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Kappe mag Max Beckmann eigentlich gar nicht. Verdrehte und abgetrennte Gliedmaßen kennt er aus der Gerichtsmedizin, hässliche Fratzen aus dem Vernehmungszimmer. «Ja, vielleicht …»
In diesem Moment wirft Hartmut die Tasse Milch vom Tisch. «Hartmut, pass doch auf! Ich hab zigmal gesagt, du sollst nichts an den Rand stellen.» Klara ist sauer. Sie räumt den Schlamassel weg. Als sie vor Kappe auf den Knien die Milch aufwischt, sagt sie trotzig: «Ich mag aber Beckmann, und ich will da hingehen!»
«Gut, wir reden noch mal drüber. Und versprochen, ich schau mich heute schon mal in deinem Kiez der Schönen und Reichen um. Vielleicht wird ja bald ’ne Wohnung frei, wenn ich den chinesischen Großhändler Li des Mordes überführen kann.»
«Mach dich nur lustig!», entgegnet sie.
«Nein, im Ernst! Der wohnt da, Kantstraße, und da muss ich wirklich hin, und vielleicht buchten wir ihn ja ein.» Mit diesen Worten und einem Klara auf die Stirn gehauchten Kuss ist Kappe weg.
Wenig später steht er verärgert an der Tramhaltestelle, als ihm einfällt, dass die Straßenbahnen noch immer nicht fahren. Nun muss er zum Alexanderplatz laufen.
«Na, zurück von der Reise ins Land der Schlitzaugen?» Mit diesen Worten begrüßt ihn Galgenberg.
Kappe erzählt vom Wochenende und erhofft sich ein wenig Anerkennung von dem älteren Kollegen.
Doch Galgenberg meint nur, solange man bloß zwei Kinder und nicht wie er fünf habe, könne man doch locker mal einen Sonntag dem Dienst opfern.
«Ja, einen Sonntag schon, aber nicht auch noch die Ehe.» Kaum hat er das gesagt, merkt Kappe auch schon, dass er zu viel preisgab von seinen Problemen, obwohl Galgenberg manches Mal schon als väterlicher Berater, auch in Liebesdingen, fungiert hat. So schnell und so direkt hat er ihm eigentlich nicht sagen wollen, dass bei ihm der Haussegen schief hängt. Schnell versucht Kappe, das Thema zu umgehen, und erzählt seinem Kollegen von seinem Besuch bei Wong und davon, dass bald der Dolmetscher Tam erscheinen müsse.
Galgenberg bemerkt diesen abrupten Themenwechsel sehr wohl und sagt nur: «Ach, Klara wird sich schon wieder einkriegen. Du darfst den Chinesen-Fall auch nicht zu ernst nehmen.»
Anders als die Kriegsheimkehrer auf den Grosz-Bildern hat Galgenberg, zumindest äußerlich, nichts an der Front verloren, weder einen Fuß noch einen Arm oder ein Bein. Und seine Schussverletzung ist auch verheilt.
Dennoch, stellt Kappe immer wieder fest, ist er durch den Krieg ein anderer geworden. Er ist zynisch geworden. Manchmal kommt er Kappe geradezu defätistisch vor. Es scheint, als habe Galgenberg seine schützende Soldatenuniform, die sicher auch seine Seele umschloss, nicht mehr abgelegt. Sie ist festgewachsen, hat sich eingebrannt oder ist sonst wie dageblieben. Jedenfalls geht Galgenberg offenbar nichts mehr wirklich nahe. Das Mitgefühl mit Opfern, der Eifer, einen Fall zu klären, die Erschrockenheit über eine blutige Tat – alles weg. Früher hätte Galgenberg niemals gesagt, dass es doch genug Chinesen gebe drüben in Asien und dass es daher nicht so schlimm sei, wenn es einer weniger wäre, zumal die hier sowieso nur mit der deutschen Industrie konkurrieren. Nun aber tut er es, und Kappe schaut entsetzt von Kaffee und Lokal-Anzeiger auf. Außerdem versteht er den Seitenhieb auf die Industriekonkurrenz nicht.
Galgenberg merkt das. «Aber mein Junge, was würde unsere chemische Industrie machen, wenn sie kein Kokain mehr verkaufen könnte? Was, wenn hier in der Friedrichstraße, am Potsdamer Platz, im Femina, an der Goldelse plötzlich alle dem aufputschenden Kokain abschwören und zum Opium der Chinesen greifen würden? Wär doch schade um die schönen Nackttänzerinnen, die schnellen Radrennfahrer und die einfallsreichen Künstler, wenn ihnen allen der Kokain-Kick fehlen würde.» Galgenbergs schwerer Körper bebt vor Lachen.
Kappe findet das nicht lustig. Natürlich weiß er, dass es Opiumhändler aus Asien gibt und dass ohne Kokain, das offiziell nur auf Rezept in kleinen Mengen abgegeben werden darf, vieles anders wäre im Nachtleben Berlins. Aber es gibt nun einmal Apotheker und Ärzte, die es mit den Rezepten nicht so genau nehmen, und Kollegen bei den Behörden, auch bei der Polizei, die eben nicht alle Kraft darauf verwenden, die illegale Nutzung zu unterbinden. «Klar, wer will, soll sein Kokain schnupfen. Is mir schnuppe! Aber unser Fall hat nichts mit Rauschgift zu tun. Ich hab das ärmliche Zimmer gesehen. Der hat Nippes an alte Mütterchen verscherbelt. Und außerdem, Mord ist Mord. Der muss aufgeklärt werden!», sagt Kappe aus Überzeugung.
«Nu mal janz langsam! Ich hab hier noch so viele Akten, fahr du mal zu dem Konkurrenten des Chinesen, für den das Opfer arbeitete.» Kappe ist froh, herauszukommen aus dem Präsidium. Mit der Hochbahn fährt er bis zum Savignyplatz und geht dann zur Kantstraße, in der Li wohnt.
Es sind hier schon feinere Herren und vornehmere Damen unterwegs als in seinem Kreuzberg.
Kappe genießt den kleinen Spaziergang, kauft sich unterwegs eine heiße Wurst und freut sich, dass er hier auf der Straße auch mal einen Mercedes oder gar einen Maybach sieht und nicht nur knattrige AGAs, also Wagen der Aktiengesellschaft für Automobilbau.
Herr Li ist das Gegenteil von Herrn Wong. Er ist klein, feingliedrig, schlank. Er wohnt nicht, nein, er residiert in der Beletage. Mit Stuck an den gut vier Meter hohen Decken, mit alten, ausgesuchten Möbeln auf dem Eichenparkett, mit Hausangestellten, die in anthrazitfarbene Uniformen westlichen Schnitts gekleidet sind und sich in vornehmer Zurückhaltung üben. Und das alles umgeben von einem exotischen Duft. Unaufdringlich, etwas süßlich, aber nicht zu schwer, leicht zedernhaft oder besser zitronenhaft, aber nicht sauer.
Herr Li, der tatsächlich, wie ihm Tam gesagt hatte, ausgezeichnet Deutsch spricht, bemerkt, dass sich Kappe umschaut und zu ergründen versucht, was in der Luft liegt. «Das ist unser Tee, grüner Tee! Ich bekomme ihn direkt von meinem Bruder aus China. Er ist rein, und so duftet er auch. Darf ich Ihnen eine Tasse
anbieten?»
«Gerne! Man muss Neuem aufgeschlossen sein.» Kappe ist stolz, statt «Ja, danke!» so einen dem Umfeld entsprechenden Satz zustande gebracht zu haben. Schließlich sitzt er Herrn Li in einem von vier mit schwarzem Kalbsleder überzogenen Sesseln gegenüber.
Eine junge Chinesin, deren dünne Arme Modell hätten stehen können für die feingliedrigen Henkel der Teetassen, schenkt ihm die heiße blassgrüne Flüssigkeit ein. Etwas, das Kappe noch nie getrunken hat. Nun, er ist sowieso kein begeisterter Teetrinker. Aber wenn, dachte er immer, dann trinkt man doch Kräutertee oder schwarzen Tee. Aber grünen? Kräftig sieht er jedenfalls nicht aus, findet Kappe. Und der Geschmack?
Herr Li, den Kappe auf Ende fünfzig schätzt, schaut mit seinen jugendlich-leuchtenden Augen interessiert durch seine Hornbrille, als sei es ein wissenschaftliches Experiment, einen untersetzten Berliner Kommissar grünen Tee trinken zu sehen.
Bitter, mein Gott, wie bitter, und das sieht man gar nicht, denkt Kappe, als er den ersten Schluck genommen hat. Aber er lässt sich nichts anmerken, lobt den Geschmack, trinkt – eigentlich nur, um die junge Chinesin noch zweimal ganz aus der Nähe sehen zu können – insgesamt drei Tassen und spürt hinterher, dass nicht nur Kaffee, sondern auch grüner Tee eine nicht zu unterschätzende aufputschende Wirkung hat.
Schließlich kommt Kappe zum Thema. Ob er oder jemand aus seiner Firma hinter dem Mord an Keung stehen könnte?
Absurd! Herr Li lacht darüber.
Er ist der erste Chinese, den Kappe kennenlernt, der anders lacht. Nicht so schrill, nicht so hoch und nicht so laut. Gesitteter, denkt Kappe. Er spuckt auch nicht auf den Boden. Schließlich liegen da teure Perserteppiche.
Li bemerkt Kappes Blick. «Das hier hat sich meine Familie alles erarbeitet. Wir sind die älteste hier ansässige Familie.»
«Sie verkaufen Tee?», will Kappe wissen.
«Nein, wir haben einen Großhandel für Steinschnitzereien, Porzellan und Lack.»
«Keinen Tee?», erkundigt sich Kappe erneut.
«Nein, denn anders als Ihnen schmeckt den meisten Deutschen unser gesunder grüner Tee offenbar nicht. Zudem ist es schwer, eine Genehmigung für den Lebensmittelverkauf von Haustür zu Haustür zu bekommen.»
«Und Sie vertreiben Ihre Waren über Händler?»
«Ja. Wie hier bei allen Großhändlern üblich, kümmern sich selbständige Händler um den Vertrieb.» Herr Li streicht sich durch die zurückgekämmten, pomadisierten Haare. «Aber nicht alle bieten wirklich chinesische Waren an. Manche verkaufen deutsches Porzellan, manche geben billige Steine als Jade aus, und wieder andere handeln gar mit Illegalem. Ich will dazu nicht mehr sagen. Ich sage Ihnen nur, wir sind eine honorige Familie.»
Der Satz klingt wie die Regierungserklärung eines Deutschnationalen, denkt Kappe. «Und wie ist Ihr Verhältnis zu Herrn Wong? Er ist doch der direkte Konkurrent von Ihnen.»
«Ach, Berlin ist groß. Da ist genug Platz für viele. Das Verhältnis ist gut. Was soll ich sagen?»
«Mit Wongs Vorgänger, hab ich gehört, haben Sie besser zusammengearbeitet. Er war noch ein Händler alten Stils. So wie Sie.» Kappe nutzt nun Informationen, die er von Tam erhalten hat. Aber wie er feststellt, nützen ihm diese bei einem so aalglatten Gesprächspartner wie Li nicht sonderlich viel.
«Ich kann Ihnen nicht folgen», entgegnet dieser.
«Na ja, früher war es ein Miteinander, wurde mir gesagt, zwischen Ihnen und dem anderen Großhandelshaus. Seit Wong es übernommen hat, wirbt er Ihnen Händler ab und macht Ihnen Gebiete streitig.»
«Nein, Herr Kommissar, so ist es nicht! Wenn Sie so was gehört haben, kann es sich nur um dummes Geschwätz handeln», wiegelt Li ab.
Nichts ist aus ihm herauszubringen, das spürt Kappe. Während er überlegt, wie er es anstellen soll, die 08/15-Frage, wo Li sich zur Tatzeit aufgehalten habe, zu stellen, wobei sich Kappe nicht vorstellen kann, dass dieser feine Herr des Nachts in Kreuzberg auf offener Straße einen Mann tottritt, sagt Li in die Gesprächspause mit einem offenen Lächeln: «Wenn Sie wissen wollen, und das wollen Sie sicher, wo ich zur Tatzeit war, kann ich Ihnen sagen, nachdem ich die Tatzeit aus der Zeitung erfahren habe, dass ich die Stunden des Abends mit einer reizenden jungen Dame verbrachte.» Li macht eine Pause und genießt den fragenden Blick im bärtigen Gesicht des durch den Tee etwas nervös gewordenen Kommissars Kappe. Dann sagt er jedoch: «Mit meiner Nichte.» Li greift zu einem kleinen silbernen Glöckchen und bittet die Chinesin mit den Teetassenarmen, seine Nichte zu holen.
Das hätte er nicht tun sollen. Herr Li hätte sie nicht rufen sollen, seine Nichte. Er, Kappe, hätte ihm das Alibi auch so geglaubt. Und hätte er Fräulein Li nicht gesehen, nie kennengelernt, sein Leben wäre ein anderes, ein ruhigeres gewesen.
Aber das kann er in dem Moment, in dem ein Flügel der großen, weiß lackierten Tür aufgeht, nicht ahnen. In diesem Moment spürt er nur, dass es ihn in der Magengegend zwickt. Ist es der Tee, ist es sein Herz, das tiefer rutscht, fragt er sich. Oder das Würstchen, dessen Zutaten vielleicht nicht ganz frisch waren oder womöglich nicht einmal von Tieren stammten? Aber der Frauenmörder und Fleischer Karl Großmann, die»Bestie vom Schlesischen Bahnhof«, sitzt ja schon in Untersuchungshaft, beruhigt sich Kappe. Verrückt, was ihm in diesem Moment alles durch den Kopf schießt. So viel, dass er sich nicht rechtzeitig erheben und vorstellen kann.
«Das ist Lienhwa Li, meine Nichte», sagt Herr Li. «Sie studiert hier an der Hochschule für Politik gemeinsam mit meinem Sohn.» Und dann zu seiner Nichte geneigt: «Und dies, liebe Lienhwa, ist Kommissar Hermann Kappe.»
Erst als er diesen Satz wiederholt bekommt, steht Kappe auf und gibt Fräulein Li artig und unsicher wie ein kleines Kind die Hand und verharrt mit auf sie gerichteten Augen.
Herr Li rettet die Situation, indem er seine Nichte bittet, sich zu ihnen zu setzen. Dann klingelt er erneut, damit die Teetassenarm-Chinesin auch der Nichte grünes heißes Wasser eingießen kann.
Aber Kappe achtet nicht darauf. Seine Augen und Gedanken haben ein neues Ziel gefunden. Die kleine Dienerin, an die denkt er längst nicht mehr, die Sorgen mit Klara, der Mord, all das scheint auf einmal weit weg zu sein. Kappe staunt nur noch. Über diese wunderschöne Erscheinung in weiblicher Gestalt und über sich, dass er sich als erfahrener Kommissar und Ehemann noch dermaßen aus den gut geschnürten Schuhen hauen lässt.
Freilich, vollkommen unverständlich ist es auch für einen Außenstehenden nicht. Fräulein Li ist hübsch, hübscher als alle Chinesinnen, die Kappe jemals gesehen hat. Aber mehr noch, und das macht es erst richtig problematisch, sie ist attraktiver als alle Frauen, denen Kappe jemals begegnet ist. Diese Grübchen beim Lächeln links und rechts der kleinen Stupsnase, diese kleinen Fältchen neben den mandelförmigen Augen, diese schon aus der Ferne pfirsichzart wirkende Haut, dieser jugendliche, schlanke Körper, den man unter dem ausgesucht eleganten, hellgrauen, schlichten Kleid gut erahnen kann.
Kappe stottert seine Fragen mehr, als dass er sie preußisch beamtenhaft vorträgt. Natürlich bestätigt Fräulein Li das Alibi ihres Onkels, aber Kappe hört es nicht. Er hört nur den Klang ihrer Stimme, der so jung und zart ist.
Ihr in chinesischer Sprache geschulter Singsang nimmt den deutschen Worten jegliche Härte und betont die Vokale anders, manchmal falsch, aber auf jeden Fall reizend. Sicher kommt sie auch aus Südchina, wie die meisten in Berlin lebenden Chinesen, spricht Kantonesisch und hat für jeden Vokal neun verschiedene Tonhöhen, während Hochchinesisch ja nur vier verschiedene Tonlagen kennt.
Tam hat ihm das erklärt.
Dass er ausgerechnet jetzt daran denken muss! Was hat sie gesagt? Kappe ist verwirrt.
Lienhwa Li schließt den Mund mit einem stillen, reinen Lächeln. Einen Moment lang schaut sie Kappe an, dann senken sich ihre Augen auf die über dem Schoß gefalteten Hände.
«Wenn Sie keine Fragen mehr haben, lassen wir Lienhwa wieder ans Studieren gehen, nicht wahr?»
Obwohl Kappe die Frage von Herrn Li hört, öffnet er den Mund nicht für eine Antwort. Er fürchtet, dass sich sonst seine Gedanken, denen er nachhängt, unbewusst einen Weg zur Zunge bahnen und als Worte für jeden hörbar werden könnten. Und nichts wäre peinlicher als das. Kappe nickt deshalb nur.
Fräulein Li verabschiedet sich.
DREI
VIELLEICHT IST IHR VATER JA PERVERS. Und ihr Großvater auch. Denn wenn die Töne, die sie so schön finden, Ausdruck tiefster, dunkelster Verzweiflung sind – und vieles spricht dafür –, wenn diese Klänge Einsamkeit, Trauer und Todesangst widerspiegeln, wäre es doch pervers, sich daran zu erfreuen. Aber sie tun es. Seit Kweihwa Li ein Kind war, tun sie es. So wie viele Männer. Eigentlich wie alle älteren Männer, die sie kennt. Erst jetzt merkt sie, dass sie sich noch nie überlegt hat, wie sich die Grillen dabei fühlen. Nun singen sie wieder. Laut und schrill. Kweihwa Li tritt aus der Schlange, in die sie sich vor der kleinen Post in Qingtian eingereiht hat, und beugt ihren schlanken Körper ein wenig zu dem alten Mann hinunter, der auf der Straße hockt und vor sich zwei Dutzend Tontöpfe mit lebendem Inhalt aufgestellt hat.
In sechs darüber gestapelten kleinen Korbkäfigen, durch deren enges Geflecht man die Insekten mehr erahnen als sehen kann, zirpen Tiere vor sich hin. Sie symbolisieren das Frühjahr.
Das ist nun da. Ihr Großvater freut sich seit Jahren, wenn er diesen Klang der sprießenden Natur, der wärmer strahlenden Sonne über den Winter retten kann, wenn seine Grille überlebt. Aber sie muss ihre Tage in einem kleinen, engen, dunklen Gefängnis fristen. Und vielleicht ändert sich deshalb im Laufe der Zeit ihr Klang, vielleicht sind es bald nicht mehr die Töne des Frühjahrs, die sie zum Besten gibt, sondern die der Einsamkeit und der Todesangst.
Kweihwa Li hat sich noch nie Gedanken gemacht über Grillen, seit sie vor neunzehn Jahren auf die Welt gekommen ist. Aber nun steht sie da auf der staubigen Straße hinter den Müttern, die Post von ihren Söhnen erwarten, und den Männern, die sich Geschäftsbriefe erhoffen mit neuen Bestellungen für Schnitzereien.
Und Kweihwa Li? Sie hofft auf einen Brief ihrer Schwester. Sicher wird Lienhwa wieder von ihrem politischen Kampf gegen die Ungerechtigkeit schreiben, denkt sie, von ihren Diskussionen mit kommunistischen Studenten in Berlin und ihrem Streben danach, allen Frauen Zugang zur Bildung zu verschaffen. Sie schreibt das immer so ernst, als wolle sie eine Rede halten.
Kweihwa Li hat nie verstanden, warum sie ihr das schreibt, hat das doch mit ihrem Leben hier nichts zu tun, denkt sie. Die Kommunisten kämpfen in Peking oder Shanghai. Und Freiheit, Gleichberechtigung? Ihr Vater wird schon wissen, was gut für sie ist. Wenn man sich um etwas kümmern könnte, dann vielleicht um die Freiheit der Grillen.
Aber bald hat sie auch diese vergessen. Mit kleinen schnellen Schritten tippelt sie auf ihrem Rückweg aus der Post an den Tierchen vorbei, den Brief in den Händen. Sie will ihn erst zu Hause öffnen und alleine auf der Bank hinterm Haus lesen.
Liebe Kweihwa,
meinen Dank will ich Dir zuerst übermitteln für den schönen Anhänger und den feinen Tee. Das bringt mir ein Stück Heimat in der Ferne. Das ist lieb. Ich denke oft an Dich und hoffe, dass es Dir gut geht, Mama und Papa auch. Ich schreibe ihnen ja gleich noch einen eigenen Brief. Oft denke ich, wie schön es doch wäre, wenn Du mich hier besuchen könntest. Und wir könnten in Revuen gehen und in Clubs. Da wird getanzt. Manche Frauen, Du wirst es nicht glauben, tanzen hier ganz nackt. Ausdruckstanz nennen sie das. Aber es gibt auch Ausdruckstanz, bei dem die Frauen angezogen sind. Sicher, die Nackten, das ist eher was für Männer. Und manche der Frauen verkaufen sich auch. Eine hat mir mal erzählt, wenn man genug Kokain nimmt (das wird hier genommen und nicht so häufig Opium wie bei uns), dann mache es einem gar nichts mehr aus, mit verschiedenen Männern … Dann mache das sogar Spaß. Du siehst, man kommt hier sogar mit solchen Menschen in Kontakt. Aber nein, liebe Kweihwa, hab keine Angst! Deine Schwester macht so etwas nicht.
Aber ich muss zugeben, es ist hier schon offener. Also man küsst sich schneller als bei uns, und dass man einen Freund hat, bevor man heiratet, das ist auch normal. Ach, erst neulich traf ich einen sehr netten schüchternen Mann, einen älteren, bärtigen. Zugegeben, er ist verheiratet, und er ist wohl auch nichts für mich, aber es ist schön, dass es Männer gibt, die so ganz anders sind als unsere. Nicht so dem Patriarchat verhaftet. Ach, welch Wort verwende ich hier, Schwester –ich meine, einfach nicht so lautsprecherisch. Ganz im Gegenteil, er ist so zurückhaltend, so … Na ja, ich glaube jedenfalls, ich habe ihn sogar verlegen gemacht. Stell Dir das mal vor, ich mache einen ausgewachsenen deutschen Mann verlegen! Und dabei ist er sogar Polizist. Ach ja, das hab ich Dir noch gar nicht geschrieben: Ein Händler von Onkels Konkurrent wurde erschlagen. Schlimm! Ein Mord! Wir als Konkurrenz sind verdächtigt worden. Wie absurd! Noch hat die Polizei keinen Täter. Der Bärtige sucht nach ihm. Ein bisschen hab ich ja Angst, dass es ein Ausländerfeind gewesen sein könnte, der den Mann totschlug. Neuerdings liest man hier nämlich in Zeitungen nicht nur Nettes über Menschen aus fremden Ländern. Eine Zeitung, der «Lokal-Anzeiger», nennt Ausländer gelegentlich «Parasiten am deutschen Volkskörper». Er gibt ihnen die Schuld dafür, dass die Preise hier steigen. Dabei sind die wirklich niedrig. Viele studieren hier, weil es billiger ist als in Paris. Nur ein Drittel so teuer wie dort ist es hier.
Also, wie gesagt, ich fände es schön, wenn Du mich besuchen könntest. Es ist nur so, das las ich neulich, dass man es Ausländern schwerer machen will, nach Deutschland zu kommen. Man bekommt nur noch für vierzehn Tage einen Sichtvermerk und auch nur, wenn es einen zwingenden Grund dafür gibt. Aber ich denke, Onkel könnte da schon etwas machen. Ich werde mal bei der chinesischen Gesandtschaft nachfragen. Die ist ja nicht weit von hier entfernt, am Kudamm. Du brauchst auch keine Angst haben. Im Westen, wo wir wohnen, ist alles sicherer als im Osten, wo die Händler leben und die Arbeiter. Es leben zwar sehr viele Russen in der Gegend, aber das sind feine Leute. Auch die meisten meiner Mitstudenten wohnen hier. Dir wird es hier gefallen. Wir werden einkaufen gehen, ins Theater und, wenn Du magst, auch mal in Piscators proletarisches Theater. Nun, liebe Kweihwa, nachdem ich so wirr und so viel geschrieben habe, muss ich los. Wir wollen uns heute Abend im Verein der Chinesischen Studenten treffen. Wenn wir weiter so wachsen, haben wir bald dreihundert Mitglieder.
Du fehlst mir, Schwester!
Bis dahin alles Liebe,
Deine an Dich denkende und Dich nicht vergessende Lienhwa
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