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Manchmal dachte er, dass seine Mutter tatsächlich Gedanken lesen konnte. Auf ihrem Gesicht lag in diesem Moment so etwas Friedliches, wie ein Schimmer von tiefer Freude, unterstützt vielleicht von dem zarten Rosa ihres Lippenstiftes. Sie sah auf die Zeitung, die vor ihm lag, und dann hoch zu ihm. Ihre Blicke trafen sich. Er wusste, sie hatte wahrgenommen, dass er den Artikel über das Narmada-Tal gelesen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen und nickte ihm zu. „Endlich“, sagte sie. „Endlich wirst du nach Indien reisen.“
Amy guckte fragend Matt an, der unsicher und wie ertappt sagte: „Der Gedanke kam mir tatsächlich gerade erst, heute Morgen, als ich diesen Artikel hier las.“
Amy las schnell die Überschrift und fragte leise: „Und wann? Wann wirst du dorthin reisen?“
Matt zögerte, als würde er auf eine innere Uhr hören, und meinte dann: „Im Frühjahr, wenn Tom mit der Schule fertig ist. Ich will, dass Tom diesmal mitkommt.“ Amy stand auf, ging zum Kaffeeautomat. Das Zermahlen der Bohnen dröhnte in der Stille wie ein feindlicher Hubschrauber im Anflug.
Mit einer Tasse frischem Espresso kam sie zurück an den Küchentisch und sah jetzt herausfordernd ihre Schwiegermutter an. „Und du? Was sagst du dazu? Wirst du deinen Sohn wieder mit deinem Segen ziehen lassen? Und wirst du auch erlauben, dass er diesmal sogar deinen Enkel mitnimmt? Dass er ihn mit hineinzieht in diesen Spleen, die Welt zu verbessern, der offensichtlich niemals enden will?“
Amy sah herausfordernd in die Runde am Tisch, sah die tiefen dunklen Augen ihrer Schwiegermutter, die unruhig suchenden Augen ihres Mannes. Dem irritierten Blick ihres Sohnes wich sie schnell aus, schüttelte den Kopf und setzte sich auf ihren Platz. In der rechten Hand hielt sie die kleine Kaffeetasse, mit der linken strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, steckte eine Strähne hinter das linke Ohr, zuckte die Schultern, griff wieder nach der Zeitung, begann zu lesen und atmete dann, wie um das Ganze abzuschließen, hörbar aus. Wieder einmal fragte sich Anne, wie ein Mensch so viel Verachtung in so ein kleines Geräusch wie ein Schnauben legen konnte. Eine Weile sagte niemand etwas. Angespannt warteten alle darauf, wie dieses Gespräch wohl weitergehen würde. Von Amy würde sicherlich nicht der nächste Impuls ausgehen, sie las betont interessiert den Artikel.
Anne blickte ruhig vom einen zum anderen, räusperte sich, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und sagte dann: „Ich bitte dich, Amy, lass ihn gehen.“ Und dann, an ihren Sohn gewandt: „Und dich bitte ich, in Indien einen Auftrag für mich zu erfüllen. Ich wünschte, ich könnte selbst reisen, aber ich bin zu alt. Deshalb musst du jemanden für mich finden und etwas für mich erledigen.“
Damit stand sie auf, nickte in die Runde, scheinbar ohne jemanden besonders zu meinen, und sagte in einem Ton, der kein Nachfragen und erst recht keine Diskussion erlaubte: „Ich habe noch eine Menge zu erledigen, bevor du abreist.“ Und damit verließ sie die Küche.
Sie ging und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen. Am Fuß der Treppe blieb sie kurz stehen, als müsse sie innerlich für sich klären, ob dieses Gespräch ihr Kraft gegeben oder ob es sie Kraft gekostet hatte. Sollte sie mit dieser überraschenden neuen Aussicht, dass ihr Sohn nach Indien reisen würde, die Treppe hinauflaufen wie ein junges Mädchen und zwei Stufen auf einmal nehmen wie früher, weil diese Wende, die sich mit diesem Morgen andeutete, sie beschwingte? Sie entschied sich, der anderen Stimmung zu folgen, und ging bedächtig Stufe für Stufe nach oben, das Tempo nicht nur angemessen für eine ältere Dame, sondern sie würdigte damit auch die Aufgabe, die vor ihr lag, und den teuren Gedanken, dies könne die letzte große Tat in ihrem Leben sein.
Oben angekommen merkte sie, wie ihr Herz klopfte, und der Takt schien sich mit Hämmern in ihrem Kopf, hinter ihren Schläfen, fortzusetzen. Eine Flut von Bildern und Worten, Erinnerungen, geflüsterten Versprechen, Geräuschen, Farben und Gerüchen wollten all ihre Aufmerksamkeit, wie die Kinder einer ihrer Schulklassen früher, die sie umringten, ihr etwas zuriefen, an ihrem Rock zupften, ihre Hand nahmen. Sie war zu alt für dieses Durcheinander im Kopf. Im Herz, dachte sie. Es ist das Herz, das noch einmal gefordert ist, wenn alte Geschichten, die begraben waren, neu zum Leben erweckt werden. Mit diesem Gedanken setzte sie sich in ihren großen alten Sessel am Fenster, legte die orangefarbene Wolldecke auf ihre Knie, nahm ihr Tagebuch zur Hand und begann zu schreiben.
In der Küche war Tom der Erste, der die Stille unterbrach, allerdings nur mit einem fragenden Wort, das dann allein im Raum stand: „Indien?“ In seiner Stimme lag dabei etwas Ungläubiges, ein Staunen. Und jetzt schien es, als würden sie alle drei vorsichtig um dieses eine Wort schleichen, würden sich anpirschen, um sich sehr behutsam zu nähern.
„Indien“, wiederholte Tom nach einer Weile schließlich, aber bevor er noch sagen konnte, was dieses Wort in ihm auslöste, unterbrach seine Mutter ihn schon und meinte: „Seid ihr jetzt alle verrückt? Indien liegt am anderen Ende der Welt. Was haben wir mit diesem Land zu tun? Aber das hat dich ja noch nie gehindert, hier alles im Stich zu lassen. Gibt es in unserem eigenen Land nicht genug zu tun? Was ist so schlimm an Amerika, dass du ihm ständig den Rücken kehren musst? Brasilien, Israel, Südafrika - du bist fast fünfzig und immer noch auf der Reise? Findest du das nicht lächerlich? Was suchst du eigentlich? Was ist so toll daran, weit weg zu reisen? Langweile ich dich? Ist es das?“
Amys Stimme war immer schriller geworden und als Matt beruhigend sagte: „Amy, Schatz, jetzt mach doch nicht gleich wieder etwas Persönliches daraus“, fing sie an zu weinen und meinte unter Tränen und mit kalter leiser Stimme: „Wie soll ich das nicht persönlich nehmen, wenn immer alles reizvoller ist als das Leben an meiner Seite?“
Anne saß oben in ihrem Sessel. Obwohl sie keines der Worte hörte, die unten in der Küche ihrer Kinder gewechselt wurden, ahnte sie, wie sich das Gespräch entwickelte. Amy würde Matt anfahren, mit lauten und scharfen Worten, ihm Vorwürfe machen, ihn zum zigsten Mal einen Weltverbesserer nennen und sich dann zurückziehen, verletzt und unerreichbar für ihn. Matt würde immer stiller werden, würde erst noch eine Weile versuchen, um sie zu werben, und es dann müde aufgeben und sich ebenfalls in seine Welt zurückziehen. Tom würde dabeisitzen und nicht verstehen, wie zwei erwachsene Menschen so aneinander vorbeireden können. Aneinander vorbeileben, dachte sie.
Es kam ihr vor, als würden ihr Sohn und seine Frau tatsächlich in zwei völlig verschiedenen Welten leben. Matt in einer Welt, die aus Nationen und Mächten, Geschichte, Wirtschaftsinteressen und Systemen, Ideologien und großen Zusammenhängen bestand. Er hatte sich nie damit abfinden können, wie diese Welt tickte. Er hatte immer versucht, zu verstehen. Zu hinterfragen. Den Konflikten auf den Grund zu gehen. Hinter die Kulissen von Wahlergebnissen und Reden zu blicken. Er hatte immer betont, dass jede Stimme zählt. Dass jeder Mensch einen Beitrag leisten konnte. Leisten musste. Dass man sich nicht gewöhnen durfte an die Gewalt. Dass Gleichgültigkeit die unmenschlichste Regung von allen war und Desinteresse eigentlich nicht zu verzeihen. Er hatte die unmöglichsten Fälle vor Gericht durchgefochten, angeklagt, verteidigt, um Gerechtigkeit gekämpft.
Amy lebte in einer Welt, die aus Tanz, Musik, Ballett und Theater bestand. Sie trainierte hart und der Erfolg gab ihr recht, zumindest innerhalb ihres Wirkungsbereichs.
Als die zwei sich kennengelernt hatten, damals an der Universität, waren sie beide rebellisch gewesen und hatten sich gegenseitig inspiriert mit Ideen, das Establishment aufzurütteln. Amy hatte die Bühne nutzen wollen, um die allzu Sesshaften mit ihren Tanz-Inszenierungen aus den Sitzen zu holen und wachzurütteln. Mit der Zeit aber, so dachte Anne, hatte sie diese Ziele und Ideale aus den Augen verloren und war selbst immer mehr Teil einer künstlichen Theaterwelt geworden. Ihre jetzige Protesthaltung wirkte zu gewollt. Und wenn sie das Publikum auch animierte, aufzustehen, konnte sie ihm doch nicht genau sagen, wofür oder wogegen eigentlich. Matt hatte ihr ihren Erfolg immer gegönnt, sie unterstützt. Aber er hatte sie gleichzeitig auch beständig dazu herausgefordert, sich treu zu bleiben. Bis er ihr irgendwann vorwarf, ihre gemeinsamen Ideale verraten zu haben. Nur um im Gegenzug von ihr zu hören, dass er nie wirklich erwachsen geworden sei und auf dem Niveau eines Träumers lebte.
Anne wurde traurig bei dem Gedanken, wie wenig sich die beiden inzwischen noch zu sagen hatten. Sie dachte an eine kleine Szene, die ihr offenbart hatte, wie es um ihren Sohn und seine Frau stand: Amy war schweißgebadet vom Training oder vom Joggen, sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, nach Hause gekommen und war in die Küche gegangen, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Matt hatte sie vom Treppenabsatz aus gesehen und einen kleinen Kommentar abgegeben: „Was für ein Luxus, in einer Welt zu leben, in der einen sonst nichts mehr zum Schwitzen bringt.“
Ob er gewollt hatte, dass Amy diesen spitzen Satz hörte, war Anne nicht klar. Aber sie hatte ihn gehört. Und seit diesem Tag war sie immer seltener zu Hause, blieb immer häufiger im Theater, auch über Nacht, wie, um seinem Zynismus auszuweichen. Anne wusste, dass hinter den bissigen Worten eine tiefe Unruhe lag, eine Sehnsucht, wirklich etwas zu verändern. Und sie wusste, dass sie selber ihrem Sohn diese Haltung vererbt hatte, anerzogen, weitergegeben. Wenn diese Sehnsucht ihn jetzt nach Indien bringen würde, könnte er vielleicht sein Glück finden, dachte sie. Aber er musste seinen eigenen Weg dorthin finden, sie würde sich nicht zu sehr einmischen dürfen. Wie sie sich wünschte, er würde Priya sehen! Und Priya würde ihn sehen - und sie würden das alte Versprechen einlösen können, das sie sich gegeben hatten. Sie merkte, wie unruhig sie bei dem Gedanken wurde. So war es immer schon gewesen: Wenn ihr etwas wirklich am Herzen lag, wollte sie unbedingt, dass Matt es mit ihr teilte. Aber er sollte es freiwillig tun, selbstständig.
Sie kreuzte die Arme vor dem Oberkörper, schloss die Augen und begann sich selbst hin und her zu wiegen. Dazu summte sie ein Kinderlied, aus einer anderen Welt.

Kapitel 3
Priya stand vor der Tür ihres Hauses. Gleich würde Jaya kommen und sie wollte ihn heute direkt hier empfangen. Der Himmel war den ganzen Tag über schon strahlend blau gewesen, die Sonne heiß. Die Mangos am Baum waren reif, auch heute Abend würden sie wieder eine Frucht essen können.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen und zum Nachbargrundstück hinüberschauen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie die Tochter ihrer Nachbarin, die auf dem Boden vor dem Eingang zu ihrem Haus kniete und traditionelle Ornamente auf den Boden malte. Sie grüßten einander freundlich, die jüngere Frau verbeugte sich, aber Priya gab ihr mit einem Lachen und einem Wink zu verstehen, dass sie es nicht übertreiben solle mit diesen Gesten des Respekts, weil sie sich lieber unterhalten wollte.
Shanti war gerade einmal sechzehn Jahre alt. Sie würde wahrscheinlich demnächst verheiratet werden. Dass ihre Mutter es ihr überließ, die althergebrachten Verzierungen zu malen, sprach dafür, dass sie wie eine erwachsene Frau angesehen wurde. „Was malst du?“, wollte Priya wissen. Shanti trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf das Muster. Es zeigte eine Lotusblüte, ganz nach herkömmlichem Vorbild. Priya nickte anerkennend, die junge Frau hatte sehr sorgfältig und ebenmäßig gearbeitet. Die Blüte wirkte sehr symmetrisch; ihre Mutter würde zufrieden sein. Priya schaute noch genauer hin und musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen, um über die Hecke sehen zu können.
„Aber womit malst du denn da?“, fragte sie und Shanti zeigte ihr ein Stück Kreide. Priya schüttelte ärgerlich den Kopf. „Warum nimmst du nicht gemahlenen Reis?“
Aber Shanti konnte nur mit den Schultern zucken. Priya wollte gerade anheben, die junge Frau zu belehren, entschied sich dann aber dagegen. Sie behielt ihre Gedanken für sich. Aufmunternd und zum Abschied nickte Priya ihr zu, lobte sie noch einmal für die Genauigkeit, mit der sie gearbeitet hatte, und ließ einen Gruß an ihre Mutter bestellen. Sie wandte sich wieder ihrem Haus zu, drehte sich dann aber im Gehen doch noch einmal um und forderte Shanti auf, ihre Mutter danach zu fragen, seit wann die Ornamente mit Kreide gemalt wurden statt mit zermahlenem Reis.
Priya setzte sich auf die Stufen vor ihrer Haustür. Der Reis gäbe den Ameisen Futter und würde so verhindern, dass sie ins Haus kämen. Über diesen praktischen Nutzen hinaus war es aber auch eine religiöse Handlung, auf diese Weise Reis zu opfern. Priya selbst hatte sich von den hinduistischen Traditionen ihres Landes gelöst, aber sie dachte doch, dass Bräuche, wenn man sie denn ausübte, auch ihren Sinn behalten müssten und dass Eltern ihren Kindern diesen Sinn begreiflich machen sollten. Sonst sähen die Kinder eines Tages nicht mehr ein, warum sie eine Tradition bewahren sollten. Warum Rituale pflegen, deren Bedeutung man nicht mehr verstand? Von solchen Bräuchen würde man sich über kurz oder lang lösen.
Sie setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, die Treppen vor ihrem Haus. Ornamente und gemahlenen Reis gab es hier nicht. Aber sie hatte einige Niemblätter auf den Stufen ausgebreitet, grüne und einige junge kleine Blätter, die bei diesem Baum rötlich, pink waren. Mit dem Niembaum verbanden sich viele alte Geschichten, dem Baum, seinen Blättern, seinen weißen Blüten und dem Öl seiner Früchte wurden magische Kräfte zugeschrieben, ja manche meinten auch, dass im Niembaum ein Gott wohne. Früher hatte sie gesehen, wie ihre Tante und die anderen Frauen Niemblätter in ihre Kleider nähten und sich davon eine Art übermenschlichen Schutz versprachen. Für Priya war ein Baum ein Baum, kein Gott. Aber sie wusste auch, dass hinter den alten Riten oft nicht einfach ein naiver Aberglaube steckte, sondern etwas Wahres oder eine alte Weisheit. Sie wusste, dass sie nicht wie ihre Tante mit einer unbestimmten Angst vor den Göttern leben wollte, ständig darum bemüht, Geister und Kräfte zu beruhigen oder durch bestimmte Riten für sich zu gewinnen. Dennoch, sie wollte immer gerne herausfinden, ob mit einem Ritual eine hilfreiche Erkenntnis verbunden war, und war immer bereit, zu glauben, dass hinter einer Tradition etwas zum Vorschein kam, das dem Leben diente. Und wenn diese Entdeckung ihren eigenen spirituellen Auffassungen nicht widersprach, würde sie die Erkenntnisse, ihre tiefe Weisheit, vielleicht sogar die Rituale dann auch gerne bewahren.
So hatte sie als Erstes entdeckt, dass der Niem gegen Bakterien und Viren wirkte, und sie hatte schon damals, als ihre Kinder noch klein waren, ihren Husten damit gelindert. Oder einmal hatten ihre Kinder und die des weißen Missionars auch alle miteinander Kopfläuse gehabt und sie hatte ein bestimmtes Gemisch aus den Blättern und dem Öl des Niems genommen und die kleinen Insekten damit besiegt.
Ihr Sohn Jaya war ein echter Gärtner. Hier, rund um ihr kleines Haus und auch in dem Garten hinter dem Kinderheim, erst recht aber auf dem großen Gelände in den Bergen, wo das Kinderhilfswerk ein Camp führte, hatte er schon oft bewiesen, dass er geschickt war im Umgang mit Grün, im Aufziehen von Bäumen und im Züchten von verschiedenen nützlichen Pflanzen. In den Bergen gab es Obstbäume, Orangen, Mangos, Feigen und Granatäpfel, es gab Bohnen, Erbsen, Okra, Kartoffeln, Kräuter wie Petersilie, Thymian, Salbei, Koriander, kleine Beeren, rote und schwarze Johannisbeeren, sogar Kaffee und ein Meer aus Blumen, die jeweils zu ihrer Zeit dem Camp seine Farbe verliehen. Jaya hatte ihr erklärt, dass er das Öl aus dem Niemsamen zur Schädlingsbekämpfung nutzte und als Dünger. Er hatte sie aufgefordert, die alte Tradition, Niemblätter um das Haus zu verteilen, weiter fortzusetzen.
Auf ihre ängstliche Frage, ob er glaube, dass der Niembaum göttliche Macht habe, hatte er sie kurz umarmt und dann geantwortet: „Gott hat göttliche Macht - und ist ein weiser Schöpfer aller Bäume und ein großzügiger Erfinder vieler wunderbarer Geheimnisse, die das Leben unterstützen. Und es ist sehr aufregend, wenigstens einige von ihnen zu entdecken.“ Sie stimmte ihm zu.
Jetzt wartete sie auf ihn. Sie nahm eins der kleinen rosafarbenen Blätter in die Hand und zupfte daran, roch den Geruch an ihren Fingern, legte es wieder aus der Hand. Sie freute sich darauf, die Gedanken dieses Tages mit Jaya zu teilen. Wie, um sich besser auf ihn vorzubereiten, überlegte sie schon einmal, was er wohl an diesem Tag erlebt hatte, welchen Menschen er begegnet und an welchen Orten er gewesen war.

Kapitel 4
Wie verabredet hatte Jaya seine Gäste an diesem Morgen direkt vor dem Eingang des großen Krankenhauses in Vellore getroffen. Die Einrichtung war keine normale Touristenattraktion, diese Klinik war ein Zeugnis wahrer Liebe und Jaya kam gerne hierhin, um Besucherinnen und Besuchern aus Europa oder Amerika die Geschichte ihrer Entstehung zu erzählen. Jaya grüßte in die Runde. Die eigentlichen Freunde und Unterstützer der Pattu-Stiftung, die das Kinderheim trug und darüber hinaus mehrere hundert andere Kinder im Süden Indiens unterstützte und soziale Projekte initiierte, kamen aus Singapur, wo er studiert hatte, und aus Deutschland, eine Verbindung, die auf ganz eigenen Wegen zustande gekommen war. Diese vier Männer waren Amerikaner, ein Arzt, ein Lehrer, ein Journalist und ein Pfarrer, eigentlich Freunde seiner Freunde aus Singapur. Er hatte sie vor drei Tagen am Flughafen in Chennai in Empfang genommen, hatte sie gestern Abend in seinem Zuhause empfangen, bot ihnen für eine Woche seine Gastfreundschaft an. Einer von ihnen, der Lehrer, war bereits vor zwei Jahren einmal hier bei ihnen zu Besuch gewesen. Für drei von ihnen war es der erste Besuch in Indien. Sie wohnten im Kinderheim, in den Gästezimmern, die genau für solche Gelegenheiten gebaut worden waren, in der zweiten Etage des Hauses, jeweils mit eigenem Bad und westlicher Toilette.
Er selber hatte keine Pläne mit diesen Besuchern, verband keine Ambitionen oder Wünsche mit ihnen, hatte sich aber seinen Freunden aus Singapur zuliebe dazu bereit erklärt, sie für eine Woche zu empfangen, ihnen die Arbeit der Stiftung vorzustellen und daneben auch etwas von Indien zu zeigen. Die vier hatten sich gestern ausgeruht, hatten versucht, sich an die Wärme zu gewöhnen, an die Zeitumstellung und das ungewohnte Essen. Heute waren sie wohl bereit, sich weiteren Herausforderungen Indiens zu stellen.
Jaya zeigte hinter sich auf das große, eindrucksvolle Gebäude und sagte: „Willkommen in einem der größten Krankenhäuser Indiens. Ich nenne diese Klinik und alles, was dazugehört, einen Ort des Segens, denn das ist sie. Es ist ein Ort des Heils und der Inspiration. Sie hat vor inzwischen mehr als hundert Jahren einmal klein begonnen, wie so manche Initiative, aber sie entwickelt sich ständig weiter, bis heute. Kommt bitte und seht selbst.“
Jaya ging der Gruppe voran, um aber nach ein paar Metern direkt wieder stehen zu bleiben, vor einem Bild der Gründerin des Krankenhauses, Doktor Ida Scudder. Hier begann er zu erzählen: „Ida Scudder hatte als junge Frau eigentlich nur einen Traum. Sie wollte glücklich sein, ein schönes Leben in Amerika führen, Indien so schnell wie möglich den Rücken kehren und einen Millionär heiraten.“
Jaya lächelte und fragte sich, wie viele junge Menschen auf dieser Welt, ob in Amerika oder Indien, wohl diesem Traum nachhingen, und fuhr dann fort: „Idas Eltern lebten als Missionare hier in Tamil Nadu. Ihr Vater engagierte sich als Arzt und so war sie dazu gezwungen, das indische Leben zu teilen. Sie aber war es leid, Missionarstochter zu sein. Wahrscheinlich“, sagte er mit einem Grinsen, „machte ihr auch die Hitze zu schaffen.“
Dieser letzte Satz war nur ein Zugeständnis an seine Gäste, die schon jetzt, am frühen Morgen, wieder schwitzten. Jaya lächelte sie an, er war die Wärme gewohnt. Die drei lächelten, solidarisch mit der jungen Ida, die die Hitze vielleicht genauso wenig hatte leiden können, wie sie selbst es offensichtlich taten.
Jaya nahm den Faden wieder auf: „Ida hatte damals wohl einfach das Gefühl, das Leben zu verpassen. Sie muss ihren Vater sehr bewundert haben, war aber davon überzeugt, niemals selber so leben zu können wie er.“ Jaya löste sich von dem Anblick des Bildes, ging weiter und betrat die Eingangshalle der Klinik, blieb einen Moment stehen, um die Größe, die Hektik, das Vorbeieilen der vielen Menschen auf sie alle wirken zu lassen, und ging dann geradeaus auf die Kapelle zu.
Aus den Augenwinkeln nahm er einen kleinen Jungen wahr, der die Kerzen vor der Eingangstür zur Kapelle sortierte. Er sah ihm einen Moment lang fasziniert zu, wie er die Reste flüssigen Wachses aus mehreren heruntergebrannten Teelichten in einem der kleinen Becher aus Aluminiumfolie sammelte. Wie konzentriert er arbeitete. Ob ihm jemand aufgetragen hatte, das zu tun, oder ob er von sich aus auf die Idee gekommen war? Er nahm sich vor, später im Gespräch mit jemandem vom Klinikpersonal danach zu fragen.
Jetzt zog Jaya seine Sandalen aus und bedeutete seinen Begleitern, es ihm gleichzutun. Dann betraten sie alle zusammen die Kapelle der Klinik.
Die Kapelle war in ein helles sanftes Licht getaucht, durch ein Oberlicht fiel Sonne in den Raum, und das verlieh ihm einen besonderen Charakter. Immer wieder sagten die Menschen, die hier hinkamen, um zu beten und Frieden zu finden, dass man den Eindruck habe, selber in Licht getaucht zu werden, wenn man diesen heiligen Raum betrat. Wie in vielen Kirchen auch standen hier an einem Gang entlang und in Reihen aufgestellt einige Bänke, etwa zehn, ausgerichtet auf einen schlichten Altar, vorne im etwas höheren Raum der Kapelle. Einzelne Menschen saßen da oder knieten, einige beteten flüsternd, leise, aber hörbar. Jaya bat seine Gäste, in der ersten Reihe Platz zu nehmen, und fuhr damit fort, ihnen die Lebensgeschichte von Ida Scudder zu erzählen.
„Wie gesagt - Ida wollte nicht in Indien leben, geschweige denn die Arbeit ihres Vaters tun. Ihr müsst wissen, dass aus Familie Scudder in vier Generationen zweiundvierzig Missionarinnen und Missionare nach Indien und in andere Länder gegangen waren.“ Jaya zögerte kurz und wagte, zu sagen: „Die Geschichte, die ich euch an diesem Morgen erzähle, ist gut, sie inspiriert mich. Aber längst nicht immer war die Geschichte der Mission so positiv; manches Mal haben die Missionare die Menschen nicht beschenkt, so wie es sein sollte, sondern sie haben sie bestohlen, betrogen, eingeengt. Ida dagegen war eine ganz große Schenkerin.“
Er erzählte weiter: „Eigentlich sah Ida sich selbst überhaupt nicht in der Rolle, diese Familientradition der Mission mit ihrem Leben fortzusetzen. Wenn sie betete, sagte sie zu ihrem Gott, dass sie nicht in Indien bleiben, sondern in Amerika leben wolle, dass ihre Freunde schon auf sie warteten und mit ihr das Leben entdecken und feiern wollten. Nun - ihre Einstellung und ihre Gebete änderten sich ganz plötzlich, im Jahr 1890, innerhalb von einer Nacht.
Ida war allein zu Hause in ihrem Zimmer und las ein Buch, als ein Mann, ein Brahmane, zum Haus ihrer Eltern kam und sie bat, mitzukommen zu seiner Frau, die in Wehen lag und ein Kind zur Welt brachte. Die Hebammen hatten alles versucht, aber es gab Komplikationen und niemand wusste weiter. Ida musste dem Mann mitteilen, dass sie nur die Tochter des Arztes war und keinerlei Erfahrung mit Geburtshilfe hätte, dass sie aber ihren Vater gerne benachrichtigen würde. Der Mann lehnte das strikt ab, denn die Vorstellung, dass ein Mann seine Frau berühren würde, war für ihn undenkbar. Ida war hilflos, die schwangere Frau tat ihr leid, aber sie konnte nichts für sie tun.
So wandte sich Ida wieder ihrem Buch zu. Noch einmal hörte sie Schritte auf der Veranda. War der Brahmane etwa noch einmal zurückgekommen? Hatte er es sich anders überlegt? Diesmal stand ein Muslim vor der Tür. Er sagte:, Bitte, kommen Sie schnell. Bei meiner Frau haben die Wehen eingesetzt und es scheint Schwierigkeiten zu geben.` Diesmal war Idas Vater zu Hause und bot selber an, den Mann zu begleiten. Der aber lehnte das Angebot ab. Niemand außerhalb seiner Familie hatte jemals das Gesicht seiner Frau gesehen. Er würde nicht zulassen können, dass ein weißer Ausländer zu seiner Frau käme. Ida und ihr Vater konnten seine Meinung nicht ändern und Ida ging wieder zurück in ihr Zimmer. Die Lust, zu lesen, war ihr mittlerweile allerdings vergangen.