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Erneut hörte sie Schritte auf der Veranda. Zu ihrem Schrecken erschien ein dritter Mann, ein Hindu, ein Angehöriger einer höheren Kaste, und auch er hatte eine junge Frau, die bei der Geburt ihres Kindes in Lebensgefahr schwebte.“
Jaya legte eine Pause ein und sah aufmerksam in die Gesichter seiner Zuhörer. Sie waren seine Gäste, vom anderen Ende der Welt, aus Amerika, wie Ida Scudder. Sie waren hier, um die Arbeit seines Kinderhilfswerkes zu unterstützen. Sie würden Geld spenden, damit mehr Kinder zur Schule gehen und eine Ausbildung machen konnten, und sie würden Pateneltern suchen, die sich dann jeweils für ein Kind verantwortlich zeigen würden. Er selbst hatte von dieser einfachen Idee profitiert und sie überzeugte ihn immer noch. Er war ein Patenkind deutscher Geber, die ihn über ein großes Kinderhilfswerk, die Kindernothilfe, unterstützt hatten. So war es ihm ermöglicht worden, zur Schule zu gehen und zu studieren. Er war ihnen dankbar. Jetzt versuchte er, dieses Prinzip weiter zu verbreiten. Familie Mensch, davon war er überzeugt, musste sich insgesamt für ihre Kinder verantwortlich zeigen. Weltweit.
Nach dieser Unterbrechung, in der er seinen Zuhörern erlaubt hatte, ihren eigenen Gedanken nachzugehen, erzählte er weiter, wie die Erfahrung dieser einen Nacht, in der drei Männer Ida um Hilfe gebeten hatten, ihr Leben für immer veränderte. „Ida“, so sagte er, „war in dieser Nacht nicht mehr eingeschlafen, sondern hatte nachgedacht, gegrübelt, Notizen in ihrem Tagebuch festgehalten und gebetet. Sie schrieb unter anderem:, Eine Frau hatte nicht helfen können und ein Mann, der hätte helfen können, der die nötige Ausbildung und das Engagement mitbrachte, hatte nicht helfen dürfen.`“
Jaya überlegte, wie er die spirituelle Dimension dieser Erfahrung vermitteln konnte, und entschied, es einfach genau so zu erzählen, wie Ida selbst es erlebt haben musste und wie er es in ihren Tagebüchern, die inzwischen veröffentlicht worden waren, nachgelesen hatte. Er wünschte sich sehr, dass Ida für sie lebendig wurde, nicht einfach ein totes Vorbild blieb, und wohl noch mehr wünschte er sich, dass seine Gäste selber auch Zugang zu dieser Kraft aus einer anderen Welt fanden. Und so erzählte er: „Ida hatte in dieser Nacht den Eindruck gehabt, als sei sie Gott begegnet, als hätte er sie berührt, wie mit einem Flügel, wie mit einem Schwung für ihr Herz, sodass sie auf einmal doch bewegt war von der Idee, Medizin zu studieren, um nach Indien zu kommen und hier insbesondere den Frauen, den Kindern und den Ärmsten zu helfen.
Am Morgen nach dieser besonderen Nacht erschrak Ida, als sie aus dem Dorf das Geräusch bestimmter Trommeln hörte. Sie wusste, das war ein Zeichen dafür, dass jemand gestorben war. Ida schickte eine der Hausangestellten, um herausfinden zu lassen, was passiert war, und auch, um sich danach zu erkundigen, was aus den drei jungen gebärenden Frauen geworden war. Sie kam zurück und musste Ida sagen, dass alle drei in der Nacht gestorben waren.
Ida schloss sich für einige Stunden in ihrem Zimmer ein. Sie dachte über die Bedingungen nach, unter denen die Frauen Indiens leben mussten, und nach vielen Gedanken und Gebeten ging sie zu ihren Eltern und teilte ihnen ihre Entscheidung mit: Sie würde nach Amerika gehen, um Medizin zu studieren, und dann zurück nach Indien kommen, um den Frauen zu helfen. Ihr Entschluss stand fest.
Als Ida im Jahr 1900 schließlich zurück nach Indien kam, war sie eine gut ausgebildete Ärztin. Ihr Vater starb nur einige Monate, nachdem Ida zurück in Indien war, sodass sie von Anfang an auf sich gestellt und allein verantwortlich für die Arbeit war. Und die Not in Indien war überwältigend. Auf zehntausend Menschen kam ein Arzt. Außerdem hatte sie keine Räumlichkeiten, in denen sie hätte arbeiten können. Sie ließ ein erstes Gebäude errichten, in dem Platz für zehn bis zwölf Patienten war. Die Veranda diente als Wartezimmer, ein kleines Zimmer als Behandlungsraum. Heute ist in diesem Krankenhaus hier Platz für mehr als zweitausend Patienten.“ Jaya konnte sehen, dass seine Gäste beeindruckt waren.
„Am Anfang hatte Ida gegen das Misstrauen der Bevölkerung anzukämpfen. Ihr erster Patient war ein Mann, der todkrank war, dem sie nicht mehr hatte helfen können und der wenig später starb, sodass das Misstrauen in der Bevölkerung nur noch zunahm.
Eines Tages aber kam ein Hindu, Angehöriger einer höheren Kaste, und ließ seine Augen von ihr untersuchen. Ida konnte ihn erfolgreich behandeln und von diesem Moment an nahm die Zahl ihrer Patientinnen und Patienten beständig zu. Aus Mitleid nahm sie immer mehr und mehr Arbeit an, sie behandelte pro Tag hundert Kranke, zweihundert, ja manchmal dreihundert. Bis heute ist es so, dass Patienten, die zu arm sind und sich keine Behandlung leisten und keine Medikamente bezahlen können, umsonst behandelt werden. Spenden von außerhalb machen es möglich, diesem Ideal nachzukommen.
Manchmal kam es vor, dass Menschen vor Ida niederknieten, denn sie hielten sie für die Inkarnation einer Göttin. Sie selbst empfand diese Huldigung als total unangemessen und furchtbar unangenehm und flüchtete jedes Mal, wenn sie in eine solche Situation kam.
Sie merkte, dass sie dringend Unterstützung brauchte, weil die Arbeit ihr über den Kopf wuchs und die Not einfach zu groß war. Denn auch wenn ein paar Dutzend Doktoren und Schwestern aus Europa und Amerika kamen, war deren Hilfe doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Da hatte Ida eines Tages die Idee, Inderinnen selbst auszubilden, um sich der speziellen Nöte indischer Frauen anzunehmen. Sie begann damit, Krankenschwestern anzulernen, um schließlich noch einen mutigen Schritt weiterzugehen und Frauen auch als Ärztinnen auszubilden. Die Ärzte, die den Medizinstudenten das Examen abnahmen, behaupteten anfänglich doch tatsächlich, dass Idas Mädchen es niemals mit den männlichen Studierenden würden aufnehmen können. Aber bei der offiziellen Verlesung der Examensergebnisse sollten alle eine Überraschung erleben. Achtzig Prozent der Studenten hatten nicht bestanden, von den vierzehn jungen Frauen aber jede einzelne. Ida sorgte dafür, dass hohe Standards in der medizinischen Ausbildung gesetzt wurden.“
Jaya hielt inne. „Noch heute ist es überaus attraktiv, eine Ausbildung an diesem College zu machen. Auch die Kinder, die wir unterstützen, haben oft den eifrigen Wunsch, hier zu studieren, und sie wissen, dass sie dafür allerbeste Leistungen in der Schule nachweisen müssen. Krankenschwester zu werden oder sogar Ärztin oder Arzt, bedeutet, eine ausgezeichnete Ausbildung zu bekommen, in der man zwei Dinge großartig miteinander vereinbaren kann: ein eigenes Auskommen zu haben und anderen zu helfen.“
Jaya atmete tief durch und wies mit beiden Händen auf seine Umgebung. „So entstanden hier an diesem Ort, wo wir jetzt sitzen, ein Krankenhaus und eine Ausbildungsstätte, das CMC, das Christliche Medizinische College. Es steht allen Menschen offen, sowohl unter dem Personal und erst recht selbstverständlich unter den Patienten sind Angehörige aller Religionen. Und das alles hat mit einem einzelnen Menschen begonnen. Das wollte ich euch an diesem Morgen erzählen.“ Sie nickten. Ob sie verstanden hatten? Ob sie bereit wären, auf ihre Art selbst eine Ida zu werden?
Um seine Geschichte abzuschließen, sagte er: „Eine Frau, die einmal den Staub Indiens von ihren Füßen hatte schütteln wollen, begann, Indien zu lieben. Eine schreckliche Nacht hat ihr Leben verändert. Der Tod von drei Frauen hatte sie tief berührt und bewegt, das zu tun, was sie konnte. Und so entstand etwas Großes. Man ehrte sie, Gandhi besuchte sie, sie kam zu internationalem Ruhm und wir ehren sie bis heute.“ Er blickte in die Runde. „Es ist mir wichtig, meine Freude über einen Menschen wie Ida zu teilen und meine Dankbarkeit, die ich immer empfinde, wenn ich an diesen Ort komme, denn ihre Geschichte inspiriert mich, selbst das zu tun, was ich kann. Ich denke, sie ist eine Herausforderung für uns alle.“
Jaya war glücklich, weil seine Gäste ihm sehr aufmerksam zugehört hatten. Jetzt würden sie mit dem seit einigen Jahren extra dafür angestellten Public-Relations-Manager der Klinik oder mit jemand aus seinem Team eine Führung durch die wichtigsten Bereiche des Krankenhauses machen. Man würde ihnen einen Überblick geben und immer wieder staunten Gäste aus der westlichen Welt über das medizinische Know-how, modernste Operationstechnik, innovative Therapiemethoden. Man würde sie teilhaben lassen an den aktuellen Entwicklungen in der Behandlung Leprakranker. Und auch über die immer noch neue und unkontrollierbare Krankheit, über Aids, würde man sprechen.
Er selbst wollte den Rundgang nicht mitmachen, sondern die Zeit nutzen, um einige Besuche zu machen. Eine seiner Nichten arbeitete hier, er würde sie gerne kurz sehen. Und ein junger Mann, der Bruder eines der älteren Jungen aus dem Kinderheim, lag hier als Patient; auch ihn würde er besuchen.
Sie verließen alle zusammen die Kapelle, zogen ihre Sandalen wieder an und Jaya ging voran zu den Büros der Klinikleitung. Man grüßte einander und eine junge Frau nahm sich auf charmante und zielstrebige Art der Besuchergruppe an.
Jaya sah ihnen einen kleinen Augenblick lang nach und sprach ein kurzes Gebet für seine Gäste. Schon im Weitergehen fügte er dann noch ein kleines Dankgebet für Ida Scudder an und bat seinen Gott um Segen für die Menschen hier in dieser Klinik, Kranke und Gesunde, Patienten und Personal.
Er ging den Gang hinunter, der ihn zum Krankenzimmertrakt bringen würde. Plötzlich kam ihm ein kleiner Junge entgegengerannt. Er wich ihm aus und sah ihm hinterher. Nur einen kurzen Moment später kam eine Frau um die Ecke gelaufen, sie gehörte wohl zum Personal, denn sie trug einen weißen Sari, der sie irgendwie beeindruckend aussehen ließ, sie jetzt aber daran hinderte, schnell laufen zu können.
Als sie Jaya sah, blieb sie stehen, ihr Atem ging schnell. „Langsam“, sagte er freundlich. Allmählich beruhigte sie sich. Sie sah den Gang hinunter und dann zu ihm.
„Dieser kleine Dieb“, seufzte sie tief und schüttelte den Kopf. „Steht neben der Kapelle, sammelt Wachs und verkauft dann die Teelichte.“
Jaya lächelte.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte sie, halb entsetzt, halb belustigt - Jaya konnte nicht so recht einschätzen, was sie wirklich dachte und empfand. Er sagte:
„Ich habe ihn am Morgen kurz beobachtet, er ist sehr geschickt.“
Erstaunt fragte sie nach: „Wo? Hier? Sie waren hier in unserer Kapelle?“
Jaya nickte. Und als fühlte er sich von ihren Besitzansprüchen ausgegrenzt oder angegriffen, fügte er hinzu: „Eine Kapelle ist ein öffentlicher Ort des Gebetes und der Andacht. Eine Kirche spricht von Gnade, also von allergrößter göttlicher Zugänglichkeit, da sollte sie doch allen Menschen gehören, jedem offenstehen, meinen Sie nicht?“
Jetzt musste sie lachen. „Sie haben recht. So war es nicht gemeint. Ich habe mich nur gewundert.“
Jaya erklärte: „Ich habe einige Gäste, Amerikaner, zu einer Klinikführung hierhin gebracht.“ Sie verdrehte die Augen. Er ahnte, warum. „Nun“, fuhr er scheinbar streng fort, „auch Ida Scudder war Amerikanerin, nicht wahr? Und noch heute lebt das CMC doch von der Unterstützung aus der ganzen Welt, insbesondere von Spenden aus Amerika und Europa. Man könnte hier sonst wohl nie dem Ideal nachkommen, die ärmsten Patienten unentgeltlich zu behandeln. Aber mit ihrer Unterstützung ist es möglich.“
Sie schaute jetzt interessiert: „Haben Sie noch nie den Wunsch gespürt, unabhängig zu sein? Wäre es nicht wunderbar, das CMC könnte mittlerweile ganz auf eigenen Füßen stehen? Auf indischen Füßen?“ Er nickte. „Weil ausländische Füße manchmal stolzieren, trampeln, treten?“
„Ja, so in etwa“, sagte sie zustimmend, nachdenklich.
Jaya überlegte kurz, ob er sagen sollte, was er wirklich dachte, und weil er das Gespräch zu genießen begann, beschloss er, ehrlich zu sein. Diese Frau - Schwester oder Ärztin? - er sah flüchtig auf ihr Namensschild und las ihren Namen, „Dr. Kala Ranjini“ -, diese Frau machte den Eindruck, als wisse sie Aufrichtigkeit mehr zu schätzen als oberflächliche Zustimmung, und so sagte er: „Ich wünschte, und so habe ich es heute Morgen meinen Gästen gesagt, Familie Mensch fühlte sich insgesamt verantwortlich für ihre Kinder. Unabhängigkeit ist meiner Ansicht nach ein sehr merkwürdiges Konzept. Ich glaube, die Wahrheit liegt genau in der umgekehrten Richtung und es wäre wichtig, die Zusammenhänge zu sehen, das Ganze nicht immer weiter aufzuteilen, sich nicht immer mehr voneinander abzugrenzen und nur an sich zu denken.“
Er stockte, fragte sich, ob er vermitteln könnte, was ihm wichtig war. Sie sagte etwas spöttisch: „Sie sind also ein Globalisierungsbefürworter.“
Er war kurz irritiert, wollte schnell widersprechen, etwas entgegnen, aber da sah er sie lächeln, mit einem ironischen, frechen Schmunzeln, was ihn vollkommen aus dem Konzept brachte.
Mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte er: „Ist ja auch egal.“ Er sah ihren Sari, nahm wahr, dass er nicht weiß war, wie er zuerst gedacht hatte, sondern von einem sehr hellen Grün, sah die passenden grünen Perlen in ihren langen schwarzen Haaren, die zu einem Zopf zusammengebunden waren, sah ihre klugen Augen, die ihn anfunkelten, und erinnerte sich nicht mehr daran, was er eigentlich hatte sagen wollen. Sie hatte es doch tatsächlich geschafft, ihn zu verwirren. Mit freundlicher Stimme sagte sie: „Es ist nicht egal, es ist wichtig, über diese Themen zu sprechen.“
Bevor sie aber weitersprechen oder beide auf die Idee kommen konnten, in der Cafeteria einen Tee miteinander zu trinken, stand plötzlich der kleine Kerzenwachsdieb an einen Türpfosten gelehnt ihnen gegenüber, ganz in ihrer Nähe.
Jaya hatte Sorge, er würde direkt wieder weglaufen, deshalb ging er nicht auf ihn zu, sondern fragte ihn von dort aus, wo er stand, nach seinem Namen. „Raja“, sagte der Junge. Einem inneren Impuls folgend, fragte er weiter: „Du bist allein?“ Der Junge nickte. Um sicherzugehen, dass er die Frage auch richtig verstanden hatte, fragte er noch einmal anders nach: „Wo ist deine Mutter?“ Der Kleine sagte leise: „Sie ist tot.“ Und setzte noch hinzu: „Die anderen auch.“ Jaya spürte, dass er die Wahrheit sagte. Wer sich hinter „die anderen“ verbarg, würde er vielleicht später herausfinden. „Und wo lebst du?“ Es war eine riskante Frage, denn der Kleine brauchte sein Versteck noch und würde es ihm sicher nicht verraten. Jaya wartete gespannt und nickte anerkennend, als Raja eine Antwort gab, die wohl gleichzeitig der Wahrheit entsprach als auch klug war: „Hier“, sagte er, „auf dem Gelände.“ Jaya nickte. Das Gelände war sehr weitläufig, die Gebäude verwinkelt und der Junge war klein, er rollte sich vermutlich nachts in einer Ecke zusammen und schlief unentdeckt hinter irgendeiner der vielen Türen. Er sah aus wie fünf oder sechs, aber Jaya wollte es genau wissen und fragte: „Wie alt bist du?“
„Ich bin neun Jahre alt“, sagte der Junge. Und etwas selbstbewusster fügte er hinzu: „Ich habe am 30.Januar Geburtstag.“
Jaya betrachtete ihn aufmerksam. Er hatte also einen Jungen vor sich, der nicht genug zu essen gehabt hatte und mit seiner körperlichen Entwicklung hinter seinem Alter zurückgeblieben war, der aber wohl wusste, dass er an einem historischen Tag geboren worden war, am Todestag Gandhis.
„Was ist mit der Schule?“, fragte er offen.
Raja sah auf den Boden und sagte traurig: „Ein Jahr. Ich bin nur ein Jahr lang hingegangen. Als meine Mutter noch da war. Danach ging es nicht mehr.“
Jaya verstand. „Bist du gerne hingegangen?“
Der Junge sah ihn an und strahlte: „Ja, sehr, sehr gerne.“
Er konnte später nicht sagen, in welchem Moment genau er gewusst hatte, dass er dem Jungen einen Platz in seinem Kinderheim anbieten würde, aber als er es tat, war er sich sicher, dass Raja das Angebot annehmen würde. Und so war es auch. Er stellte sich ihm kurz vor, erzählte ihm von dem Kinderheim und lud ihn ein, sich das Haus selber anzusehen und dort zu entscheiden, ob es ein Platz sein könnte, an dem er leben wollte. Es war jetzt Mittag und die jüngeren Kinder würden gleich aus der Schule nach Hause kommen. Er könnte sie kennenlernen, mit ihnen spielen und am Abend entscheiden, ob er länger bleiben wollte.
Doktor Ranjini dachte, dass dieser Mann absolut vertrauenswürdig wirkte und dass auch der Junge das zu merken schien. Er lehnte jetzt nicht mehr an dem Türrahmen, sondern war näher gekommen und hörte dem Leiter des Kinderheims zu. Wie oft dieser wohl schon enttäuscht worden war, weil ein Kind seine Chance nicht erkannte? Wie oft so eine Begegnung vielleicht zwar zunächst vielversprechend weiterging, dann aber doch im Leeren verlief, weil ein Kind, das einmal auf der Straße und auf sich gestellt gelebt hatte, sich schwer in so ein System wie ein Kinderheim eingliedern ließ? Wie oft dieser Mann wohl schon diese Art von Gespräch mit einem Kind geführt hatte?
Jaya selbst stellte sich in diesem Moment ganz ähnliche Fragen: Wie oft bin ich schon auf diese Weise meiner Intuition gefolgt? Warum habe ich den Kleinen heute Morgen wahrgenommen, als er bei den Kerzen vor der Kapelle stand? Und warum habe ich andere Kinder dagegen wohl übersehen? Ist es Gott, der mich leitet? Wird dieser Junge seine Chance erkennen? Wird er irgendwann sagen können, dass es Glück war, ihn heute getroffen zu haben? Wird er zu den anderen Kindern passen, wird er gerne zur Schule gehen, gut lernen, fleißig sein?
Er fragte: „Kommst du mit, um dir das Ganze anzusehen?“
Raja willigte, ohne zu zögern, ein.
Jaya merkte, dass die Zeit weggelaufen war und er es nicht mehr schaffen würde, seine geplanten Besuche zu machen. Er erklärte Raja, dass sie in wenigen Minuten einige ausländische Besucher vor dem Haupteingang treffen würden, um dann gemeinsam mit dem Auto zum Heim in der Karishma-Straße zu fahren. Raja nickte und Jaya wandte sich Doktor Ranjini zu.
Sie war jetzt nachdenklich und erklärte ihm, bevor er noch etwas sagen konnte: „Ich arbeite hier als Kinderärztin in der Kinderklinik.“ Gerade hatte sie noch den Eindruck gehabt, als habe er es eilig, aber als er jetzt nicht signalisierte, dass er sich schnell verabschieden wollte, sprach sie weiter: „Wussten Sie, dass Doktor Scudder ihrer Zeit weit voraus war, auch was die Behandlung von Kindern angeht? Als sie ihre Arbeit hier begann, starb noch jedes vierte Baby bei der Geburt. Eine ihrer ersten Taten war, ein kleines Haus zu bauen für die Neugeborenen der Ärmsten, wo sie in wohnlicher Atmosphäre besondere Pflege bekamen. Eine Kinderklinik entstand und ein besonderer Trakt für Kinder mit ansteckenden Krankheiten und für Frühgeborene kam hinzu, außerdem das Therapiezentrum für behinderte Kinder.“ Sie hielt inne. „Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass Sie sich jederzeit an mich wenden können, wenn Sie im Kinderheim medizinische Hilfe brauchen, ich eins Ihrer Kinder untersuchen soll oder Sie irgendwie spezielle Unterstützung brauchen. Ich könnte dann natürlich auch zu Ihnen kommen, in die Karishma-Straße, um Ihnen und den Kindern den Weg zu ersparen.“
Sie hoffte inständig, dass dieses Angebot nicht zu gewagt war und er ihr nicht anmerkte, wie neugierig er sie gemacht hatte und wie gerne sie das Kinderheim sehen und ihn wiedertreffen würde. Sie wusste, sie hatte ihm Unrecht getan, als sie ihn als Globalisierungsbefürworter bezeichnet hatte. Warum hatte sie ihn so provozieren müssen? Sie wollte sich entschuldigen, das Gespräch fortsetzen, es wiedergutmachen. Sie wollte ihn kennenlernen.
Jaya bedankte sich bei ihr für das großzügige Angebot. Er überlegte, mit welchem Argument er sie überzeugen könnte, doch möglichst bald einmal vorbeizukommen, am liebsten gleich heute, als ihm eine Idee kam und er sagte: „Sie haben den Jungen ja gesehen, Raja. Er wirkt wie ein Fünfjähriger, höchstens wie sechs, ist aber schon neun Jahre alt. Wahrscheinlich ist er aus Mangelernährung nicht gewachsen. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn sich einmal ansehen könnten.“
„Und wäre es nicht gut, ich würde ihn mir gleich heute ansehen“, fragte sie, „bevor Sie ihn aufnehmen? Nur, um zu wissen, wie es wirklich um ihn steht.“
„Wenn das möglich wäre, so spontan, wäre das wunderbar.“
Sie nickte. „Also abgemacht. Dann komme ich gegen Abend vorbei“, sagte sie. „Auf Wiedersehen.“ Sie gaben sich die Hand und sie wandte sich zum Gehen.
„Karishma-Straße Nummer sieben“, rief er hinter ihr her. „Das hellblaue Haus mit dem blühenden Oleander vor dem Tor.“
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: „Ich werde Sie finden.“ Und damit war sie um die Ecke verschwunden.
„Ich werde Sie finden“, wiederholte Jaya für sich. Was bedeutete dieser letzte Satz jetzt genau? Und was bedeutete er in Verbindung mit diesem schelmischen Funkeln? Jaya musste lachen und schüttelte den Kopf. Mit neuen leichten Schritten ging er in Richtung Eingangshalle.
Seine Gäste waren so sehr ins Gespräch vertieft, dass sie ihn zunächst gar nicht bemerkten. Das war sicher ein gutes Zeichen; der Besuch im Krankenhaus hatte ihnen Stoff zum Nachdenken gegeben. Er stellte sich zu ihnen und hörte mit halber Aufmerksamkeit zu, wie sie über Krankenversicherungen und das Gesundheitssystem Amerikas diskutierten. Die andere Hälfte war bei Raja, der mit etwas Abstand bei ihm stand und geduldig wartete, wie es weitergehen würde. Jaya merkte, dass er ihn jetzt schon in sein Herz geschlossen hatte. Er erinnerte ihn an sich selbst und er fragte sich, ob es am Ende immer wieder seine eigene Lebensgeschichte war, die ihn mit jedem neuen Jungen einholte.

Kapitel 5
Matt saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und starrte jetzt schon seit einer halben Stunde vor sich auf die Wand. Er wusste, dass er bald nach Indien reisen würde, im Mai, wenn Tom mit der Schule fertig sein würde. Ja, er war sich sicher, dass er Tom mitnehmen würde und diese Zeit für ihre Vater-Sohn-Beziehung von großer Bedeutung sein würde. Er war sich inzwischen auch darüber im Klaren, dass seine Mutter in Verbindung mit dieser Reise irgendeine Bitte an ihn hatte und es ihr aus irgendeinem Grund sehr viel bedeutete, dass er dorthin reisen würde. Sie würde es ihm sicher bald erklären, noch aber, das spürte er, war sie nicht so weit. Sie blieb in diesen Tagen oft allein in ihrem Zimmer, saß in ihrem Sessel am Fenster und schrieb, wirkte nachdenklich, in sich gekehrt und doch alles andere als schwermütig, eher euphorisch. Blieb nur noch Amy. Er verstand nicht, warum seine Frau sich seiner Idee, zu reisen, so total versperrte, und es machte ihn traurig und hilflos, dass es scheinbar keinen Schlüssel gab, damit sie sich seinen Plänen mehr öffnen könnte. Er rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht, verdrängte das Gefühl der aufkommenden Kopfschmerzen und machte seinen Laptop an.
In den nächsten zwei Stunden surfte er durch das weltweite Netz. Dank verschiedener Suchmaschinen fand er auf Anhieb einige Seiten mit genau den Informationen, die er suchte. Er las gebannt. Die Berichte über die Staudammprojekte fielen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie von Regierungskreisen, Baufirmen, Ingenieuren oder Umweltorganisationen geschrieben waren. Er las alles, bis er nach einer Weile zunehmend den Eindruck bekam, jetzt zwar eine Menge Wissen angesammelt zu haben, aber noch lange keine Weisheit, wie mit diesen Informationen umzugehen sei. Als er gerade aufgeben wollte, stieß er auf einige Berichte über Arundhati Roy, eine indische Schriftstellerin und Aktivistin, die mit ihrem Buch „Der Gott der kleinen Dinge“ einen Bestseller geschrieben hatte, der inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt worden war und internationale Beachtung erhalten hatte. Eine Frau, die für die Rechte der Armen kämpfte, sich dabei schon mit den Allergrößten angelegt hatte, die immer wieder mal im Gefängnis landete und unter Druck geriet, weil sie zum Beispiel die Methoden der Staudammfirmen entlarvte und nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, dass weder die weggeschwemmten Dörfer im Norden noch die Trockenheit im Süden des Landes Schicksal, Karma, waren, sondern hausgemacht.
Das war, was er suchte. Ohne lange nachzudenken, bestellte er einige Bücher von ihr und fand, bevor er sich dann ausloggte, ein Zitat, das ihn sehr berührte und das gleich auf mehreren Ebenen in seine Situation hineinzusprechen schien. Er kopierte die klaren, herausfordernden Worte der jungen Aktivistin, druckte das Zitat auf einem weißen DIN-A4-Blatt aus, hängte es gut sichtbar über seinem Schreibtisch auf und las es wieder und wieder durch, bis er sich sicher war, dass er es auswendig konnte: