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Nach etwa dreißig Metern hatten sie eine Wand erreicht, in der sich der offene Schacht eines Lastenaufzugs befand. Lobos trat auf die Plattform und alle folgten ihm. Der Admiral trat an ein kleines Bedienpult an der linken Seite und drückte ein paar Knöpfe.
Daraufhin war das Anspringen einer Hydraulik in der Wand hinter ihnen zu hören, dann ertönte ein heiseres Hupen und zwei orangefarbene Signalleuchten an den vorderen Ecken der Plattform begannen zu leuchten und sich zu drehen. Einen Augenblick später ruckte es und während die Plattform in die Höhe fuhr, offenbarten die Leuchten ein unwirtliches, gespenstisches, fast bizarres Bild vor ihnen, dass ihnen unwillkürlich eine Gänsehaut über den Rücken trieb.
Ja, sie befanden sich tatsächlich in einer Halle und zwar – Mavis, Vilo und Cosco hatten es bereits vermutet – im Haupthangar der Kamarulu. Er durchzog sie auf der kompletten Länge und war wie ein riesiger Quader mit einer Breite von rund einhundert Metern und einer Höhe von fünfzig Metern konstruiert. Hier wurden alle Flugzeuge gewartet, repariert und betankt. Hier waren die gewaltigen Maschinenblöcke der acht Antriebsreaktoren im Heck installiert. Hier befanden sich der Zentralrechner, die Lüftungssysteme und die Kühleinheiten. In ihm schlug quasi das Herz des Schiffes – zumindest hatte es das früher einmal getan. Doch jetzt waren für alle deutlich sichtbar die katastrophalen Schäden innerhalb des Hangars zu erkennen, sowie etliche schwere und einige furchtbare und daher tödliche Beschädigungen der Außenhülle.
Es war ein absolut gespenstisches Bild, das alle in seinen Bann zog und sprachlos machte.
Da gab es riesige Trümmerhaufen, in denen hier und da noch die Umrisse von Jägern zu erkennen waren und die teilweise bis unter die Decke emporragten. Überall wiesen die Zwischenwände Löcher auf, teilweise starke Verformungen, die die gewaltige Kraft, denen sie ausgesetzt gewesen waren, nur erahnen ließ. Vielfach waren die Wände aber auch einfach nur weggesprengt worden und bildeten bizarre Umrisse. An einigen Stellen gab es Löcher im Boden des Hangars, als wären mächtige Felsbrocken hindurch geschossen. Container, Maschinenteile und andere Gegenstände waren teilweise nur halb hindurch gestürzt und ragten jetzt mahnend empor. Am allerschlimmsten aber war der Anblick der geborstenen Außenhülle. Da gab es kleinere, kreisrunde Löcher, von wenigen Metern Durchmesser, durch die eindeutig Geschosse eingedrungen waren. Ihr Weg ins Innere war begleitet von immenser Zerstörung. An anderen Stellen war die Hülle in langen Rissen aufgebrochen worden, als hätte man dem Schiff zunächst mit einem Messer eine Schnittwunde verpasst und dann monströse Klauen versucht, sie auseinander zu ziehen. Und schließlich gab es riesige Zerstörungen, als wäre ein gewaltiges Monstrum durch den Stahl gebrochen und wie ein Komet in das Innere gerauscht. An einer Stelle klaffte ein riesiges, längliches Loch im Boden und hatte ihn auf mehr als einhundert Metern zusammengedrückt und zu einer mächtigen, bizarren Wand aufgetürmt.
Dort, wo die Außenhülle Löcher hatte, drang das Wasser von oben herein und durch das orangefarbene, rotierende Licht aus den Lampen des Fahrstuhls schimmerte alles feucht und wirkte, als würde das Schiff selbst jetzt noch aus unzähligen offene Wunden bluten.
„Großer Gott!“ stieß Kaleena leise und ziemlich geschockt hervor. Das, was sie sah, gepaart mit der Vorstellung, dass zum Zeitpunkt der Zerstörung etliche Menschen anwesend gewesen sein mussten und hierbei ihr Leben gelassen hatten, erzeugten bei ihr eine widerlich eisige Gänsehaut, die über ihren Rücken kroch. Lobos Ausführungen in der Höhle brachten ihr erst jetzt furchtbare Bilder von schreienden und sterbenden Menschen, die sie förmlich hören konnte.
„Verdammt!“ zischte Captain Cosco und man konnte sehen, wie seine Kiefer aufeinander malten.
Der Admiral selbst blieb noch immer stumm. Er wartete, bis der Aufzug wenig später in rund fünfzig Metern Höhe abstoppte, dann deutete er der Gruppe an, ihm zu folgen. Er führte sie nach links um einen dicken Pfeiler herum, dann hielt er vor der Brüstung inne. Von hier aus hatten sie den ultimativen Blick über den Haupthangar, konnten ihn noch einmal in all seiner Pracht, aber auch in all seiner Zerstörung betrachten.
Nach einem weiteren Augenblick der Stille, begann Lobos wieder zu erzählen. „Die Kamarulu hatte eine Besatzungsstärke von 7.680 Personen. In Alarmbereitschaft – wie an jenem Tag – waren es 9.340! Gut sechshundert von ihnen saßen in den Kampfjets und den anderen Flugzeugen. Verbleiben rund 8.700 Menschen, die sich zum Zeitpunkt des Absturzes an Bord befanden. Heute leben davon noch…!“ Sein Gesicht wurde zu einer versteinerten Maske. „…63!“ Er atmete einmal tief durch. „Allein hier im Haupthangar starben über 4.000 Seelen!“ Lobos begann plötzlich zu lächeln und lachte sogar heiser auf. „Doch was ist diese Zahl im Vergleich zu all den anderen Toten allein an diesem einen Tag vor sieben Jahren weltweit?“ Er wurde sehr traurig und schüttelte den Kopf. „Vielleicht hätten wir alle hier sterben sollen!“ hob er dann wieder an und schaute in die Runde. „Mit unseren Kameraden, mit unseren Freunden. Menschen, die wir kannten, achteten…liebten und ohne die jedem von uns seither etwas fehlt!“ Er verzog die Mundwinkel. „Vielleicht hätten wir die Kamarulu ihrem doch schon so klaren Schicksal übergeben und sie hier ihr Grab finden lassen sollen. Und unseres!“ Er hielt inne und schüttelte den Kopf. „Doch in jener einen Sekunde, da wir das feindliche Schiff überflogen und mit wüsten Treffern eingedeckt hatten, sahen, dass es verwundbar war, wie verwundbar es war, welche Schäden unsere Waffen anzurichten vermochten, in jenem einen Moment, da mir das bewusstwurde und wir die Nebelwand des Wasserfalls durchstießen und auf der anderen Seite den gewaltigen dreistufigen Wasserfall des Mioli-Flusses vor uns hatten…!“ Wieder stoppte er, lächelte, schüttelte den Kopf. „…da kam mir plötzlich ein…vollkommen wahnwitziger Gedanke!“ Er hob seinen Kopf und schaute die anderen an. „Die Kamarulu war so schwer beschädigt, dass sie sich nicht mehr verteidigen konnte. Sobald das feindliche Schiff aus dem Nebel auftauchen würde, würde es uns in die Unendlichkeit pusten. Wir hatten einen grandiosen Angriff geflogen, aber wir hatten schlicht zu spät reagiert und nicht mehr die Munition für auch nur noch eine weitere Attacke. Und doch blieb die Tatsache, dass wir dem Gegner hatten Paroli bieten können und…vielleicht hätten wir an einem anderen Tag, an einem anderen Ort unsere Chancen weitaus besser nutzen und dieses gewaltige Schlachtschiff zerstören können. Wenn wir aber nichts taten und uns unserem Schicksal hingaben, würden wir es sein, die hier zu Staub verglühten. Doch gab es überhaupt noch eine Chance, die Kamarulu zu retten? Wenn ja, dann mussten wir es nicht nur schaffen, dass Schiff vor den Augen des Feindes zu verbergen, sondern ihm gleichzeitig auch noch weismachen, es wäre zwar nicht durch einen weiteren Angriff durch ihn, so doch aber durch die Schäden seiner früheren Attacken zerstört worden!“
„Verdammt!“ rief Mavis mit ernster Miene, ein wenig überrascht, aber mehr noch erkennend. „Sie haben…!“
Lobos nickte und musste lächeln. „Es war eine reine Bauchentscheidung, nicht mehr und nicht weniger, innerhalb eines Lidschlages das Schicksal zu ändern!“ Das Gesicht des Admirals war eine einzige gequälte Maske, fast schien es, als würde er Tränen in den Augen haben. „Da wir keine Munition mehr hatten, blieb uns nur eine Wahl!“
„Die Triebwerke!“ rief Vilo mit großen Augen. Auch er hatte mittlerweile erkannt, was geschehen sein musste.
Wieder nickte Lobos. „Die Triebwerke. Die mächtigsten je von Hand gebauten Maschinen mit einer Kraft, die ihresgleichen suchte. Allein ihre Zerstörung hätte eine Energie freigesetzt, die alles zu Staub verbrannt hätte!“ Wieder hielt Lobos inne und musste leise auflachen. „Also genau das, was wir brauchten!“ Er schaute in die Runde. „Als ich den Befehl gab, zwei von ihnen abzusprengen, muss meine Mannschaft wohl gedacht haben, ich sei verrückt geworden, doch ich bin froh, dass sie letztlich noch an mein Urteilsvermögen geglaubt und ihn ausgeführt hat!“ Er verzog die Mundwinkel und sagte fast mehr zu sich selbst. „Zumindest mehr als ich in diesem Moment!“ Dann atmete er tief durch. „Sie wurden abgeworfen, als wir den ersten Wasserfall überflogen. Ich befahl daraufhin, alle Maschinen sofort zu stoppen, auf Umkehrschub zu gehen und das Schiff in den zweiten Wasserfall abtauchen zu lassen! Schon eine Sekunde später war ich mir sicher, tatsächlich verrückt geworden zu sein, von einem Schiff ein Manöver zu verlangen, dass es selbst im intakten Zustand kaum schadlos hätte ausführen können. Doch was spielte es schon noch für eine Rolle?“ Er schniefte einmal durch die Nase. „Die Kamarulu ächzte und stöhnte, als wollte sie ihren Unmut zum Ausdruck bringen. Die Hülle wurde an einigen Stellen derart beansprucht, dass sie Risse bekam. Aber dennoch gelang uns mit diesem Sechzigtausend-Tonnen-Schiff eine abrupte, fast punktgenaue Vollbremsung auf einer Fläche, die kaum größer war, als es selbst!“ Er grinste. „Dann ging alles ganz schnell! In dem Moment, da das feindliche Schiff aus dem Nebel hervortrat, waren wir noch zur Hälfte über Wasser, sodass wir alle Maschinen abschalteten und die Kamarulu wie ein Stein zu Boden sackte. Die Außenhülle wurde an vielen Stellen noch weiter zerstört und ich habe noch niemals zuvor Stahl solche Geräusche machen hören, wie in diesen Sekunden, als es sich zwischen die Felswände quetschte. Dann explodierten die beiden Triebwerke im ersten Wasserfall und erneut war ich mir sicher, alles falsch gemacht zu haben, denn die Erschütterungen waren unfassbar gewaltig, schüttelten uns und das Schiff durch wie ein Barmixer seinen Drink. Die Explosionen zerstörten den ersten Wasserfall, lösten Tausende und Abertausende Tonnen Felsgestein, spülten es auf das Deck der Kamarulu und begruben es unter sich!“
Ruhe trat ein, in der alle stumm die Worte des Admirals verarbeiteten. Dann fuhr Lobos fort: „Ich habe keine Ahnung, wie der Anblick für das feindliche Schiff gewesen war, als es uns überflogen hat, aber…ganz offensichtlich…schöpfte dort niemand Verdacht, denn es verschwand auf Nimmerwiedersehen!“
Vilo nickte. „Sie haben im richtigen Moment die richtige Entscheidung getroffen. Ich habe die Satellitenbilder gesehen und war mir vollkommen sicher, ich sehe die Explosion der Kamarulu!“
„Sie haben das gesehen, was sie erwartet haben zu sehen!“ meinte Captain Tibak und alle stimmten nickend zu.
„Wer hätte denn auch so etwas ahnen können…?“ Cosco schüttelte lächelnd den Kopf.
„Bleibt noch eine Frage!“ meinte Mavis und schaute den Admiral direkt an.
Der nickte bereits wissend. „Ja, aber…!“ Er verzog die Mundwinkel. „…ich muss sie enttäuschen. Das Schiff ist nicht mehr flugfähig! Der Kampf, die Kräfte, die hier bei dieser irrwitzigen Aktion gewirkt haben – das alles war zu viel für sie!“ Er versuchte ein Lächeln, doch es gelang nicht wirklich. „Sorry!“ Sein Gesicht wurde zunehmend dunkler. „Außerdem haben wir noch ein ganz anderes Problem!“
„Und welches?“ fragte Melia.
Lobos sah in die Runde. „Kommen sie. Ich zeige es ihnen!“
VI
„Okay!“ Narrix sprach ruhig, während er auf Jorik zukam. „Die Schlampe, die meine Männer verraten hat, gehört also zu dir!“ Er nickte mit ausdruckslosem Gesicht.
Jorik stand in der Mitte des Raumes. Seine Hände waren noch immer auf dem Rücken gefesselt und um seinen Hals lag wieder ein Strick, den der Kerl hinter ihm fest angezogen hatte, sodass er nach wie vor ziemlich hilflos war. Und nicht nur das: Er wusste nur zu genau, dass er sich in einer höchst gefährlichen, wenn nicht sogar tödlichen Gefahr befand. Narrix war ein Psychopath allererster Güte. Wie er jemals das Kommando eines Schiffes hatte erringen können, war Jorik absolut schleierhaft. Und Narrix war sauer. Stinksauer, zornig, Wut brauste in ihm auf: Mochte er sich äußerlich auch noch so gut im Griff haben, in seinen Augen konnte Jorik die Wahrheit erkennen. Er sah Wut und Hass.
Narrix wollte Rache. Für den Verlust seines Schiffes, für den Frevel, sich ihm überhaupt entgegengestellt zu haben und für die Schmach, ihm entkommen zu sein und ihn besiegt zu haben.
Und Jorik glaubte nicht, dass es ihm wirklich wichtig war, Marivar zu finden, um sie zu bestrafen. Auch glaubte er nicht, dass Narrix wirklich dachte, er könne Jorik dazu bewegen, ihren Namen preiszugeben. Deshalb rechnete er damit, hier und jetzt dafür büßen und sterben zu müssen. Er hatte furchtbare Angst, doch was immer auch geschehen mochte, er würde diesem geisteskranken Wichser niemals die Genugtuung geben, ihm diese Angst zu zeigen. Zumindest hoffte er, so stark sein zu können. „Ich weiß nichts von einem Verrat!“ sagte er daher, um sich von dem zunehmenden Zittern, das ihn befiel, abzulenken.
Ansatzlos verpasste ihm Narrix einen Faustschlag in den Magen. Jorik stöhnte auf und seine Beine knickten kurz ein, dann riss ihn der Kerl hinter ihm wieder in die Höhe. „Natürlich!“ Narrix hatte gewartet, bis Jorik ihn wieder ansah. „Sag mir, wer sie ist!“ Das war keine Bitte.
Jorik atmete einmal tief durch, dann erwiderte er den Blick seines Widersachers geradeheraus. „Niemals!“ Er musste stark bleiben.
Jorik erwartete einen neuerlichen Schlag, doch Narrix sah ihn nur durchdringend an, dann begann er zu lächeln. Für ganze zwei Sekunden, dann schlug er doch wieder zu. Ansatzlos, knallhart und dreimal hintereinander, wieder in den Bauch, immer auf dieselbe Stelle.
Jorik spürte Hitze in sich aufkommen. Der Blick vor seinen Augen verschwamm, ihm wurde schlagartig übel, er musste husten und würgen. Seine Beine gaben wieder nach, gleichzeitig kippte sein Oberkörper nach vorn. Der Kerl hinter ihm konnte das nicht verhindern. Jorik krachte auf die Knie und erbrach widerlichen Schleim. So war er abgelenkt und konnte nicht sehen, dass Narrix sich zu den Wachen an der Eingangstür umdrehte und ihnen zunickte, woraufhin eine von ihnen die Tür öffnete und zwei weitere Personen einließ. Die eine war noch ein Soldat, die andere war…Esha!
Wie auch Jorik war sie noch immer gefesselt. Während sie von dem Kerl hinter ihr rüde in das Zimmer gestoßen wurde, warf der seinem Captain das Seil, das sich um ihren Hals befunden hatte, zu, der es locker auffing.
„Ich habe wirklich kein Verständnis dafür, dass du deine kleine Lady schützen willst!“ begann Narrix wieder in einem fast freundlichen Ton und schaute Jorik an, der Mühe hatte, wieder zu sich zu kommen. „Soll ich glauben, dass das Liebe ist oder dass sie es wert ist?“ Er verzog die Mundwinkel. „Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich selbst habe noch nie eine Frau getroffen, die es wert war, für sie Schmerzen zu ertragen. Zum Ficken waren sie gut, aber sonst?“ Er lachte heiser auf. „Aber okay! Es ist deine Entscheidung!!“ Er trat direkt vor Jorik und zerrte ihn auf die Füße. „Und ich sehe es in deinen Augen. Du bist ein harter Bursche. Aus dir werde ich nichts herausbekommen!“ Wieder lächelte er süffisant. „Vielleicht aber, wenn nicht du für deinen Egoismus bestraft wirst, sondern deine Freundin hier!“ Er drehte sich herum und deutete auf Esha, die Narrix hasserfüllt anstarrte.
„Das können sie vergessen!“ zischte sie, doch konnte sie ihre Angst nicht komplett verbergen.
„Wir werden sehen, nicht wahr?“ Er trat vor Esha, nahm das lose Ende des Stricks, ließ es locker im Handgelenk baumeln, schaute dann zur Decke und warf es mit einem geschickten Schwung um eine natürliche Strebe aus Fels, die dort knapp unterhalb der Decke waagerecht verlief. Das Seil fiel auf der anderen Seite wieder herunter und Narrix fing es auf.
Jorik hatte ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen und plötzlich hatte er eine böse Vorahnung. „Was haben sie vor?“ fragte er und seine Stimme klang rau.
„Wenn du redest…!“ Er warf das lose Ende dem Mann hinter Esha zu, ließ die Schlinge am anderen Ende in seinen Fingern kreisen und schaute Jorik an. „…absolut gar nichts! Wenn du aber weiterhin auf stur stellst…!“ Er wirbelte herum und ließ die Schlinge über Eshas Kopf fallen. „…wird sie leiden müssen!“ Und mit diesen Worten nickte er dem Mann mit dem losen Ende zu, der daraufhin zu ziehen begann. Im nächsten Moment schrien Esha und Jorik gleichzeitig auf.
*
Lobos hatte die Gruppe vom Haupthangar weg zu einem breiten Treppenhaus geführt, durch das sie mittlerweile fünf Stockwerke höher gekommen waren.
Bisher bestanden die Wände aus Stahl, der mit dicken Streben durchzogen war und die Etagen, an denen sie vorbeigingen, anfangs aus langen schmalen Gängen, die wie Stahlröhren aussahen, dann aus Gängen, von denen unzählige Türen abgingen und daher wie Bürotrakte wirkten.
Jetzt aber änderte sich das Bild und die Stahlwände in den Treppenaufgängen wurden mehr und mehr durch dicke, immer größer werdende Glasscheiben ersetzt.
Dahinter war zunächst nur Dunkelheit zu erkennen, die aber zunehmend heller wurde und sich zu bewegen schien. Weitere drei Stockwerke höher durchstießen erste Lichtstrahlen die mittlerweile eher graue Masse hinter dem Glas und allmählich erkannte jeder, dass es sich hierbei um Wasser handelte, dass mit hoher Geschwindigkeit rechts und links am Treppenhaus vorbeischoss und für etliche Verwirbelungen sorgte. Je mehr Licht hineinfiel, desto mehr und besser waren auch Schwebstoffe zu erkennen, sowie kleine und größere Äste und aufgewirbelte Steine, die vorbeitrieben. Dann endete ihr Aufstieg unvermittelt und Lobos führte sie in einen großen, fast kreisrunden Raum, den Mavis, Vilo und die anderen militärisch versierten Männer sofort als die Kommandobrücke der Kamarulu erkannten. Wenn der Haupthangar das Herz des Schiffes war, dann war die Kommandobrücke das Gehirn gewesen. Überall gab es Kontrollkonsolen und Terminals, dazu drei riesige Bildschirme von mehreren zehn Quadratmetern Fläche. Einer von ihnen war jedoch komplett zerstört, ein zweiter wies lange Risse auf. Den gesamten Raum umgab ab etwa einemmeterfünfzig Raumhöhe eine Glasfront. Deutlich war zu erkennen, wie das Wasser auf der einen Seite auftraf, dann rechts und links an der Brücke vorbeifloss und sich schließlich auf der anderen Seite wieder entfernte.
Als Mavis direkt an die Scheiben trat, wo das Wasser auftraf, konnte er förmlich spüren, wie es unter dem immensen Druck leicht vibrierte. Gleichzeitig flutete so viel Licht in das Wasser, dass er etliche Meter in die Tiefe sehen und dort einen gewaltigen dunklen Schatten erkennen konnte. Er nahm an, dass es das Flugdeck der Kamarulu war. Um sicher zu gehen, drehte er sich um, ging zur anderen Seite und schaute dort aus dem Fenster. Hier gab es zwar nicht mehr Licht, dafür aber war das Wasser ruhiger und so konnte er besser in die Tiefe sehen und erkennen, dass er Recht hatte. Etwa fünfzehn Meter unter ihnen lag das Flugdeck. Er hatte damit gerechnet, keine Flugzeuge mehr darauf zu sehen, da das Wasser offensichtlich genug Kraft besaß, um das Deck vollkommen leer zu spülen, doch musste er feststellen, dass er sich getäuscht hatte. Neben etlichen Einschusslöchern, durch die das Wasser in das Innere des Schiffes stürzte, gab es dort tatsächlich auch das Wrack eines größeren Transportflugzeuges. Es war zur Hälfte in das Deck eingebrochen und musste sich dann verkantet haben, sodass es nicht wegrutschen konnte. Es ragte mit gebrochenen Flügeln in die Höhe und bot einen absolut gespenstischen Anblick, der dadurch noch grausamer wurde, dass Mavis einen undefinierbaren, dunklen Haufen Masse auf dem Pilotensitz erkennen konnte, der vielleicht einstmals ein Mensch gewesen war. Er fröstelte und er drehte sich weg. Dabei stellte er fest, dass Melia direkt neben ihm stand und ebenfalls hinabschaute. Plötzlich sog sie abrupt und hörbar die Luft ein und umfasste seinen linken Oberarm. Er wusste, sie hatte ebenfalls in die Kanzel des Wracks geschaut. Mavis suchte ihren Blick und legte seine rechte Hand auf ihre Hand. Melia sah ihn überrascht an und als er sie anlächelte, erschrak sie ein wenig und nahm ihre Hand weg. Bevor Mavis jedoch etwas sagen konnte, sprach Vilo.
„Das ist das verdammt Bekloppteste, das ich je gesehen habe!“ Er schüttelte mit verzogenen Mundwinkeln den Kopf. „Dieses riesige Schiff mitten in diesem Wasserfall…!“ Er lachte heiser auf und schüttelte erneut den Kopf. „Unfassbar!“
„Ja!“ Lobos nickte zustimmend. „Aber unsere Tage sind gezählt!“
„Was?“ fragte Cosco. „Wieso?“
Lobos antwortete nicht sofort, sondern trat an eines der Fenster, streckte seine rechte Hand in die Höhe und deutete mit dem Zeigefinger in den obersten Bereich, wo Fenster und Rahmen aufeinandertrafen.
„Die Dichtungen werden porös!“ meinte Tibak sofort und nickte.
Doch Lobos schüttelte den Kopf. „Nein, die sind noch intakt!“
„Was meinen sie dann?“ fragte Dek.
„Das Wasser!“ erwiderte Kaleena und als Vilo sie irritiert ansah, fügte sie hinzu. „Also, den Wasserstand!“
Lobos nickte. „Stimmt!“
„Was soll das heißen?“ fragte Mavis.
Der Admiral atmete einmal tief durch, bevor er erklärte. „Als die Triebwerke den oberen Wasserfall sprengten, rissen die Explosionen Unmengen an Erde und Gestein auf, die das Wasser weiter transportierte und die Kamarulu dadurch so gut wie darunter begraben wurde. Im Laufe der Jahre hat das Wasser all das wieder weggeschwemmt. Dennoch war es anfangs so, dass der Fluss genügend Wasser mit sich führte, dass er das Schiff weiterhin im Verborgenen hielt. Seit ein paar Monaten aber sinkt der Wasserspiegel!“ Wieder hob er den rechten Arm an und deutete auf die gleiche Stelle wie zuvor. „Sehen sie!“
Und plötzlich erkannten es alle: Einen schmalen Streifen von vielleicht einem Zentimeter Breite, wo der freie Himmel über dem Fluss zu sehen war. Der Streifen war nicht beständig da, weil das Wasser immer wieder durch die vorherrschenden Strömungen aufgewühlt wurde, aber wenn er da war, konnte man die dicken, dunklen Wolkenpakete über dem Bergmassiv erkennen.
„Wenn man von oben hier heruntersieht…!“ Lobos deutete in die Richtung, wo die Kitaja zerstört worden war. „...sah man bisher nur das aufschäumende Wasser. Jetzt aber kann man einen dunkeln Fleck an dieser Stelle darin erkennen!“
„Das Dach der Kommandobrücke!“ Cosco nickte erkennend.
Lobos tat es ihm gleich. „Und der Vorgang hält an und beschleunigt sich!“
„Wie lange noch?“ fragte Vilo.
Der Admiral sah ihn mit ernster Miene an. „Zwei, vielleicht drei Monate! Und wenn man uns erst entdeckt hat…!“ Lobos schaute unheilvoll in die Runde.
„…wird man sicher nachholen, was man damals versäumt hat!“ fügte Mavis mit einem Nicken hinzu und es wurde still auf der Brücke.
*
Esha spürte, wie sich der Strick um ihren Hals schnürte, als ihr Körper vom Boden abhob und ihr gesamtes Gewicht jetzt wie tonnenschwer darauf lastete, dass sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde gleich vom Rumpf gerissen werden. Ihre Hände zuckten mehrmals, erzitterten bei dem Versuch, sich an den Hals zu greifen, um den Druck von dort zu nehmen, doch sie konnte ihre Fesseln natürlich nicht lösen. Auch verursachte jede Bewegung zusätzliche Schmerzen, sodass sie bemüht war, ruhig zu hängen. Da sie geahnt hatte, was passieren würde, hatte sie versucht noch einmal tief Luft zu holen, doch das war ihr nur halbwegs gut gelungen. Der Druck auf ihren Kehlkopf wurde zunehmend schlimmer und schmerzhafter, wie in einem Schraubstock wurde er erbarmungslos zusammengedrückt, schon konnte sie hören, wie er zu zerquetschen drohte. Sie musste röcheln, alle Kraft wich aus ihrem Körper.
„Nein!“ Das war Jorik, der sich mit aller Macht gegen die Wache in seinem Rücken stemmte. Die Verzweiflung verschaffte ihm neue Kräfte, es gelang ihm, auf Esha und Narrix zuzugehen. „Hören sie auf!“
Narrix würdigte ihn keines Blickes, hatte ihm weiterhin den Rücken zugedreht. Dafür starrte er absolut fasziniert auf Esha und ihren immer deutlicher zuckenden Körper und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Warum?“ fragte er aber dennoch, während es in seinen Augen gierig blitzte.
„Ich sage es!“ brüllte Jorik, verzweifelt, mit Tränen in den Augen, während der Kerl in seinem Rücken wild an ihm riss und ihn schließlich zu Boden ziehen konnte.
Narrix Lächeln wurde zu einem Grinsen, während er weiterhin Esha anstarrte. Dann zuckten seine Augen kurz hinter sie und er nickte dem Wachmann, der das Seil angezogen hatte, mit einer knappen Geste zu, woraufhin er Esha wieder auf ihre Füße herabsenkte. Die junge Frau hustete, ihr Gesicht war mittlerweile rot angelaufen, sie spürte Hitze dort, ihr Schädel pochte, Schweiß rann über ihre Stirn. Außerdem wurden ihre Beine plötzlich wackelig und sie hatte Mühe, sich aufrecht zu halten.