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Als Kappe seinen Slalom um spielende Kinder, Bettler, Fahrräder, stehengelassene Ascheimer und Holzkisten mit chinesischen Schriftzeichen fortsetzt, muss er sich eingestehen, dass er eigentlich gar nicht weiß, wo er hinwill.
«Willste mitkommen?», wird er von einem Mädchen gefragt, das seine Tochter sein könnte. «Ick mach et uns jemütlich.»
Kappe schüttelt nur den Kopf. Eigentlich hätte er seinen Ausweis ziehen und sie fragen müssen, wie alt sie sei, wie ihr Lude heißt und in welcher Kalenderwoche des Vorjahres sie sich das letzte Mal gewaschen habe. Aber er lässt es. Vielleicht ist es wieder diese nie so ganz zweifelsfrei diagnostizierte Stoffwechselkrankheit, die ihn seit seiner Jugend plagt und die ihm ab und an eine Extraportion bleierne Müdigkeit beschert. Aber da sieht er auch schon das rettende Schild an der Ecke Kraut- und Lange Straße: Schultheiss. Jetzt ein Bier. Es ist zwar nicht erlaubt im Dienst, und es wird seine Müdigkeit sogar noch verschlimmern, aber der hopfigherbe Geschmack auf der Zunge hat ihm schon oft beim Nachdenken über knifflige Fälle geholfen. Und nachdenken, das muss er nun wahrlich.
Denn klar ist bislang nur, dass der Tote allem Anschein nach als Händler arbeitete und wie viele seiner Landsleute von Tür zu Tür ging, um Specksteinschnitzereien, Porzellanvasen oder Lackschächtelchen zu verkaufen. Ein paar geschnitzte Drachen, die man als Staubfänger auf die Kommode stellen kann, sowie einen nicht unbeträchtlichen Geldbetrag fand man in den Manteltaschen des Toten. Aber einen Ausweis hatte er nicht bei sich. Oder wurde er ihm gestohlen? Aber warum sollte der Räuber dann das Geld zurücklassen?
Kappe steuert weiter auf die Kneipe zu. Er geht so zielstrebig über die Kreuzung, dass er fast von einem abbiegenden NAG-Sportwagen C4b über den Haufen gefahren wird. Kappe kann gerade noch rechtzeitig einen Sprung zurück machen.
Der am Steuer in dem offenen Wagen sitzende Chinese hupt und schreit.
Kappe versteht kein Wort. In Gedanken ist er bei dem Autotyp, einem NAG, einem bordeauxroten, gebaut von der Neuen Automobil-Gesellschaft in Oberschöneweide, der Fabrik, die von dem Manne gegründet wurde, dessen Sohn, Walther Rathenau, vor wenigen Tagen erst zum deutschen Außenminister ernannt worden war. Und ein derartiges Auto wird gefahren von einem Chinesen! Was für eine verkehrte Welt! Dieser Geruch! Der ist es. Kappe braucht einen Moment, um zu merken, was an dieser Kneipe anders ist.
Gut, da sitzen zwei Dutzend Chinesen im Gastraum und nur fünf, sechs Deutsche. Aber sonst? Alles wie immer und überall: blankgescheuerte Holztische, ungepolsterte Stühle, deren Schrammen davon zeugen, dass sie schon manchen Flug durchs Lokal überlebt haben, und hinterm Tresen ein Wirt des Typs «Eckkneipe»: unschätzbares Alter zwischen vierzig und sechzig, Bierbauch, Blick eines gutmütigen Dackels, der genau weiß, wo der Hase lang läuft, Lederschürze überm altersgrauen weißen Hemd, aus dessen zu weit geöffnetem Kragen gelbliches Feinripp und graue Brusthaare lugen, die Ärmel hochgekrempelt, die Hände im Spülwasser, der Blick bei den Gästen.
Klar, so jemand sieht einem wie Kappe sofort an, dass er nicht aus freien Stücken hier ist, um sich mal billig einen auf die Lampe zu gießen. Außerdem weiß der Wirt längst, obwohl es noch in keiner Zeitung hat stehen können, dass einer seiner Gäste tot ist. Deshalb überlegt er bei Kappes Anblick gar nicht erst, ob es sich bei ihm um eine Amtsperson handelt, die zwecks Kontrolle von Küche und Toilette vorbeikommt, oder um einen Polizisten, der illegal hier lebende Chinesen oder solche ohne Genehmigung zum Haustürverkauf sucht. Der Wirt weiß gleich, der kann nur wegen des Mordes da sein.
Kappe steht derweil noch staunend vor den mit chinesischen Schriftzeichen versehenen Blättern, die an die holzvertäfelten Wände geheftet sind.
«Tach! Det sind Bekanntmachungen des Konsulats für unsre China-Männer», sagt der Wirt, der hinter Kappe getreten ist.
«Schön! Und ich bin Kappe, Hermann Kappe.»
«Und Sie kommen von der Polizei wegen des Toten.»
Kappe ist solch eine Direktheit nicht unangenehm. Gern lässt er sich vom Wirt auf ein Bier einladen und stellt sich zu ihm an den Tresen.
Von den Chinesen achten nur wenige auf ihn. Nichts zeugt von Unruhe, Ängstlichkeit oder schlechtem Gewissen, registriert Kappe enttäuscht. Die meisten haben irgendwelche Dominosteine vor sich aufgebaut, sitzen zu je vier Mann am Tisch und spielen.
Dass es sich dabei um Mahjong handelt, bekommt Kappe vom Wirt erklärt. Ein Spiel, das man freilich auch mit Karten spielen könnte, aber Schiffer auf dem Jangtse haben es erfunden, und damit die Karten nicht ins Wasser geweht wurden, nutzten sie Steine zum Spielen. Er erklärt ihm auch, dass der Getötete Herr Keung geheißen habe, noch bevor Kappe danach fragt. Er sagt ihm zudem, dass er den Vornamen nicht kenne, weil sich die Chinesen ohnehin kaum mit Vornamen anreden würden. Keung jedenfalls bedeute Kraft, das sei ihm gesagt worden, und kräftig sei der Tote ja tatsächlich gewesen. «Der hat für den Wong geschuftet, diesen Schuft!», fährt der Wirt fort, und ohne auf eine Nachfrage zu warten, fügt er hinzu: «Des is een übler Jeselle, kann ick Ihnen sagen. Der führt een härteres Rejiment als der Li, und ganz koscher is der ooch nich.»
Manchmal, denkt Kappe, genügt die Zeit, die man für zwei Schluck Bier braucht, und schon erhellt sich die mondlose Finsternis, die am Anfang jeden Mord umgibt. Beim zweiten Bier weiß er bereits, dass es sozusagen zwei Chefs der chinesischen Händler gibt oder vielleicht auch zwei Paten: Wong und Li.
Während Wong noch ganz in der Nähe seines Lagers in der Krautstraße wohnt und erst vor zwei Jahren den Großhandel für die an Haustüren feilgebotenen Waren von einem Onkel übernahm, hat sich Li, der mit seiner Familie schon 1908 aus der südchinesischen Küstenprovinz Zhejiang mit der Transsibirischen Eisenbahn über Moskau nach Berlin kam, längst im Handel mit Lackwaren, Porzellan und Steinschnitzereien etabliert, und zwar so gut, dass er nur noch sein Lager im gelben Viertel hat. Er selbst, der Chef, lebt mit seiner Familie dort, wo auch Klara gerne mit Kappe hinziehen würde: in der Kantstraße in Charlottenburg.
Als der Wirt unaufgefordert das dritte Bier hinstellt, überlegt Kappe kurz, bevor er trinkt, dann aber setzt er an zu einem so großen Schluck, dass er durch das sich schnell leerende Pilsglas hindurch leicht verzerrt sieht, wie sich eine Tür zum Nebenraum öffnet, der Geruch, den er noch immer nicht bestimmen kann, intensiver wird und ein Chinese mit einem vollen Tablett in den Gastraum trippelt. Kappe beobachtet, wie er behende Schüsselchen und Schälchen auf den Tischen verteilt. Unter dem heißen Dampf, so erkennt Kappe, ist die Hälfte der Schüsseln mit Reis gefüllt, die übrigen mit einem undefinierbaren, gulaschähnlichen, rostbraunen Etwas.
Früher wurde er von seinem Vater immer gerügt, wenn er heiße Suppe schlürfte, beim Essen schmatzte oder gar, was dann postwendend mit einer Ohrfeige quittiert wurde, am Tisch rülpste. Hier hätte sein Vater, der Fischer, sämtliche Kollegen mitbringen können, und alle wären damit beschäftigt gewesen, reihum die Gäste zu bestrafen.
Kappe schaut interessiert von einem zum anderen der sich mit Stäbchen den Reis und das Soßenfleischgemisch in den Mund schaufelnden Gäste, als wäre er mit Margarete und Hartmut im Zoo bei der Raubtierfütterung.
«Det Essen machen die schon selba, die ham von mir ’n Nebenzimmer bekommen, und was die da machen, is nich mein Bier, die zahlen ja ooch dafür», erklärt der Wirt.
Tatsächlich, am Ursprungsort des Geruches, den der Wirt dem neugierigen Kappe nun zeigt, stehen vier kleine kichernde Chinesinnen vor großen Blechtöpfen, in denen es noch immer brodelt und vollkommen ungewohnt riecht.
Wonach, will Kappe wissen, das kann doch nicht nur vom Maggi kommen, das neben den Töpfen steht und eifrig als Sojasoßenersatz benutzt wird.
Der Wirt zuckt mit den Schultern. «Chinesisch eben!» Und fragen kann er die Köchinnen nicht. «Die können nich sprechen, ick meene, nich richtich, also nich unsere Sprache.» Er erzählt Kappe, dass die anderen meist auch nicht viel besser sprechen. «Die können grade mal mit Händen und Füßen handeln und ’n paar Zahlen. Die können ‹Bier› und ‹Bitte› sagen, ‹Danke› und ‹Scheene Frau›. Dat war’s dann aber ooch schon.»
Das sind ja allerbeste Aussichten für erfolgreiche Vernehmungen, denkt Kappe.
Als könne er Gedanken lesen, meint der Wirt, es gebe einen, der für schmales Geld zuverlässige Dolmetscherdienste leiste, der werde sogar von der Ausländerpolizei in Anspruch genommen und manchmal auch vom Gericht. Mit einem Kopfnicken deutet der Wirt auf einen Tisch in der hinteren Ecke, wo zwei junge Männer gerade die letzten Reiskörner aus der mit der linken Hand angehobenen Schüssel mit Stäbchen in den Mund schieben.
Nach einer weiteren Kopfbewegung des Wirtes steht einer der beiden vor Kappe. «Ich bin Herr Tam. Guten Tag, mein Herr! Ich studierte Deutsch in Shanghai und bin Ihnen gern zu Diensten.»
«Na ja, nu mal nich so förmlich, mein Junge!», meint Kappe und klopft ihm auf die Schulter.
Damit ist Tam engagiert.
Tam ist klein und drahtig. Er hat die Figur derjenigen Akrobaten, die bei Menschenpyramiden immer ganz oben stehen. Nachdem er vor vier Jahren seine Tante in Berlin besuchte, blieb der in Shanghai Geborene in Berlin hängen. Er schlage sich so durch, sagt er. Das gehe schon. Er habe auch ein offizielles Papier, das ihm bescheinigt, als Dolmetscher arbeiten zu dürfen. Und er interessiere sich für Politik, dafür sei Berlin gut.
Es gebe hier einige der in der Kommunistischen Partei aktive junge Chinesen, erzählt er Kappe auf dem Weg durchs gelbe Viertel, während Kappe versucht, dem acht Jahre Jüngeren nach drei großen Bieren und einem Korn körperlich und geistig zu folgen.
«Bei uns in Shanghai ist alles noch schlimmer. Voller. Menschen wie Ameisen», sagt Tam und lacht. Er lacht so wie die Chinesen, die Kappe auslachten, als er die Dusche abbekam: laut, hoch und schrill.
Kappe schwitzt, als sie endlich am Ende der Andreasstraße vor einem armseligen, aber recht ordentlichen Mietshaus ankommen.
Neben der Einfahrt ist rechts und links je ein Torpfosten in hellem Grün gestrichen. Darauf hat jemand kunstvoll rote chinesische Zeichen gepinselt. Darunter steht klein und auf Deutsch: Wong, 2. Hinterhof.
Er wohne im Vorderhaus, erklärt Tam, aber sein Lager sei im Hof, und dort sei er sicher noch zu finden.
Kappe folgt Tam durch die Toreinfahrt.
Es ist inzwischen dunkel geworden. Tam zieht ihn am Ärmel und bedeutet ihm aufzupassen.
Und tatsächlich wuseln schon im ersten Hof kleine Chinesen mit Karren und Kisten, mit Säcken auf den Schultern und Kindern im Arm so flink umher, dass Kappe aufpassen muss, mit keinem zusammenzustoßen. Während der Deutsche am Sonntage ruht, der Chinese flink seine Pflichten tut, dichtet er in Gedanken.
Am Eingang zum zweiten Hof kommt es zu einem kurzen, heftigen, lautstarken Disput zwischen Tam und zwei stämmigen kleinen Chinesen, die einem Ringverein angehören könnten und augenscheinlich nicht vorhaben, ihren Landsmann und Kappe durchzulassen.
Zunächst hält Kappe sich aus dem Streit heraus, schaut sich im Hof um und sieht, dass neben den Kisten ein NAG parkt. Einer vom Typ C4b. Bordeauxrot. So wie der, der ihn fast umgefahren hätte.
Tam bittet Kappe, seinen Polizeiausweis vorzuzeigen.
Die beiden Türsteher begutachten ihn im Schein der Petroleumlampe und bedeuten den Besuchern zu warten.
Es dauert. Fünf Minuten bestimmt, bis ein in hellgrünem Baumwollkittel und hellgrünen weiten Hosen gewandeter Chinese kommt.
Ein schöner Schlafanzug, schießt es Kappe durch den Kopf. Der Diener lässt Tam übersetzen, dass Herr Wong bereit sei den Kommissar zu empfangen.
Der Gang, durch den sie sich schlängeln, ist nicht für Gegenverkehr ausgelegt. Links und rechts ist er von sich stapelnden Holzkisten mit chinesischer Aufschrift begrenzt. Als Kappe in einem Seitengang Kartons sieht, auf denen in deutscher Sprache geschrieben steht Vorsicht, zerbrechlich!, bleibt er stehen und will sie sich näher ansehen, doch Tam drängt zur Eile, und auch der Hellgrüne stößt bereits Laute aus, wie es sonst nur Galeerenantreiber tun. Kappe bleibt nichts anderes übrig, als zu folgen.
Schließlich, auf einer Empore des Lagerraums, sieben eiserne Stufen über dem Boden, residiert Herr Wong an einem alten eichenen Schreibtisch. Er erhebt sich, als Kappe und Tam kommen, wechselt erst ein paar Worte auf Chinesisch, bevor er, sich zu Kappe wendend, sagt: «Willkommen, mein Herr! Schauen Sie sich ruhig um! Hier arbeiten ehrliche kleine Leute. Einer von ihnen musste heute gehen. Für immer.»
«Ja, das tut mir leid! Deshalb bin ich hier. Wir werden den Mörder finden!», entgegnet Kappe.
«Das hoffe ich. Wir suchen auch.»
«Wer ist wir?», fragt Kappe.
Wong spricht auf einmal in Chinesisch weiter.
Tam übersetzt, dass er sich nicht so gut in der deutschen Sprache ausdrücken könne.
Wong redet und redet, er wird laut und leise, seine Stimme wird schrill und tief, mehrmals fasst er Tam am Arm.
Selbst wenn Kappe ganz nüchtern wäre, so einem Redeschwall könnte er auch auf Deutsch nicht folgen.
Kurz hält Wong inne, dreht sich zur Seite, spuckt auf den Boden, dann fährt er in unverminderter Geschwindigkeit und Lautstärke fort.
Kappe hat Gelegenheit, den Chinesen zu mustern. Obwohl er gepflegter ist als die anderen, die er in der Gaststätte sah, erscheint Wong grobschlächtig, nicht nur wegen der weit außen liegenden Backenknochen und der flachgedrückten Nase, auch wegen seiner brutal wirkenden Art zu sprechen. Wie eine knurrende Bulldogge bellt er die Worte seinem Gegenüber ins Gesicht. Kein Sympath. Mit lautem Husten und erneutem Auf-den-Boden-Spucken versiegt seine Rede. Er schaut Kappe an, als erwarte er eine Antwort. Dann lacht er, so wie die anderen Chinesen auch. Nicht tief, wie es zu seinem massigen Körper passen würde, nein, hoch, schrill und laut.
«Der Herr lacht, weil er dachte, Sie würden verstehen und könnten antworten. Aber ich muss ja übersetzen», erklärt Tam. «Der Herr sagt, dass er sehr traurig über den Tod von Herrn Keung ist und auch wütend auf die Täter. Aber er hat keinen Verdacht und auch keine Ahnung, wer es getan haben könnte. Herr Keung sei ein guter Händler gewesen, er habe keine Feinde gehabt, keinen Ärger, er stammte aus demselben Heimatort wie er, aus Wenzhou.» Etwas leiser fügt Tam hinzu: «Das ist nur etwa einhundert Kilometer entfernt von Qingtian, woher Herr Li, sein Konkurrent stammt.»
Als Wong den Namen Li hört, stimmt er einen kurzen lauten Schimpfakkord an.
Tam aber fährt ungeachtet dessen mit seiner Übersetzung fort:«Herr Keung habe hier im zweiten Stock gelebt, und der Herr werde nun den Angehörigen Geld für die Trauerfeier schicken. Aber mehr kann er nicht sagen.»
Kappe will wissen, ob Keung bei Wong angestellt gewesen war und ob man die Unterkunft des Toten sehen könne.
Nach erneutem Hin- und Zurückübersetzen erklärt Tam, dass Herr Keung, wie die anderen Händler auch, selbständig gewesen sei. Aber er habe von Wong die Waren bezogen, teilweise auch auf Kredit. Dafür durfte er nur Wong-Waren verkaufen und auch nur in dem Revier, das ihm Wong vorgab.
Kappe merkt, dass Tam nun Dinge erklärt, die Wong gar nicht gesagt hat.
Nervös drückt Wong mehrmals einen Steinstempel in bröckelige rote Farbe, bevor er damit irgendwelche Papiere markiert. Dann drückt er ihn wieder in das bröckelige Rot.
Der Jade-Stein, der als Stempel dient, und die arterienblutrote Masse, die von Wong immer wieder mit dem Stein traktiert wird, lässt Kappe an den Toten denken, an dessen Anhänger, der ihm mehrmals ins blutige Brustbein getreten worden war. «Der Herr weiß nicht mehr. Aber wir können uns das Zimmer des Toten ansehen», sagt Tam schließlich.
Als sie gehen wollen, dreht sich Kappe nochmals um und bittet Tam zu fragen, ob der schicke Flitzer im Hof Herrn Wong gehöre.
«Der Herr sagt ja, das ist sein Auto, ein deutsches Auto, ein gutes Auto. Er ist stolz auf diese Technik», übersetzt Tam.
«Nicht billig!», meint Kappe.
«Billig ist nicht gut! Teuer ist deutsch und gut! Wir arbeiten gut und viel und hart und verdienen Geld für gutes Auto», sagt nun wieder Wong, ohne dass Tam übersetzen muss. «Wenn Sie wollen, ich zeige Ihnen.»
«Nein danke! Sehr liebenswürdig!» Kaum hat Kappe das gesagt, ärgert er sich. Einmal in so einen Wagen zu schauen wäre ja noch keine Bestechlichkeit gewesen.
Im Gänseschritt marschieren Tam und Kappe hinter dem hellgrün gekleideten Diener in den zweiten Stock des linken Seitenflügels, vorbei an immer noch emsig stapelnden und auspackenden Chinesen.
Keung wohnte gemeinsam mit drei anderen Chinesen in zwei Zimmern, jedes etwas größer als Kappes Küche. Die Bewohner teilen sich mit den zwei gegenüberliegenden Zimmern eine Kochecke und ein Klo eine halbe Treppe tiefer. Von den Mitbewohnern sind nur zwei da, die kaum Deutsch sprechen.
«Gute Ware!» und «Billiger Preis!». Mit diesen Worten begrüßen sie Kappe. Allzu sehr scheinen sie nicht um Keung zu trauern. Erst als Tam erklärt, es gehe nicht ums Kaufen und Feilschen, und er nach Keung fragt, sagen sie, jeder hätte sein Revier gehabt. Keung sei seit Jahren im Kreuzberger Wrangelkiez unterwegs gewesen. Sie verkaufen in Wedding am Sparrplatz und in Moabit.
«Sie sagen, sie hätten sich nur mal zum Mahjong oder zum Essen getroffen und nicht viel gesprochen. Herr Keung sei ein liebenswerter Mensch gewesen. Er habe auch nicht geschnarcht.»
Ein nachvollziehbares Mordmotiv ist also auszuschließen, denkt sich Kappe. Mehr aus Routine als aus Wissbegierde lässt er Tam fragen, wo die beiden anderen Mitbewohner zur Tatzeit am gestrigen Abend gewesen seien.
«Beide sagen, sie seien hier gewesen», übersetzt Tam, «zu Hause! Hätten gekocht mit den Bewohnern von gegenüber. Diese könnten das bestätigen.»
Kappe verzichtet darauf. Ein solches Alibi ist es nicht einmal wert, verifiziert zu werden. Er hat genug. Genug gehört und genug gesehen in den heruntergekommenen Kammern, wo es für die Kleider nur Truhen gibt und wozwischen den großen Kollektionskoffern, dem Bett und den drei Stühlen kaum noch Platz auf dem Boden ist. Aber selbst dieser Platz wird genutzt: als Ablage für verschmutzte Wäsche, für halbvolle Teetassen und volle Aschenbecher. Es riecht ein bisschen nach Gewürzen wie in der Eckkneipe. Allerdings vermischt sich hier dieser Geruch mit körperlichen Ausdünstungen ungewaschener Männer. Kappe will weg. Schleunigst.
Vor der Tür verabschiedet er sich von Tam. Er sagt ihm, er möge morgen Vormittag aufs Polizeipräsidium kommen, damit man einen Vertrag fürs Dolmetschen machen könne, und er möge seine Papiere mitbringen.
Auf dem Weg zum Schlesischen Bahnhof sieht Kappe, wie junge Chinesen mit deutschen Mädchen flachsen, ein älterer Deutscher mit drei jungen Chinesinnen plaudert und ein deutsch-chinesisches Paar Arm in Arm flaniert, als seien das hier die Linden.
Watteweichwarm. So fühlt er sich. Das Federbett, das seine Klara vor der Hochzeit noch günstig im Kaufhaus Rudolph Hertzog erstanden hatte, liegt leicht über Kappes nacktem behaartem Oberkörper.
War doch recht spät geworden gestern Abend. Auf dem Heimweg hätte er besser nicht noch mal einkehren und noch ein Bier trinken sollen. Klara hatte schon geschlafen, und er hat sich nicht mehr komplett ausgezogen.
Nun schmiegt er seinen Kopf in den Zufluchtsraum aller Männer, die nicht denken, nicht reden und am liebsten im Boden versinken wollen: zwischen die Unterseite des Kinns der geliebten Frau – oder wenigstens derjenigen, mit der man das Bett teilt – und dem Beginn der Brustebene oberhalb des Busens. Wer Glück hat, und Kappe kann in dieser Beziehung nicht klagen, spürt mit seinem unrasierten Kinn noch die oberen Ausläufer warmer, weicher weiblicher Rundungen.
Bei Klara gibt es für Kappe stets etwas zu spüren, sie ist üppig gebaut. Nur leider nachts immer brav in dicke, baumwollene Nachthemden eingepackt.
Trotzdem! Kappe kuschelt sich an diesem Morgen ganz besonders gern in diesen vom weiblichen Körper geformten Zufluchtsraum, der einen Augenkontakt unmöglich macht. Auch dann, wenn es die Frau darauf anlegt – so wie jetzt Klara, die, nachdem der Wecker bereits heftig klingelte, ohne bei Kappe auch nur die geringste Reaktion hervorzurufen, wissen will, wo er denn so lange gewesen sei. Sie kneift ihn dorthin, wo er sich früher sportlich durchtrainiert anfühlte.
«Morgen», brummt Kappe, ohne mit seinem Kopf den sicheren Raum zu verlassen.
«Und?», fragt Klara.
Bei so einem spitzen «Und?» ist es taktisch sinnvoll, schnell und umfassend zu antworten, hat Kappe gelernt. «War noch ermitteln … im Chinesen-Viertel … Dieser Mord, du weißt schon … Alles knifflig … Von Canow will schnell Ergebnisse haben.»
«Aber nicht Sonntagnacht!»
«Doch!», entgegnet Kappe.
«Und die Vernehmungen finden dann bei Bier und Buletten statt – oder wie? Du hast geduftet wie ’ne ganze Eckkneipe, als du
kamst.»
«Ach, warst du noch wach? Wusst ich nicht. Ja, ich musste dahin.»
«War ich, ja, aber du hast ja nichts mitbekommen.» Kappe versucht, Klara einen Kuss auf den Mund zu geben. Aber er trifft nur ihre Wange. Zu schnell hat sie sich weggedreht.
Gut, er hat auch immer Kinder gewollt. Nun ja, eigentlich hat er sich nie so richtig Gedanken darüber gemacht. Es gehört einfach dazu, welche zu haben. Aber dieses frühmorgendliche Gequäke, dieses frühe Wach- und Fröhlichsein, das kann Kappe noch immer nicht verknusen. Nun aber freut er sich ausnahmsweise, als er das Rütteln an der Schlafzimmertür und die hohen Stimmen von Margarete und Hartmut hört. «Die Kinder!», sagt er. Eine effiziente Methode, um jedes Gespräch abzuwürgen.
«Ich geh schon! Die sollen dich nicht so sehen. Komm erst mal zu dir!» Mit diesen Worten springt Klara aus dem Bett, schlüpft in ihren Bademantel und ist auch schon zur Tür hinaus.
Gleich wird Klara wieder vor ihm stehen, denkt er, und ihm eine Predigt halten, dass er aufstehen müsse. Er wird dann sagen, er wolle nur noch einen kleinen Moment «nachdenken». So nennt er das immer, wenn er noch im Bett bleiben will. Klara wird, wenn sie gut gelaunt ist, darauf eingehen und sagen, er solle im Präsidium weiterdenken, denn dort werde er dafür bezahlt, oder sie wird einfach nur sagen: «Raus jetzt!»
Was sie an diesem Morgen sagt, bekommt er nicht so genau mit. Er weiß nur, dass sämtliche Informationen, die in seinem Kopf ankommen, langsamer verarbeitet werden als sonst. Deshalb braucht er auch am Küchentisch einen Moment länger, um die Tragweite des Satzes von Klara zu verstehen, die sagt: «Am Freitag beginnt im Graphischen Kabinett Neumann eine Ausstellung von Max Beckmann. Die könnten wir uns doch ansehen, und dann könnten wir uns gleich mal nach ’ner besseren Wohnung umsehen, dort im Westen. Du hast es mir ja versprochen.»
Eigentlich wollte er seit dem Eheversprechen kein weiteres Versprechen leichtfertig abgeben, aber er erinnert sich dunkel daran, mal gesagt zu haben, man könne über einen Umzug reden. Mehr aber nicht. Nur weil da diese Angeber wohnen, will Klara da auch hin. Ausgerechnet sie, eine ehemalige Verkäuferin aus dem Kaufhaus. Sie weiß, dass George Grosz mit seiner Frau Eva Peters an den Hohenzollerndamm 201 gezogen ist. Sie weiß, dass es vor zwei Jahren die erste internationale Dada-Messe in Berlin gab. Diese Reichswehr-Beleidiger, diese Klassenhass-Aufstachler mussten ja zahlen dafür: Verleger Herzfelde sechshundert und Grosz dreihundert Mark, wenn sich Kappe recht erinnert. Und ausgerechnet seine Frau muss solche hässlichen Gestalten auf Bildern gut finden, solche ätzenden Karikaturen kahlköpfiger Kriegsgewinnler und verstümmelter Kriegsheimkehrer, die blind und amputiert Streichhölzer feilbieten. Hätte sie nur vor zwei Jahren Hartmut nicht im Urban bekommen! Sie hätte Ruth, die andere Mutter im Krankenzimmer, nie kennengelernt, diese Kunst-Amsel, die im Malik-Verlag arbeitet. Naja, nun war es eben so.
Bevor er weiterdenken und an einer Antwort tüfteln kann, kommt der nächste Satz von Klara, kaum dass sie ihren Marmeladenbrotbissen hinuntergeschluckt hat: «Vielleicht ist ja auch Die Nacht von ihm zu sehen, ein schreckliches Bild, aber so authentisch. Findest du nicht auch? Oder was Neues. Ach, ich bin ja so gespannt!»






