Professor Lobmüller rieb weiter seine Fingerspitzen aneinander. »Er war ein recht verschwiegener Mann. Am glücklichsten war er in seinem Zimmer in der Hofbibliothek, wie mir erschien, in den Archiven und auf der Leiter im Prunksaal, um die ältesten Ausgaben aus den höchsten Regalen zu holen.«
Alexander und er schwelgten noch einige Zeit in weiteren Erinnerungen.
Schließlich klopfte ihm der Professor beim Aufstehen auf die Schulter. »Du kannst immer zu mir kommen. Mit allen Sorgen und Nöten. Vergiss das nie, Xandi.«
»Danke. Ich weiß das sehr zu schätzen. Besonders in dieser Zeit…«
Lobmüller setzte sich wieder und blickte Alexander besorgt an. »Was willst du damit andeuten?«
Scham und Enttäuschung gaben Alexander das Gefühl, noch kleiner und dünner zu werden, als er ohnehin schon war. »Ich hätte das nicht sagen sollen«, meinte er ausweichend.
»Da du es aber nun gesagt hast, will ich gerne wissen, was dich so bedrückt?«
Ihm blieb kein Ausweg. Alexander erzählte, dass er sich um eine Stelle am Institut für Biologie der Universität beworben hatte, aber nicht genommen worden war.
Außerdem hatte er der Schwester einer seiner wenigen Freunde einen Brief geschrieben und ihr seine Zuneigung gestanden. Durch Zufall hatte er bei seinem nächsten Besuch ein Gespräch mitbekommen, das sie mit einer Freundin führte und in dem sie sich über Alexander lustig machte.
»Wie kommt er nur auf die Idee, ich könnte Interesse an ihm haben?«, hatte sie gesagt. »Er wirkt wie eine Vogelscheuche.«
»Mein armer Junge. Frauen können hart und ungerecht sein.«
Alexander spielte mit dem Bierkrug. »Ihrem Bruder, von dem ich dachte, er wäre mein Freund, habe ich Geld geliehen. Ich werde es wohl nie zurückbekommen, wie es aussieht. Einer wie ich hat wohl kein Glück.«
»Das solltest du nicht einmal denken. Das Leben hält vieles für uns bereit«, philosophierte Lobmüller vor sich hin. »Manchmal Freuden, oft aber Enttäuschung und Trauer. Am Ende steht die Frage, wie viele Hoffnungen sich erfüllt haben und wie viele nicht. Auf welche Seite neigt sich diese Waage?«
Alexander leerte den Bierkrug mit einem Zug. Er glaubte zu wissen, auf welche Seite sich seine Waage neigte.


Für den Weg zu Amalie Buback hatte Ida einen Fiaker genommen. Die Kaiserin hatte ihr angeboten, beim Obersthofmeister eine Kutsche für sich zu bestellen, aber Ida hatte dankend abgelehnt. Denn die Kutscher redeten untereinander. Sie tratschten darüber, wo sie die Hoheiten, Erzherzöge und die Hofangestellten hinbrachten. Idas Besuch bei der Photographin war nichts Verbotenes, könnte aber trotzdem zu unangenehmen Fragen führen. Am Hof wurde das Ablichten ausschließlich von Ludwig Angerer durchgeführt, dem k.k. Hof-Photographen. Auf private Bilder wollte Ida sich nicht ausreden. Der wahre Grund für ihren Besuch bei Amalie Buback musste unter allen Umständen geheim bleiben.
Der Tag war kühl, die Wolken am Himmel machten den Eindruck, als wollten sie demnächst ihre Regenlast abwerfen.
Ein Geruch, der Ida schon lange nicht mehr in die Nase gestiegen war, schlug ihr entgegen, als sie das Atelier betrat. Der Geruch löste in Ida eine Erinnerung an ihre Kindheit aus. Sie saß als kleines Mädchen beim Gutsverwalter ihrer Eltern. Er trug immer dicke Arbeitshosen und weite Hemden, die von breiten Hosenträgern gehalten wurden. Ida suchte ihn auf, weil es bei ihm die besten Würste gab. Es war fettige Wurst, die er mit einem Taschenmesser in dicken Scheiben schnitt. Mit einem breiten Grinsen reichte er ihr die Wursträder, die sie mit Genuss verspeiste. Ihre Mutter hatte sie deshalb gescholten. Sie solle nicht dem Mann sein Essen wegnehmen, sondern essen, was bei ihnen auf den Tisch kam.
Das war gesünder als die grobe Wurst, schmeckte Ida aber nicht so gut.
Der Verwalter, ein rotwangiger, korpulenter Mann, hatte Pfeife geraucht und in seiner kargen Wohnung neben den Ställen hing immer Rauch in der Luft.
An diesem Tag schwebten genau die gleichen dünnen Rauchschwaden im Licht, das durch das Glasdach ins Atelier fiel.
»Haben Sie Kundschaft?«, wollte Ida von Peter wissen.
»Nein.«
»Der Rauch…?«
Peter zeigte auf einen Lehnsessel. Er stand mit dem Rücken zu Ida. Dahinter stieg der Pfeifenrauch auf. Sie ahnte, wer da rauchte. Ida trat vor den Sessel.
Amalie hielt eine gebogene Pfeife mit weißem Kopf in der Hand, sah beim großen Fenster hinaus und paffte. Als sie Ida bemerkte, stieß sie den Rauch wie eine Dampflokomotive aus dem Mund aus. Ihr Lächeln hatte etwas Spitzbübisches.
»Schickt sich nicht, was?«, fragte sie mit provokantem Unterton.
»Die Kaiserin raucht auch Zigarette«, antwortete Ida kühl.
Interessiert setzte sich Amalie auf. »Die Kaiserin von Österreich tut etwas so Unschickliches? Das erlaubt ihr unser ehrwürdiger Kaiser?«
»Nein. Er verabscheut es. Die Kaiserin nimmt darauf Rücksicht. Sie raucht nur auf Kutschenfahrten.«
»Da sieht es keiner«, spottete Amalie.
»Im Gegenteil. Sie sitzt am Fenster der Kutsche und bläst den Rauch hinaus, damit es jeder sehen kann.«
Amalie Buback richtete sich nun interessiert auf. »Tatsächlich?«, fragte sie misstrauisch. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich bin Hofdame der Kaiserin.«
»Jetzt einmal langsam.« Ida konnte sehen, wie sich Verständnis in die Augen der Photographin schlich. Sie erkannte, für wen ihre Aufnahmen der schönen Leichen bestimmt waren.
Ida weidete sich an Amalies Erstaunen. Sie sollte nicht meinen, die einzige Frau in Wien zu sein, die unkonventionell leben konnte.
Ihre Aussage brachte die gewünschte Wirkung. Die Photographin erhob sich und klopfte über die Hosenbeine, als müsse sie Staub entfernen. »Ich neige mein Haupt in Ehrfurcht und Bewunderung.« Für ihre Verhältnisse klang es nicht zynisch. »Leider habe ich noch keine neuen Aufnahmen von Leichen.«
»Das ist nicht der Grund meines Besuches.« Ida holte aus der Tasche das Foto von Alfred Oberland. Sie sah sich um. »Können wir uns irgendwo setzen?«
Amalie schnippte mit den Fingern. »Peter. Zwei Sessel. Und den Tisch!«
Wie ein Piccolo im Kaffeehaus schleppte der Bursche einen kleinen runden Tisch mit Marmorplatte herbei. Solche Tische waren typisch für Wiener Kaffeehäuser. Die Sessel waren aus dem neumodischen Bugholz der Firma Thonet, die gerade sehr in Mode war. Ida gefielen die Sessel überhaupt nicht.
Die Frauen nahmen Platz. Amalie verlangte Kaffee, Ida Wasser.
Peter brachte eine Karaffe und zwei einfache Gläser. »Der Kaffee dauert noch«, sagte er.
Ida legte das Foto vor Amalie auf den Tisch.
»Keine gute Aufnahme«, meinte die Photographin. »Das Licht kommt zu steil von oben. Die Konturen sind nicht markant.«
»Ihr Helfer hat erzählt, Sie hätten dem Mann den Mund geöffnet.«
»Habe ich das?«
»Er behauptet es. Und Sie fanden etwas eigenartig.«
Amalie nahm einen Schluck Wasser und nickte. »Richtig. Der Tod durch Bienenstich erscheint mir eigenartig.«
»Der Kaiserin wurde aber berichtet….« Ida brach im Satz ab.
Amalie hob eine Augenbraue. »Wieso interessiert sich die Kaiserin für einen toten Imker?«
Warum hatte sie den Mund nicht halten können? »Der Kronprinz und Erzherzogin Gisela waren von ihrem Lehrer zu dem Mann geführt worden, um die Tätigkeit eines Imkers kennenzulernen. Sie waren anwesend, als er starb«, berichtete Ida.
»Ein Bienenstich war jedenfalls nicht der Grund für seinen Tod«, sagte Amalie.
»Woher wollen Sie das wissen?«
Peter kam mit einer großen Henkeltasse Kaffee. Als Amalie daran nippte, verbrannte sie sich die Lippen. Schnell nahm sie einen Schluck Wasser.
»Sie meinen, der Mann wäre nicht an einem Bienenstich gestorben? Was bringt Sie zu diesem Schluss?«, hakte Ida nach.
»In meiner Familie sind alle verrückt nach Bienen. Mein Onkel betreibt Imkerei. Auch mein Großonkel und sogar meine Großmutter. Ich bin mit Bienen aufgewachsen. Ich kenne mich aus. Deshalb wollte ich in den Mund sehen. Der Mann hatte an der Nase einen Stich, aber der kann nicht tödlich gewesen sein.«
»Hatte er einen Stich im Mund?«
»Nein. Den Stich an der Nase wird er kaum bemerkt haben. Vielleicht wurde er überhaupt erst nach dem Tod dort gestochen.«
Dabei war Ida als Mädchen immer gewarnt worden, in der Nähe von Blumenwiesen und blühenden Klee zu spielen. »Ein Bienenstich an einer empfindlichen Stelle im Gesicht oder im Mund kann zum Ersticken führen«, wandte sie ein.
»Imkern tut das Gift nichts. Weil sie oft gestochen werden, verliert das Gift seine Wirkung.« Amalie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Der Mann hatte doch nicht eben erst mit der Imkerei begonnen, oder?«
»Ich glaube nicht, nein.«
Amalie blies auf den Kaffee, um ihn zu kühlen. »Wenn ein Imker gestochen wird, schwillt die Stelle nicht mehr so heftig an. Dafür habe ich den dreifachen Beweis in der Familie. Mein Großonkel ist einmal von mindestens zehn Bienen gestochen worden. Er hatte rote Flecken am Arm und am Hals, aber das war es auch schon.«
»Einem Imker kann das Gift der Biene nichts anhaben«, wiederholte Ida nachdenklich. »Aber woran ist er dann gestorben? Ich habe gehört, er wäre tot umgefallen.«
»War er sonst gesund?«
Das wusste Ida nicht genau.
»Schwaches Herz?«, fragte Amalie weiter.
»Davon war nie die Rede.«
»Wer so schnell stirbt, hat einen Hirnschlag oder das Herz setzt aus.«
Ida rutschte auf dem harten Sessel herum. Sie konnte sich an diese Möbel von Thonet nicht gewöhnen. »Woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Das habe ich von meinem Cousin.«
»Wieso hat er darüber Kenntnis?«
»Er ist Mediziner. Pathologe.«
»Welche Aufgabe hat ein Pathologe?«
»Er untersucht Tote.«
Ida überlegte, ob sich die Photographin einen Scherz mit ihr erlaubte.
»Mein Cousin untersucht Leichen, um mehr über die Todesursache zu erfahren. So gewinnt er Erkenntnisse über Ursachen von Krankheiten und ihren Verlauf.«
»Ach, so ist das.« Ida spielte mit dem kleinen Beutel an ihrem Handgelenk. Das Gespräch machte sie nervös.
»Mein Cousin sagt, es sterben mehr Menschen eines unnatürlichen Todes, als wir annehmen würden.«
»Meint er damit, sie werden ermordet?«, fragte Ida entrüstet.
Amalie nickte und trank ihren Kaffee.
»Mord ist ein Verbrechen und Mörder bezahlen mit dem Leben. Die Todesstrafe ist ihnen gewiss.«
»Mein Cousin redet von Morden, bei denen es keine Wunden oder Würgemale gibt. Morde, die aussehen wie natürliche Todesfälle.«
»Hat dieser Cousin auch einen Namen?«, fragte Ida.
»Ernstl.«
»Ich brauche einen Nachnamen!«
»Ernst Holler.«
»Und er behauptet tatsächlich, dass Leute umgebracht werden und es der Justiz entgeht?«
Amalie nickte. »Der Verdacht ist eine Sache, der Beweis für den Mord eine andere. Ernstl besucht die Vorträge eines Gerichtsmediziners, bei denen es darum geht, wie man einen Mord beweisen kann.«
Auch dieser Begriff war Ida neu.
»Ein Gerichtsmediziner untersucht auf Anweisung des Gerichts die Ursache des Todes. Er versucht herauszufinden, ob der Tote auf natürliche Weise gestorben ist oder nicht«, erklärte Amalie, noch bevor Ida fragen konnte. »Er kann sogar einen ungefähren Todeszeitpunkt feststellen. Er kennt Methoden, um herauszufinden, welche Person hinter einer verkohlten oder stark verunstalteten Leiche steckt.«
Ida konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte. »Nach einem Brand haben die Flammen das Opfer doch völlig unkenntlich gemacht?«
»Diese Frage habe ich Ernstl auch gestellt. Er erwähnte Knochenbrüche und den Zustand der Zähne. Besteht ein Verdacht, um wen es sich bei der Leiche handeln könnte, werden die Hinterbliebenen befragt, ob der Verwandte sich Knochen gebrochen hat und wie es um seine Zähne bestellt war. Ihre Aussagen vergleicht man dann mit der Leiche.«
Ida war fasziniert von dem, was sie von Amalie erfuhr. Trotzdem war sie noch nicht überzeugt. »Der Arzt, der den Totenschein für Alfred Oberland ausgestellt hat, wird die Leiche doch untersucht haben. Er müsste wissen, dass der Bienenstich nicht die Todesursache sein konnte.«
Amalie trank den Rest ihres Kaffees und schnalzte mit der Zunge. »Der Arzt hat bloß das Offensichtliche gesehen. Ein plötzlicher Tod in der Nähe von Bienen. Also ziemlich sicher ein tödlicher Bienenstich. Oder ein Herztod. Der Verstorbene war weder eine hohe Persönlichkeit noch sonderlich reich, also vermutet niemand einen Mord. Wieso auch?«
»Er war Lehrer des Kronprinzen und hat in der Hofbibliothek gearbeitet.«
»Eben. Weder sehr wichtig noch sehr einträglich.« Amalie klopfte mit der Tasse auf den Tisch und rief Peter zu, mehr Kaffee zu kochen.
Ida nahm ein Spitzentuch aus ihrem kleinen Beutel und tupfte sich die Lippen ab. Sie dachte an das Päckchen, um dessen Schutz Oberland die Kaiserin bitten wollte. Hatte er damals schon Angst um sein Leben gehabt? Ida fühlte sich noch immer schuldig, weil sie ihn abgewiesen hatte. »Wie kann man…«, begann sie zögerlich. »Wie kann man jemanden ermorden, ohne eine Spur zu hinterlassen?«
»Gift!« Amalie sagte es, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
»Gift löst Krämpfe aus«, widersprach Ida. »Gift bringt schreckliche Leiden. Über Giftmorde ist in den Zeitungen zu lesen und immer wird erwähnt, welchen fürchterlichen Todeskampf das Opfer durchmachen musste.«
»Ernstl hat einmal bei einem Familienessen erzählt, die feinste Art jemanden zu ermorden, sei Gift. Das Opfer riecht und schmeckt nichts. Es ist ein schneller und leiser Tod.«
»Und so etwas gibt es?«, fragte Ida mit einem Anflug von Angst in der Stimme.
Amalie nickte bloß.


Die Fechtstunde war für halb sechs Uhr früh angesetzt.
Fanny Feifalik hatte Elisabeths Haare geflochten, aufgesteckt und noch im Toilettezimmer unter dem Fechthelm verstaut. Die Kleiderzofen hatten der Kaiserin in die Kniehose und das Oberteil geholfen. Es wurde hinten geschnürt wie ein Mieder. Die enganliegende Hose hatte Verschlüsse an der Seite, die nur in Gemeinschaftsarbeit von den Zofen geschlossen werden konnten. Sie wussten, dass die Kaiserin größten Wert darauf legte, ihre schlanke Figur auch in der Sportkleidung zu betonen.
Ihr Gegner beim Fechten hieß Pierre, stammte aus Frankreich und war ein Meister seines Faches. Als sie die Fechthalle im Erdgeschoss des Schlosses betrat, wartete Pierre bereits auf sie. Er trug einen Helm und sein Gesicht war hinter dem feinen, dunklen Gitter verborgen.
Elisabeth kannte weder seine Haarfarbe noch die Form seiner Nase. Ihr wurde ein Degen gereicht. Sie legte die linke Hand in die Seite, streckte die Waffe vor und ging in Stellung. Pierre tat es ihr gleich.
Elisabeth verglich ihn im Stillen mit einem Wiesel, weil er sich so schnell vor- und zurückbewegen konnte. Es war ihm verboten, sie zu belehren. Er durfte nur ihre Fragen zu Schritten und Armbewegungen beantworten.
Der Übungskampf dauerte fast eine Stunde. Elisabeth genoss Pierres Ermüdungserscheinungen. Sie gönnte sich selbst und ihm keine Pausen. Nach einem Treffer ging es sofort weiter.
An diesem Morgen war Elisabeth nicht ganz bei der Sache. Ihre Gedanken schweiften zu Ida und Latour, von denen sie in Kürze Bericht erhalten würde. Aus diesem Grund verlief die Stunde für sie nicht so erfolgreich wie sonst. Auch wenn sie nicht zählten, wusste sie, dass Pierre sie diesmal haushoch geschlagen hatte.
Schließlich nickte sie ihm zu und verließ den Saal. Im Appartement im oberen Stockwerk stand schon eine Wanne mit eiskaltem Wasser für sie bereit. Sie wurde jeden Tag in das Toilettezimmer gebracht, wo Elisabeth ihre Körperpflege verrichtete. Die Kleiderzofen zeigten ihr verschiedene Kleider und die Kaiserin entschied sich für eines aus dunkelgrünem, gekrepptem Stoff mit beigen Spitzen und langer Schleppe.
Später würde sie eine Irrenanstalt besuchen. Ihr war angekündigt worden, dass sie dort eine Vorführung von Hypnose bekommen sollte, die neuerdings zur Heilung der Geisteskranken eingesetzt wurde.
Das Frühstück wurde Elisabeth auf einem Silbertablett in den Salon serviert und bestand aus einem Glas Orangensaft. Sie blieb allein, da der Kaiser schon gefrühstückt hatte. Elisabeth sah ihm derzeit nicht gerne zu, wenn er drei Stück Gugelhupf mit Milchkaffee zu sich nahm. Sie hatte Gusto auf Mehlspeisen, aber die Waage zeigte noch immer mehr als 51 Kilogramm. Sie fühlte sich zu schwer und wollte weiter fasten.
Von draußen waren die sieben Schläge der Kirchturmuhr zu hören, als Ida nach kurzem Anklopfen eintrat. Argwöhnisch fiel ihr Blick auf Fanny Feifalik, die Elisabeths Haare bürstete und hochsteckte. Doch die Kaiserin machte keine Anstalten, die Friseuse hinauszuschicken.
»Was hast du in Erfahrung gebracht?«, wollte Elisabeth wissen. Sie bemerkte Idas Zögern.
»Die Fanny kann ruhig mithören«, sagte Elisabeth. So ganz schien das Ida nicht zu gefallen, doch Elisabeth kümmerte sich nicht darum. »Erzähle vom Treffen mit der Photographin.«
Hinter sich spürte Elisabeth, wie Fanny gekonnt die Finger durch ihre Haare gleiten ließ, sie anhob und senke. Sie spielte mit ihnen, als wären sie Wasser, und massierte dabei sanft die Kopfhaut. Ida redete langsam, weil sie kein Detail auslassen wollte.
Während Ida berichtete, begann Fanny mit den Bürstenstrichen, die zuerst vom Scheitel bis in den Nacken gingen. Dann vom Scheitel bis auf die Höhe der Schulterblätter. Schließlich zog sie die Bürste vom Kopf bis zu den Haarspitzen, die auf dem Boden lagen. Sie musste dazu jedes Mal in die Knie gehen. Auf Elisabeth wirkte es, als würde Fanny hinter ihrem Rücken Turnübungen machen.
Als Ida von dem Gift erzählte, das Amalie erwähnt hatte, gebot die Kaiserin der Friseuse mit einer energischen Handbewegung, das Bürsten zu unterbrechen. »Gift, das man weder riecht, noch schmeckt, das tötet und das den Tod natürlich aussehen lässt?« Elisabeth hatte davon noch nie gehört.