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Dieser lauschte ebenfalls, schüttelte dann den Kopf. »Die beiden hecken irgendetwas aus. Bestimmt nichts Gutes.«
»Das glaube ich auch«, stimmte er ihm zu.
Sie brauchten einen Plan.
Falk dachte nach.
Raus. Er musste unbedingt hier raus.
Die Frage war nur wie. Die Tür bekamen sie auf keinen Fall auf, dafür war sie zu stabil.
Doch vielleicht gab es einen anderen Weg …
Er sah sich um.
Ihm kam eine Idee.
Er griff nach seinem Dolch und ging zu einem der großen Stützbalken.
»He! Was hast du vor?« Bingo sah ihn fragend an.
Falk war bereits dabei, den Balken hochzuklettern. Das Holz war rau unter seinen kräftigen Händen. Er hoffte, dass der Balken nicht morsch war und ihn hielt.
»Ich möchte zu gern wissen, was die miteinander besprechen«, antwortete er.
Mithilfe seines Dolches verschaffte er sich Zugang zum Dach. »So … gleich …« Dann war es geschafft.
Kalter Regen peitschte ihm unangenehm ins Gesicht. Wie gerne hätte er jetzt an einem warmen Feuer gesessen!
Lautlos huschte Falk über das Dach. Er musste vorsichtig sein, um nicht auszurutschen und runterzufallen. Ein falscher Schritt, und er würde stürzen und sich dabei wahrscheinlich das Genick brechen.
Am Ende kletterte er an einem Stützbalken wieder herunter und schlich rüber zum Haus.
Die Dunkelheit der Nacht und der Regen boten ihm Schutz.
Hinter einem Mauervorsprung versteckt, lauschte er dem Gespräch der beiden Männer.
»Das hast du gut gemacht, Pietro«, sagte der Kerl, der vor wenigen Augenblicken gekommen war.
Pietro! Jetzt wusste Falk zumindest den Namen des Burschen, der sie eingesperrt hatte und vorgab, ein Bauer zu sein. Falk hegte da immer noch große Zweifel.
»Ich binde den beiden nachher einen Bären auf. Ich erzähle ihnen, dass ich ein heimliches Stelldichein mit einer hochgestellten Dame hatte, die nicht erkannt werden wollte.«
So, so, dachte Falk.
»Dummkopf!«, fuhr der Fremde Pietro an. »Eine Dame mit einer männlichen Stimme? Sie haben mich gehört.«
»Da hast du verdammt recht«, flüsterte Falk tonlos.
»He, he, das war die Stimme eines der Dame treu ergebenen Begleiters«, versuchte Pietro ihn zu besänftigen.
Falk schüttelte den Kopf. Für wie dumm hielt der Kerl sie eigentlich?
*
Bingo ging ungeduldig auf und ab. Er hasste es zu warten.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Angestrengt keuchend kämpfte er sich den Balken nach oben, Falks Beispiel folgend, und quetschte sich durch die Öffnung. Schließlich hatte Falk nicht gesagt, er solle da bleiben und auf ihn warten.
»Teufel, ist das eng«, murmelte er.
Bingo zwängte sich unterdrückt stöhnend und fluchend durch. Dann huschte auch er über das Dach. Genau wie Falk kletterte er an dem Stützbalken hinunter, der jedoch unter seinem Gewicht nachgab. Knirschend löste er sich von dem Dachbalken, dann neigte er sich.
Verzweifelt klammerte sich Bingo daran fest. »Bei allen … oh!«
In seinem Geist sah er sich bereits unter den Trümmern begraben.
So würde er also sterben? Wie unrühmlich für einen Ritter!
Himmel, dachte Falk, der das Ganze aus nächster Nähe nur hilflos mit ansehen konnte. Das durfte doch nicht wahr sein! Wieso war Bingo ihm gefolgt und nicht geblieben, wo er war?
Mit Entsetzen sah Falk, dass der Balken brach.
Es knirschte, staubte, Splitter lösten sich, dann krachte es laut.
»Hilfe!« Bingo fiel auf den Rücken und keuchte schmerzerfüllt; sein Gesicht war verzerrt.
»Oh!«, stieß der Mann mit dem Kinnbart hervor, während er versuchte, der gewaltigen Masse, die Bingo darstellte, auszuweichen. Anscheinend hatte er Angst, von ihm zerquetscht zu werden.
Sein Kumpan sprang auf. »Ich bin in einen Hinterhalt geraten!«, stieß er überrascht und vorwurfsvoll zugleich aus.
Erst jetzt konnte Falk einen Blick auf ihn werfen. Er trug Handschuhe und eine Kapuze über dem Kopf. Offenbar war ihm sehr daran gelegen, dass niemand ihn wiedererkennen konnte.
»N… Nein, Herr! Das ist … einer der beiden Fremden, die ich eingesperrt hatte«, erwiderte Pietro.
Herr, dachte Falk. Die zwei schienen also nicht auf gleicher Augenhöhe zu sein.
Doch erst einmal galt seine Sorge seinem Freund und Gefährten. »Bingo! Bingo! Bist du verletzt?«
»Bei allen … das ist der andere«, murmelte Pietro.
»Wenn du schon jemanden einsperrst … du Trottel!«
Sie stellten sich Falk in den Weg. »Zieh blank, Pietro, wir erledigen den blonden Jüngling! Der Fettwanst hat sich beim Sturz das Genick gebrochen!«, sagte der Kapuzenträger.
Bingo – tot? Das konnte nicht sein. Das wollte Falk einfach nicht glauben.
Und dennoch – irgendwas schien sein Herz zu umklammern. Allein der Gedanke daran, seinen Freund so zu verlieren, war unerträglich.
Wie es Bingo ging, konnte er nicht sehen, denn die zwei versperrten ihm die Sicht.
*
Der Sturz hatte sämtliche Luft aus Bingos Lungen getrieben. Für einen Moment war ihm schwarz vor den Augen geworden. Er hatte kurz das Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich kam, bestand sein Körper aus einem einzigen Schmerz. Aber er erinnerte sich sofort wieder daran, was passiert war. Er sah die beiden Männer, wie sie vor Falk standen; hörte, was sie sagten.
Fettwanst? Hatte ihn da tatsächlich jemand Fettwanst genannt?
Was für eine Unverschämtheit!
Er rappelte sich auf und stürzte sich auf die beiden. »Jemand hat Fettwanst zu mir gesagt, und bei so was seh‘ ich rot!«, schrie er. Er rammte dem Kerl, der sie eingesperrt hatte, den Kopf in den Bauch.
Der Bursche stöhnte und ließ seine Waffe, die er schon gezogen hatte, fallen.
Falk war überrascht und erleichtert zugleich, Bingo wohlauf zu sehen. Dann musste er auch schon den Angriff des Kapuzenmannes abwehren. Ein heftiger Kampf entbrannte, in dessen Verlauf es Falk gelang, seinem Gegner die Waffe aus der Hand zu schlagen.
Bingo währenddessen war mit Pietro beschäftigt. Er hatte den Burschen am Bein gepackt und schleuderte ihn durch die Luft.
»Hilfe! Lasst mich los!«
Bingo lachte. »Zu Befehl!« Als er ihn losließ, flog der Mann über die Mauer und landete unsanft auf der anderen Seite auf der Erde.
Das wollte Falks Gegner ausnutzen und verschwinden. Aber Falk packte seinen Umhang. »Nicht so hastig, Freundchen!«

Doch diesmal hatte Falk Pech.
Die Schnalle des Umhangs löste sich, sodass Falk mit diesem zu Boden fiel, während der Kerl fliehen konnte. »Meinen Mantel könnt Ihr behalten!«, lachte er abschätzig und rannte zu seinem Pferd. Mit einem gekonnten Sprung war der Maskierte im Sattel und galoppierte davon.
»He!«, konnte Falk ihm nur noch hinterherrufen.
Für einen Moment überlegte Falk, sich Donner zu schnappen und ihm zu folgen. Doch der Abstand vergrößerte sich von Sekunde zu Sekunde – nein, dafür war es bereits zu spät, der Vorsprung, den der andere hatte, war zu groß. Er war entkommen.
»Schade«, meinte Falk zu Bingo, der inzwischen an seine Seite getreten war. »Ich hätte zu gern gewusst, was dieses geheimnisvolle Treffen zu bedeuten hat.«
»Fragen wir doch seinen Kumpanen«, schlug der Gaukler vor.
Falk nickte. »Gute Idee, mein Freund.«
Sie wandten sich um, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Doch der Platz, wo Pietro eben noch gewesen war, war leer.
»Oh!«, stieß Bingo hervor. »Er ist verschwunden!«
Ja, das sah Falk auch.
»Da!« Bingo streckte die Hand aus. »Das Scheunentor ist offen.«
Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. »Der Kerl holt sein Pferd. Schnell!«
Doch auch diesmal war ihnen kein Glück beschieden. In einem halsbrecherischen Tempo jagte der Kerl an ihnen vorbei, hinaus in die Nacht.
»Wieder zu spät!«, fluchte Falk.
»Hm. Nun werden wir wohl nie erfahren, warum die beiden Männer sich hier heimlich getroffen haben.«
Das fürchtete Falk auch. Aber es war nicht mehr zu ändern.
Bingo seufzte theatralisch und setzte eine betroffene Miene auf. »Wenn dieser Balken nicht nachgegeben hätte …«
»Tja, sie wollten gerade etwas sagen, als du in Erscheinung tratest.«
»Es tut mir leid, Falk!« So, wie er dreinsah, tat es das wirklich. »Ich wollte bei dir bleiben …«
»Schon gut. Es ist ja auch gar nicht so wichtig.« Schließlich war ihnen nichts passiert. »Geht es dir wirklich gut?«
»Ja. Nur mein Stolz ist ein wenig verletzt.«
»Das wird wieder. Lass uns in die Scheune zurückgehen und weiterschlafen. Die Sonne wird bald aufgehen, und dann wird auch hoffentlich der Regen nachgelassen haben.«
»Ja. Du hast recht. Oh … da liegt etwas!« Er kniete sich hin und hob den Gegenstand auf. »Ein kleines Buch.«
Auf dem Deckel befand sich eine Blume mit einer roten Blüte. Wunderhübsch und filigran gearbeitet. Das Werk eines Meisters.
»Es muss dem Burschen aus der Tasche gefallen sein, dem ich das Fliegen beigebracht habe«, vermutete Bingo.
»Ja. Lass uns schauen, was drinsteht. Vielleicht bringt das ein wenig Licht ins Dunkle.«
In der Scheune setzten sie sich auf den Boden und lehnten sich an die Wand. Neugierig schlug Bingo das kleine Büchlein auf. Die Schrift war klein und im Schein der Lampe kaum zu entziffern.
Vielleicht war es ein Notizbuch, das die Rezepte eines Alchemisten enthielt. Oder das Tagebuch eines Minnesängers, der seine amourösen Abenteuer mit den hohen Damen der Höfe aufgeschrieben hatte.
»Und?« Auch Falk konnte kaum erwarten zu erfahren, wer da was geschrieben hatte.
Bingo schien ein wenig enttäuscht zu sein. »Es stehen Gedichte in dem Büchlein, Falk.«
Falk lachte. Das meinte er doch nicht etwa ernst, oder? »Sieh an. Ich hätte dem Kerl keine poetische Ader zugetraut.«
»Ich auch nicht. Das Büchlein scheint ihm nicht zu gehören, oder er hat es geschenkt bekommen.«
Falk krauste die Stirn. »Wie kommst du darauf?«
»Auf dem Vorsatzpapier steht ein Name. Ein weiblicher Name. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass keiner der beiden von heute eine Frau war.«
»Hm.«
»Lucia di Fiume. Hm … Fiume, Fiume … Der Name kommt mir bekannt vor«, sinnierte er. »Dir auch?«
Falk dachte nach. Schüttelte dann den Kopf. »Nein.«
»Ah, jetzt habe ich es. Pippo di Fiume ist ein berühmter Heerführer. Er hat sich große Verdienste an der Seite des Grafen Colleverde während des letzten Kreuzzuges erworben.«
»Dann ist die Besitzerin des Büchleins seine Frau?« Es wäre eine logische Schlussfolgerung gewesen. Falk hatte sich wieder hingelegt. Er wollte noch ein paar Stunden schlafen, ehe sie wieder aufbrachen.
Bingo schien es ihm nicht gleichtun zu wollen. Vielmehr wollte er offenbar hinter das Geheimnis des heute Erlebten kommen.
»Ich weiß nicht, Falk. Mehr, als ich dir gesagt habe, ist mir über Pippo di Fiume nicht bekannt. Wenn wir Graf Colleverde einen Besuch abstatten, geben wir ihm das Büchlein.«
Gähnend stimmte Falk ihm zu. »Gut. Er kann es ja dann Pippo di Fiume zukommen lassen.« Die Augen fielen ihm zu.
Bingo seufzte. »Ich glaube nicht, dass wir noch einmal gestört werden, aber es ist besser, wir wachen abwechselnd. Ich übernehme die erste Wache.«
»Hm.« Damit war Falk mehr als einverstanden. Der Schlaf übermannte ihn.
Bingo lächelte. Gönnte seinem Freund die Ruhe und las noch ein wenig weiter.
*
Der Mann mit der Kapuze hatte auf seinen Kumpanen gewartet. Ungeduldig winkte er ihn heran. Ohne seinen Mantel fror er erbärmlich in dem Regen.
»Da bist du ja, Pietro! Ich war schon in Sorge, die beiden Fremden hätten dich erwischt.«
»Viel hätte nicht gefehlt, Herr!«
Sein Gegenüber nickte. »Doch nun zum Grund unserer Verabredung. Bist du sicher, dass du das Richtige gefunden hast?« In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Zweifel, Aufregung und Ungeduld.
»Ganz sicher. Auf Eurem Zahlenschlüssel steht inmitten von Rosen und Dornen wirst du es finden.«
»Hm.«
»Es handelt sich dabei um ein schmales Gedichtbändchen, das Rosen und Dornen heißt. Mithilfe des Zahlenschlüssels werden bestimmte Wörter zu finden sein, die aneinandergereiht einen neuen Sinn ergeben.«
Sein Herr war beeindruckt. »Donnerwetter! Als ich die Habseligkeiten des gefallenen Pippo durchsah, die auf Burg Colleverde gebracht worden waren, fiel mir der Zahlenschlüssel sofort auf. Nur konnte ich mir nicht erklären, worauf er passen würde.«
»Es war eine gute Idee von Euch, Herr, mich als Diener bei den Fiumes zu empfehlen!« Er lachte über die Dummheit und Naivität seiner Dienstherren. »Wenn ich denke, dass Fräulein Lucia und ihr vertrottelter Großvater in fast ärmlichen Verhältnissen leben, während sie reich sein könnten.«
Ja, sie ahnten tatsächlich nichts davon. Was für eine Ironie des Schicksals.
»Dabei werden wir jetzt reich. Hier habt Ihr das Büchlein!« Er lachte wieder. Seit Tagen schon träumte er von nichts anderem, als von den Mengen an Geld, in denen er bald schwimmen würde. Und was er sich dafür alles kaufen wollte! Edle Kleider …
»Du wirst einer der wenigen sein, die sich wirklich totgelacht haben! Da!«
Pietro sah die verräterische Bewegung seines Auftraggebers nicht. Zu sehr war er mit seinen Gedanken woanders. Stattdessen spürte er plötzlich einen scharfen Schmerz. Er war so heftig, dass er mit einem Aufschrei vom Pferd fiel und bewegungslos auf der nassen Erde liegen blieb. Nur noch verschwommen sah er den anderen, das blutige Schwert in seiner Hand.
»Dummkopf!«, stieß der abschätzig hervor. »Dachtest du wirklich, dass ich mit dir teilen wollte?« Seine Stimme troff nur vor Spott.
Es war das Letzte, was Pietro in seinem Leben hörte.
Einen Atemzug später war er tot.
Der Kapuzenmann stieg ab, nachdem er sein Schwert wieder zurück in die Scheide hatte gleiten lassen.
Außerdem kann ich bei diesem gefährlichen Geschäft keine Mitwisser brauchen, dachte er.
Er kniete sich neben den Toten, tunlichst darauf bedacht, nicht mit dessen Blut in Berührung zu kommen.
So. Nun das Büchlein, das mich reichen machen wird!
Der Vermummte tastete Pietro ab. Wieder und wieder, begierig darauf, besagtes Objekt endlich in den Händen zu halten. Aber …
Hölle, Tod und Teufel!, fluchte er stumm, aber umso heftiger. Er hat das Buch nicht! Ob er mir misstraut hat? Nein, er wollte es mir geben. Er fasste unter den Wams des Toten. Aber da ist es nicht!
Noch einmal suchte er ihn ab. Vergebens.
Verdammt! Es muss ihm aus dem Wams gerutscht sein, als der Fettwanst ihn über die Mauer gewirbelt hat!
Er dachte nach.
Hm, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder haben es die Fremden gefunden und an sich genommen, oder es liegt noch zwischen den Ruinen.
Sein Blick wanderte wieder zu Pietro. Kurzentschlossen packte er dessen Beine und zog ihn zu seinem Pferd.
Ich darf kein Risiko eingehen!
Er wuchtete den leblosen Körper hoch und legte ihn über den Sattel.
So und nun …
Auch er stieg wieder auf und griff nach den Zügeln des anderen Pferdes.
Ich kann gegen die beiden Fremden nichts ausrichten, aber … Wo Gewalt versagt, hilft List weiter. He, he, he!
Er machte sich auf. Vor dem Weg, der nach dem verfallenen Gehöft abzweigte, ließ er den Toten zu Boden gleiten, dann ritt er so schnell er konnte davon.
Nun wird es ein Wettrennen mit der Zeit, das ich gewinnen muss. Das ich gewinnen werde!
ZWEI
Am nächsten Morgen schlug Bingo die Augen auf, streckte und reckte sich. Dann erhob er sich, ging zur Tür, öffnete sie und sah hinaus. Über sein Gesicht glitt ein freudiges Lächeln.
»Gott sei Dank! Die Sonne scheint wieder, Falk! Wach auf, du Langschläfer!«, rief er seinem Freund über die Schulter zu.
Falk lag noch auf dem Boden, die Decke bis zum Kinn gegen die nächtliche Kälte hochgezogen. Er hatte nicht wirklich gut geschlafen. Gähnend richtete er sich auf. »Ich … guten Morgen, Bingo!« Mit den Händen fuhr er sich durch das lange, blonde Haar.
Bingo kam zu ihm. Grinste. »Soll ich dir diesen Eimer Wasser über den Kopf schütten, damit du munter wirst?«
Falk wusste, dass Bingo es durchaus ernst meinte. Aber er war nicht besonders erpicht darauf. »Ich ziehe mich erst zum Waschen aus, dann meinetwegen.«
Bingo lachte.
Doch ehe er etwas erwidern konnte, hob Falk die Hand.
»Was ist?«
Falk deutete nach draußen. »Sieh, da drüben auf der Wiese! Ein Pferd!«
Jetzt bemerkte Bingo es auch. Warum war es ihm vorhin noch nicht aufgefallen? Seltsam.
Das Tier graste friedlich im Morgengrauen.
»Oh! Und da auf dem Weg, das sieht ja aus, als ob …«
Falk nickte. Auch er sah die reglose Gestalt und ahnte Schlimmes.
»Junge, Junge«, murmelte Bingo. Solche Überraschungen am frühen Morgen mochte er gar nicht.
Falk rannte los. Vielleicht lebte der Mann noch.
Bingo folgte ihm auf dem Fuße.
Bei ihm angekommen, knieten sich beide nieder. Falk streckte die Hand aus. Der Körper war kalt, der Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr. Er lauschte. Nein, da war kein Atemgeräusch zu hören.
»Bei allen …« Bingo war entsetzt. »Das ist der Bursche, der uns letzte Nacht in der Scheune eingesperrt hat. Sollte ich ihn zu hart angefasst haben?«
Falk hörte das Zittern in der Stimme seines Freundes. »Nein.« Er legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. »Der Mann ist tot, Bingo, aber du bist nicht schuld daran. Sieh!« Er deutete auf das Loch im Wams. »Jemand hat ihn mit einem Schwert niedergestochen.«
»Großer Himmel!« Bingo war erleichtert und entsetzt zugleich.
»Ist das das ruhige Land, von dem du geschwärmt hast, Bingo?« Ganz konnte Falk den Vorwurf aus seiner Stimme nicht verbannen. »Erst das heimliche nächtliche Treffen, das auf eine Verschwörung schließen lässt, dann Freiheitsberaubung und nun … Mord!« Falk war ganz und gar nicht wohl bei der Sache.
»Ich verstehe das nicht. Was sollen wir jetzt tun?«
Das war eine gute Frage.
Falk überlegte. Sie konnten den Toten allein aus Pietätsgründen schon nicht hier einfach liegen lassen. Schließlich waren sie Männer von Ehre.
»Wir bringen ihn in die Stadt oder auf Graf Colleverdes Burg«, schlug er schließlich vor.
»Besser zur Stadtwache«, erwiderte der Gaukler.
»Gut, wenn du meinst.« Er hob den Leichnam an. »Hilf mir, wir binden ihn auf sein Pferd und …«
Sie sahen die Ankommenden fast gleichzeitig. Ein Dutzend Männer. Mit Helmen und Piken auf Pferden, deren Hufschläge donnerten.
»Bewaffnete!«
»Hm.«
Das würde Ärger geben, vermutete Falk. Und er sollte recht behalten.
Ihr Anführer preschte auf sie zu, zügelte dann grob seinen Rappen. »Halt!«, befahl er lautstark. »Im Namen des Grafen Colleverde, was macht ihr da? Wer seid ihr?« Finster dreinblickend musterte er sie. Ehe Falk etwas antworten konnte, keuchte der Mann neben dem Anführer erschrocken auf und streckte die Hand anklagend aus. »Herr! Der Tote … Es ist tatsächlich ein Diener der Familie di Fiume!«
Falk traute seinen Ohren nicht. Was sollte der Mann sein?
Fragend sah er zu Bingo, der allerdings noch nicht seine Sprache wiedergefunden hatte.
Dafür ergriff der Anführer mit dem roten Umhang und dem Hut mit der Feder wieder das Wort. »Gut, dass ich den Hinweis ernst genommen habe. Nehmt die beiden fest!«
Das wollte sich Bingo natürlich nicht gefallen lassen, waren sie beide doch unschuldig. »Bei allen … wir haben nichts mit diesem Toten zu tun!«, erwiderte er.
Doch so einfach war die Sache für den Anführer der Gruppe nicht erledigt. »Das wird sich herausstellen. Durchsucht sie, Männer! Seht auch in der Scheune nach!«
Sie packten Falk und Bingo, hielten sie gröber als nötig fest, während sie sie durchsuchten.
»Unerhört! Ich bin Ritter Falk von Steinfeld und dies ist mein Freund Ritter Bingo della Rocca!«
Falks Protest blieb jedoch ohne Wirkung.
Im Gegenteil. Einer der Männer lachte höhnisch. »Ritter? Ihr? Eher lausiges Gesindel!«
Und so konnten die beiden es nur über sich ergehen lassen und hoffen, dass sich alles zu ihren Gunsten klärte. Denn wieso auch nicht? Sie waren schließlich unschuldig, hatten nichts verbrochen; ja waren sogar selbst Opfer dieser beiden Fremden gewesen.
Natürlich fand man das Buch.
Interessiert blätterte der Anführer mit dem langen schwarzen Schnauzbart es durch. »Interessant. Ein Gedichtbändchen, das Lucia di Fiume gehört. Wie kommt es unter Euer Wams, wenn Ihr nichts mit dem Toten zu tun habt?« In seinen Augen funkelte es. Seine Männer fingen an zu munkeln.
Falk spürte, wie die Stimmung kippte. Die Situation wurde für sie eindeutig gefährlich.
»Die beiden haben viel Geld in ihren Satteltaschen, Herr!«, warf derjenige in die Runde, der ihr Hab und Gut unter die Lupe genommen hatte.
»Ha!« Auflachend stemmte der Anführer die Fäuste an die Hüften. »Damit ist Eure Schuld erwiesen. Dieser Unglückliche sollte zwanzig Pferde einkaufen. Ihr habt ihn überfallen, ermordet und ausgeplündert. Mit solchen Strauchdieben machen wir hier kurzen Prozess! Als Vogt des Grafen verurteile ich Euch hiermit zum Tode. Habt Ihr Einwände, Hauptmann?« Damit wandte er sich an den Mann, der neben ihm stand.
Dieser schüttelte vehement den Kopf. Es schien ihm gar nicht schnell genug mit der Hinrichtung zu gehen. »Nein, Vogt, die beiden Fremden sind schuldig. Holt Stricke, Männer! Und dann an den Baum dort mit ihnen!« Er deutete zu einer großen Eiche mit starken Ästen. Nahezu perfekt für eine schnelle Hinrichtung.
Falk war fassungslos. Man hatte ihnen nicht einmal die Gelegenheit gegeben, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Von einer fairen Verhandlung ganz zu schweigen.
»Wie? Ich habe wohl nicht richtig gehört!«, fuhr er den Kerl an.
»Seid Ihr wahnsinnig geworden, Vogt?« Auch Bingo hatte sich endlich aus seiner Schockstarre gelöst. »Wir sind Ritter!« So konnte man doch nicht mit ihnen umgehen!
Statt eine Antwort zu geben, wandte der Vogt Falk und Bingo voller Verachtung den Rücken zu. Mit so einem Pack wollte er anscheinend nichts weiter zu tun haben.
Entsetzt und hilflos zugleich beobachteten Falk und Bingo, wie die Männer die Stricke für ihre Exekution vorbereiteten.
So sollten sie also enden? Wie Verbrecher nebeneinander an einem Ast baumeln?
Das konnte und wollte keiner von ihnen glauben.
Es musste doch einen Ausweg geben!
»Ihr macht einen großen Fehler, Vogt!«, versuchte Bingo es erneut. »Wir sind wirklich Ritter!«
»Ritter?« Der Vogt wandte sich um und verzog spöttisch das Gesicht. »Da muss ich ja lachen! Ritter? Nein, wohl eher ein Fettwanst!« Er spuckte Bingo das Wort geradezu ins Gesicht.
Was Bingo sich natürlich nicht gefallen ließ. In seiner Ehre gekränkt, ging er auf den Vogt los, was für Falk verständlich war, aber ihre Situation nicht gerade verbesserte.
»Bei dem Wort Fettwanst sehe ich rot!« Wütend und außer sich packte er den Vogt an seinem Hemd.
Dieser war so überrascht von Bingos Attacke, dass er sich gegen diesen Angriff nicht wehrte. »Ah!«
»He!« Der Hauptmann sah die Gefahr, in der der Vogt schwebte und fürchtete um dessen Leben.
»Hilfe!« Reglos hing der Vogt in Bingos großen Händen.
»Beschützt den Vogt! Haltet die Mörder!«, schrie der Hauptmann.
Die Situation eskalierte. Die Männer zogen ihre Waffen, bereit, für ihren Vogt zu töten und zu sterben.
Natürlich blieb auch Falk nicht tatenlos. »Weg mit dem Dolch, Hauptmann!« Mit einem kräftigen Faustschlag in den Nacken brachte Falk den Kerl zu Fall. Stöhnend ging dieser zu Boden.