Hein Bruns: In Bilgen, Bars und Betten

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Soll er getrost eine Weile braten, der da drüben im Sessel, denkt die Blonde, allein schon für die Antwort: Angelegenheit soll Sie nicht interessieren. Außerdem ist Anbiet. Hin und wieder schielt sie über die Boulevardzeitung zu ihm hin, aber der junge Mann macht keine Anstalten, den Blick zu erwidern. Und sie ist es doch so gewohnt, dass die Männer ihr Stielaugen zuwerfen. Der ist sauer, denkt sie. Was er wohl ist? Offizier oder Ingenieur?
Die Sirene schwingt ihren Ton durch den Hafen. Anbiet beendet. Jetzt, denkt Meiler, wird sich auch die Pflanze da drüben in ihrem Affenkäfig rühren. „Sie können nach oben gehen, Herr Meiler, die Besprechung ist beendet!“ Meiler legt die Prospekte und Zeitschriften wieder ordnungsgemäß zusammen, zerdrückt die Zigarette im Aschenbecher und geht mit einem Kopfnicken, das wohl ein kurzer Dank sein soll, an dem Glaskasten vorbei, nach oben.
Nur zur Aushilfe, so hatten sie doch gesagt, nur eine kurze Vertretung als Dritter Ingenieur. Und ob er das machen wolle, so fragten sie ihn, und so war ’s doch, nicht? Eine Reise nur… nur eine Reise. Aber Reisen können verflucht lang sein. Jawohl, sehr lang. Es gibt Reisen von vier Wochen und von sechs Wochen. Reisen, die vier Monate und sechs Monate dauern. Jahresreisen, Zweijahresreisen und Fünfjahresreisen. Es gibt auch Reisen ohne Ende, und das sind die längsten. Es kommt nur darauf an, was man unter Reisen versteht. O ja, Reisen können verdammt lang sein. Sie fragten ihn (das war doch erst gestern), sie: die „Wanze“, der „Wurm“ und die „Schlange“, die verfluchten Handlanger des Reeders mit Inspektorenallüren. So ist es aber, dessen Brot ich ess’, dessen Lied ich sing. Ja, ja, sie fragten ihn, und er sagte zu, weil ihm das Wasser bis zum Halse stand. Das mit dem Wasser, das sagt man so. Was ist das für Wasser? Ach so, Wasser und Strohhalm, so war das doch, nicht? Die Wanze drückte ihm 50 Mark in die Hand, beim Wurm musste er unterschreiben und sich von der Schlange verabschieden und aufgetragen wurde ihm noch, dem Kapitän an Bord Grüße vom Kontor auszurichten. „Die fünfzig Mark sind für die Reise, rechnen Sie darüber mit dem Kapitän ab; ja?“ Das sagten sie auch noch. Lächerliche fünfzig Mark, damit sollte er 200 Kilometer reisen. Und rasch reisen solle er, sich nirgends aufhalten, und nicht etwa in Hamburg noch einen Reeperbahnbummel machen und sich auch nicht besaufen. Das letzte rief die Wanze noch hinter Meiler her und wanzte sich wieder in seinen Büroschemel, und der Strahl der Wintermorgensonne traf falsche Augen und brandrote Haare. Arschlöcher die; besaufen, wovon wohl? Aber die können sich jeden Abend besaufen, diese Heinis, die können klug schnacken. Trotzdem, das mit dem Besaufen, das lass man meine Sorge sein, dreckige Wanze, du. Über die fünfzig Mark will man eine Abrechnung, und genau, versteht sich, auf den Pfennig genau. Fünfzig Mark, er hätte sie ja tatsächlich versaufen können, also waren sie doch großzügig. Vertrauen ehrt.
Kurz grüßend, abwesend und schon vorwesend, ging Meiler an der Blondine im Glaskasten vorüber und trat aus der Wärme des Reedereigebäudes in den kalten Januartag. Mit Hassaugen sah Meiler auf die Schiffe, die vertäut an der Pier lagen. Morgen, ja, ja, morgen. Scheiße! Aber noch ist heute, noch eine Nacht mit Mira. Die Nacht, die letzte Nacht mit Mira. Wohl eine Nacht mit Höhen und Tiefen, mit Gipfeln und Tälern. Eine Nacht, die schon mit Vorschau auf Schiff und Wasser und Weite geschwängert sein wird, die schon den Lärm der Maschinen und Motoren in sich trägt und das Jaulen der Pumpen, das Singen der Generatoren und Heulen der Turbinen.
Und sie trägt weiter in sich das Wissen um den Alltag, um die Trennung, um die Probleme und was es auch immer sei, was den Menschen rüttelt, bewegt, anspricht, so zwei Menschen, Mann und Frau, die sich trennen müssen. Menschen, die sich dann eine Zeitspanne nicht sehen und fühlen. Wieso aber die letzte Nacht? Es gibt keine letzte Nacht, außer der letzten Nacht vor dem Tod, worauf die endgültig letzte Nacht folgt.
Meiler hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen, als wolle er sich einkapseln, isolieren. Meiler ging am Zollposten vorüber. „Nichts dabei!“ Meiler. „Danke!“ Der Zöllner. Da, eine Telefonzelle, innen verkippt und vermatscht. Die Vermittlung im Krankenhaus meldete sich. „Kann ich Schwester Mira sprechen?“ – „Einen Moment, verbinde zur Männerstation!“ „Du, Mira, morgen geht’s los!“ – „Ach, morgen schon?“ – „Ja, leider... morgen früh... aber nur für eine Reise!“ – „Wie lange dauert die Reise, Mel?“ – „Ja, wie lange dauern Reisen? ... Och, nicht lange, Mira, ich mache nur eine Vertretung!“ – „Wann sehen wir uns, Mel, Liebling? Ich komme um fünf von der Station!“ – „Dann komm zu mir für die letzte Nacht! Sieh, ich muss noch packen und habe sonst noch allerhand zu tun. Im Schwesternheim ist zuviel Rummel, dort bist du mir zu kabbelig. Du kannst mich ja morgen früh zur Bahn bringen, wenn du willst. Ist es dir so recht, Mira? Kleines, liebes Mädchen, du!“ – „Ach ja, mir ist alles recht. Morgen, morgen, gäbe es doch nur kein Morgen, Mel!“
Nun hat der Abend seine Augen aufgetan. Die Ruhe in der Winternacht ist wie ein dunkler Vorhang, dahinter quälen oder beglücken sich Menschen. Alle Konturen sind verwischt. Nicht aber die Konturen von Miras Gedanken, auf ihnen zeichnet sich die Landschaft seines Gesichtes, das wie die See ist, lebendig, stürmisch bewegt und manchmal zerrissen. Und nur manchmal, so sein Gesicht ganz still ist, spricht aus dem Innern die See. Dabei kennt sie die See nicht, aber sie versteht die Sprache so gut, und sie findet sich darin zurecht. In dreimonatigem Zusammensein, in dreimal dreißig Nächten hat sie die Sprache der See erlernt… „Du, deinen Schlafanzug habe ich nicht mitgebracht, er bleibt in meinem Zimmer im Schwesternheim... so habe ich noch etwas von dir!“
Die Weggefährten auf dieser Nachtstrecke wirken zunächst nichtssagend, da aber auch das Nichts etwas aussagt, sagten auch die Nichtssagenden etwas aus - alles aus. Zusammengekuschelt und zusammengeglückt liegen sie auf der geflachten Schlafcouch, ohne Bewegung, nur in der Bewegung ihres Atems, ihres Herzschlages, der von Hand zu Hand leise pocht und pulst. Von der Straße her kriechen weiter Geräusche, die sie berühren. Der Warnruf eines Wintervogels. Das Gekreisch eines Gatters. Der Fall einer zuschlagenden Tür. Der Start eines Kraftwagens.
Und Melchior Meiler richtete sich auf, werbend umflüsterte er ihr Gesicht. Umfasste zärtlich ihre nackten Schultern, zeichnete ihre Augenbögen, ihre Ohrmuscheln mit seinen Fingernerven. Vier Augen hielten einander fest und dunkle glitzernde Sonnen sprühten, versprühten Lust und Zärtlichkeit. Sie sahen und hörten und spürten nicht mehr die Nacht, die kalte und helle und geräuscharme, sahen, hörten und spürten nur sich. Sahen die Lust in dem anderen, so unbekümmert wie die Natur, rein und schön. Ein feines Sirren steigt auf, es ist der Sekt, der zart das geschliffene Glas harft. Sie umarmen sich noch einmal, liegen Leib an Leib, Mund in Mund. Augen in Augen. Versunken, vertieft... ineinander. Eingekapselt im Abschiedsschmerz, dann einsam, verloren. Und doch bot der Herold des Abschieds abschneidend Liebe und Freude und Schmerzesstunde, bot er Wärme und eine unausgesprochene Aussage ihr beider Innern. Mira war wie eingeschlossen in einem Traum, in dem sie hätte eingeschlossen sein mögen für immer. Niemals mehr auftauchen. Niemals mehr denken müssen an das Gewesene, an das Kommende... nie mehr an morgen. Ob er wohl im Abschnitt des Abschieds etwas von allem, was in ihr war oder ist oder sein wird, spürt oder gespürt hat? Oder ist sie allein in ihrem Denken und Fühlen? Einen Augenblick glaubte sie es nicht zu sein. Es war der Augenblick. War es eine Illusion? Gott, was weiß man schon in Wirklichkeit von dem anderen? Man legt Gutes oder Schlechtes in einen Menschen hinein und weiß nichts von dem, was wirklich in ihm ist. Vielleicht darum, weil man stets sich selbst in den anderen hineinlegt und glaubt, sich selbst im anderen zu begegnen. Selbst Menschen, die sich sehr nahe sind, begegnen sich in ihrem Innern nur selten. Aber dass sie sich manchmal begegnen im Zentrum ihres Soseins, im Mittelpunkt ihres Fühlens, im Zenit ihrer Erfüllung, so glaubt Mira, das sei der Liebe höchste Form... der so vielen Arten der Liebe. Nur Stunden der Nacht bleiben ihnen, knappe, karge Stunden, die auch ein wenig das Gesicht des Schlafes tragen müssen. Alles Ungesagte sollte gesagt werden, alles Ungesagte der verflossenen Monate. Alles Ungesagte wurde nicht gesagt. Menschen wollen das aber immer. Menschen wollen anders sein als in Briefen. Menschen wollen im Abschied, in der Trennungsspanne nachholen, wollen überholen, verbessern, ja, das wollen die Menschen. Tun sie es? Das dunkle Tuch der Trennung, der schwarze Schleier des Scheidens lässt Gedanken und Worte in Höhlen und Irrgärten der Hirne. Gedanken und Worte nähern sich nur wie Tropfsteine und berühren sich nur manchmal, wie es Tropfsteine auch nur manchmal tun. Ist es in einem Irrgarten anders? Die Gedanken eilen voraus, eilen in Maschinenräume und Operationssäle und an Seziertische. Hängen in Schiffsbetriebsgängen und auf Männerstationen. Sind und verweilen bei kranken Maschinen und bei kranken Menschen.
Kapitel 2
Frostklarer Tag. Die Kälte knackt wie Krakauer Wurst. Quirlend flockt Weiß aus grauem Himmelstopf. Schnee knarrt und stöhnt unter Fußtritten. Vorortbahn. Ein Mädchen, sein, Meilers Mädchen, blieb zurück. Winkte und winkte, bis auch das Tuch eine Flocke war. Schön waren die Tage bei ihr, und noch schöner die Nächte, ja, die Nächte. Verflucht, die Nächte waren gut. Scheiße, jetzt nicht dran denken, bin sowieso leer wie meine Brieftasche. Nicht dran denken. Kann man auf See machen, wo man zum Nachdenken Zeit hat, auf langen Wachen und so. Dann kann man sich die Beine und Brüste und Mund und Augen wieder herbeiholen. Dann hat man auch was davon, und man kann was davon machen, so man keinen Hafen und keine Frauen hat. Aber jetzt, nee!
Weißwattige Rauchballen liegen auf nadelspitzen Industrieschornsteinen. Glühend brennt ein Feuer ein rotes Loch in das Schneegrau des Himmels: die Abgasflamme einer Ölraffinerie. Melchior Meilers fadenscheinige Koffer aus Fiber, Farbe und Pappe stachen im zermatschten Schnee des Abteils. Ein Zuchthaus gleitet vorüber, und in den Zellen brennt Licht. Schmutziggelbe Fleckenquadrate im Ziegeldunkel der Steine. Schmutziggelbe Flecken, von schwarzer Gitterschrift aufgeteilt. Schachbrettmuster der Unfreiheit. Die Zuchthauskapelle aber hat keine Flecken, morgens geht noch keiner beten. Die haben es gut, die da im Knast, haben zu essen, sind im Warmen und brauchen nicht zur See zu fahren. Vor Meiler, gegenüber, pult sich eine kopfbetuchte Frau in der Nase. Derjenige, der den Knetgummi erfunden hat, oder derjenige, der die Plastikbombe erdacht hat, hat bestimmt mit Nasenpopeln angefangen. Hat die Popel mit spitzen Fingern und bohrenden Nägeln aus der Nase geholt und die grünschwarzen Dingerchen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her gedreht, gerollt, gewalzt zu Kugeln, zu Würsten, zu Walzen. Hat sie eingekniffen und sich vor Augen gehalten. So ist er auf Knetgummi gekommen, heute ein beliebtes Spielzeug für Kinder. So ist er auf die Plastikbombe gestoßen, heute ein beliebtes Spielzeug für Attentäter und Widerständler. Eigentlich müsste er an sein Mädchen denken, statt an Nasenpopel. Fünfzig Mark hatte Meiler schon nicht mehr. Taxe. Fahrkarte. D-Zug, versteht sich, er sollte ja schnell reisen. Doppelter Zuschlag, weil Fern-D-Zug. Er sollte ja schnell reisen. Die Zuschlagkarten machten schon einen feinen Mann aus ihm, es fährt nicht jedermann mit einem Fern-D-Zug, weiß Gott nicht. Einen feinen Mann, wenn auch die Koffer Pappkoffer sind, pah, was macht das schon? Junge und ältere Mädchen und Frauen, schlanke und dralle, steigen zu. Schnatternd, schnackend, gackernd, lachend, albern kichernd. Toupiert vergrößert. Gehackt vergrößert. Gemalt verschönt. Verkäuferinnen. Büroangestellte. Arbeiterinnen. Die Stadt frisst sie gleich, frisst und schluckt sie gleich, mit all der Farbe auf Gesichtern und Fingern. Mädchen und Frauen, die die Stadt gleich schluckt und die sie abends wieder auswirft, als sei sie ihrer überdrüssig. Keine Sorge aber um die Farbe, denn vor dem großen Auswurf treten der Pinsel und der Farbstift wieder in Tätigkeit. Nur der Glanz der Augen ist geschwächt. Der Glanz des herben Wintermorgens in den Augen der Mädchen, der ist abends stumpf. Den Glanz hat die Stadt behalten. Und den Tribut fordert sie täglich, bis die Augen ganz stumpf sind, so stumpf wie Milchglas. Aber daran haben die Wanze und der Wurm und die Schlange nun wirklich keine Schuld, nein, nein, daran nicht. Aber es gibt noch vielmehr Wanzen und Würmer und Schlangen in der Stadt, nicht nur bei den Reedereien, o nein. Und abends nach dem Auswurf werden die Mädchen und Frauen nicht mehr gackern und kichern und schnacken und schnattern, denn sie sind müde und abgekämpft. Sie haben den Glanz aus ihren Augen verloren, nur die Farbe ist frisch.
Meiler wird heute noch, heute Nacht noch von einem Schiff gefressen, mit Koffern aus Farbe, Fiber und Pappe. Und doch sind die Gedanken bei Mira, dem Mädchen der vergangenen Tage und Nächte. Dem Mädchen mit den glatten Gliedern. Mist, nicht dran denken. Fernbahnhof. Umsteigebahnhof. Im Wartesaal der unteren Klasse, am bespuckten Tresen, trank Meiler ein paar Glas Bier. Untere Klasse? Aha, es gibt also doch noch Klassen. Er möchte sich wohl besaufen..., denn es stand ein Mädchen allein auf dem zugigen Bahnsteig, und das Tuch war eine große Schneeflocke, und die kleinen Schneeflocken, die richtigen und wirklichen und weißen und nassen, zogen einen wirbelnden Schleier vor des Mädchens Augen. Deswegen möchte er sich besaufen, aber dafür haben „Die“ ihm kein Geld gegeben, dafür nicht.
Die Arbeitskraft, Personalausweisnummer D 3920206, Melchior Meiler, hat fünfzig Mark bekommen, damit die Arbeitskraft vom Schiff gefressen wird. Die fünfzig Mark müssen doch irgendwie wieder reinkommen, sicher doch. Nein, es wird einem nichts geschenkt. Wieso auch? Besoffen an rohen Holztischen. Mief. Rauch. Schweiß und Füße. Bier und Fuseldunst. Rauch. Bratwurstqualm. Besoffene an rohen Holztischen; denn für Besoffene legt man keine Tischdecken auf. Kellner in schmuddeligen Jacken; denn für diese Gäste braucht man keinen Frack. Schankmädchen, mürrisch und ungefällig, für diese Gäste braucht man kein Lächeln, keine Verbindlichkeiten. Ein Landgewächs steckt sich ungeübt und linkisch eine Zigarette an, zieht daran mit roten Lippen und gelben Zähnen. Stößt den Rauch in den Rauch und in den Schweiß und in den Bratwurstdunst. Verbirgt den Glimmstängel in seinem Handteller... es könnte doch wohl jemand aus dem Dorf hier sein. Zwischen ihren nach einwärts gerichteten Füßen räkelt sich ein blattgrünes Einkaufsnetz, aus dem es beißend und eindringlich herausschreit: HERTIE — HERTIE — HERTIE. Gott ja, das Mädchen will einmal eine Dame sein, und sei es im Wartesaal unterster Klasse, im Wartesaal mit Besoffenen an Holztischen, mit Rauch und Schweiß und Ausdünstungen und Bratwurstqualm. Im Wartesaal unterster Klasse eines Fernbahnhofes. Fünfzig Mark hatte Meiler nicht mehr.
Meiler schob seine Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe in das Abteil des Fernzuges. Und seine Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe hob er ins Gepäcknetz. Setzte sich selbst in die erste Ecke des Abteils, gleich links. Saß hineingedrückt, als hätte ihm die Verlegenheit einen Schubs gegeben. Saß, als hätten ihn die mitleidigen Polster herabgezogen und in sich aufgenommen, gnädigst. Saß, als hätten ihn der Rauch und der Schweiß und der Bratwurstdunst hier hineingeraucht, hineingeschweißt in diese vornehme Luft. Und die Luft ist vornehm in einem Abteil der oberen Klasse, stinkvornehm ist die. Die Dame am Fenster ist vornehm. Sie hat sich ihren Pelzmantel lose um die Schultern gehängt und sieht gelangweilt aus dem Fenster. Ihre Koffer im Netz stinken nach Schweinsleder. Aber diese Dame popelt sich nicht in der Nase, weiß Gott nicht, zumindest aber nicht öffentlich, denn die Dame ist vornehm. Und der Herr, Meiler gegenüber, ist auch vornehm. Seine Hosenbeine hat er hochgezogen, und die Bügelfalten sind scharf wie ein Paprikaschnitzel. Ist bestimmt teurer Stoff, aus dem der Anzug geschneidert ist, ein Stoff, worin sich auch Bügelfalten wohl fühlen. Ja, der Herr ist vornehm. Musste Meiler sich da nicht in eine Ecke drücken, in die erste beste, in das mitleidige Polster hinein? Aber er hat doch auch eine Fern-D-Zug-Zuschlagkarte, warum ist er eigentlich nicht vornehm? Ach ja, Entschuldigung, die Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe, die machen es wohl, dass er nicht vornehm ist. Ja sicher, die sind das auch, …denn an ihren Koffern sollt ihr sie erkennen. Meiler nahm die Boulevard-Zeitung - und erschrak sich. Er erschrak, weil die Zeitung beim Entfalten raschelte. Nein, er erschrak nicht, weil die Zeitung raschelte, sondern er erschrak vor den Blicken seiner Gegenüber. Wie konnte er auch so unhöflich sein und hier mir einer Zeitung rascheln? Das tut man nicht. Das Rascheln vertreibt nämlich die Vornehmheit. Das Rascheln wirkt zerstörend und zersetzt die Feinheit. Und das Rascheln verjagt Gedanken und könnte das Schweinsleder angreifen, das kann man alles nicht wissen. Das Rascheln könnte die Bügelfalten beleidigen. Außerdem ist das Rascheln proletisch. Bloß nicht wieder rascheln. „Deutscher in der Zelle vergessen!“ „Staatspräsident von Togo ermordet!“ „Genossen unter sich!“ „Sie starb durch einen Brieföffner!“ „Europas riesige Eiszapfen!“ Vorsichtig wieder zusammenfalten, die Zeitung, ja, ja, vorsichtig. Die Schweinslederne rührt sich nicht. Die Bügelfalten zittern nicht. Keine Blickpfeile schwirren. Gut gemacht, alter Knabe, wirst langsam vornehm. Dass ihm nun, nachdem die Zeitungsgeschichte einigermaßen klar gelaufen war, die Blase drückte, das war äußerst unangenehm und auch sicher nicht vornehm. Verfluchter Mist war das nun auch wieder. Die Vornehmen müssen nie, komisch ist das auch. Die sitzen und sitzen und scheinen auf dem Gebiet überhaupt keine Gefühle zu haben. Die sitzen, und er muss - und nötig, so nötig. Kommt von dem verdammten Bier im Wartesaal der unteren Klasse. Er kniff die Beine zusammen und schlug sie - und das ganz sachte, behutsam und geräuschlos - übereinander. Nur die Bügelfalten nicht berühren, bloß das nicht. Er meinte die Bügelfalten gegenüber, Meiler hatte ja keine. So ist das aber auch, wenn man keine Bügelfalten hat, kann man auch nicht vornehm sein, und wenn man Bügelfalten hat, drückt einem auch sicher nicht die Blase. Das wird nächstens anders. Ganz bestimmt. Aber Meiler muss trotzdem, muss nötig. Verfluchter Mist! Schob sich an den Bügelfalten vorbei. Tür ganz leise zur Seite rollen, damit die Schweinslederne nicht aufsieht und tastete sich durch den schaukelnden Gang dahin, wo dransteht: WC. Für Herren und auch für Damen. Hier müsste die Schweinslederne auch hin, wenn sie müsste, und die Bügelfalten auch, wenn sie müssten. Das ist man gut, gibt es doch hier wenigstens keine Klasseneinteilung. Nicht mal eine Trennung der Geschlechter. Aber müssen die überhaupt? Wahr ist das aber auch, zuerst zerstörte er die vornehme Luft mit seinen Koffern, dann raschelte er mit der Zeitung „Sie starb durch einen Brieföffner!“ Und zuletzt drückte auch noch die Blase. Nein, nein, aus Meiler wird wohl nie ein feiner Mann werden. Im Gang, an der Tür zur Einsamkeit und des Wasserfalls stand ein Mädchen und wartete darauf, dass die grausamen schwarzen Buchstaben: BESETZT im Messingfutteral verschwinden... so mit klack. Das Mädchen musste auch. Ist es nun vornehm, zu warten, dass jeder Mann und jede Frau und er sehen, dass das Mädchen muss? Ist es vornehm, zu warten, um die Müssenden an sich vorbeidrängen zu lassen, Auge in Auge fast, um sich selbst dann in Klausur zu begeben? Meiler stellte sich in den mannshohen Ziehharmonikabalg, der immer balgt, stets Wind hat und fortwährend Musik macht, und kam sich vor wie in der Reichsmark-Zeit... Schlangestehen mit Muttern. Klack. BESETZT fällt in den Messingkeller und FREI weist auf eine Erlösung. Eine Dame duftet vorbei. Der Nächste... nein, die Nächste. Meiler ist noch nicht dran. Die Duftende hätte er doch nicht so ansehen dürfen. Klack. BESETZT. Wieso besetzt? Dann müsste es ja eigentlich noch ein Schild geben, für Männer: BESTEHT. Ach nein, das kann auch besetzt heißen, es kommt ganz drauf an. Meiler stand und trat von einem Bein auf das andere. Der Balg der Ziehharmonika schwabbelte hin und her, und die rollenden Räder schlugen stoßenden Takt. Klack. FREI. Die Schlangesteherin schämte sich vorbei. Die Schlangesteherin hätte er auch nicht so ansehen dürfen. Die Brille war noch warm, er fühlte es, als er sie anhob. Schade, dass er sich nicht zu setzen brauchte. Pisste und ließ dann Wasser in das Waschbecken. Mögen weitere Müsser und Müsserinnen draußen warten, keine Rücksicht, er musste es auch, als er musste. Eine warme Brille hinterließ er nicht. Behandelte den Seifenspender nach Vorschrift: Die Klappe einmal rechts herum, und wie aus einer Pfeffermühle der Pfeffer raspelt, so auch die gekörnte Seife. Duftet gut. Schöner Schaum. Papierhandtuch mit DB eingeblaut, kreppig, griffig. Verdammt, doch ein Genuss, so auf der Gangway der Vornehmheit zu balancieren. Ist die Gangway auch schmal und wackelig, Meiler hatte es gewagt. Ja, und diese Gangway führte ihn in den Speisewagen und er riskierte was: wagte sich flüsternd eine Flasche Bier zu bestellen. Die Kellner sind Grafen. Und die Speisewagengäste stinken auch alle nach Vornehmheit. Tranken Sachen, die er nie getrunken, aus Gläsern, die er nie sah. Hier wurden von Hornbrilligen und Maßanzügen Gespräche geführt, die er nie hörte. Von Transaktionen und Projekten, von Aktien und von Haussen und Baissen wurde geredet, aber Trinkgelder bekamen die Kellner nicht. Merkte er sich, Trinkgelder geben ist nicht vornehm. Vielleicht ist Trinkgeldgeben proletisch, weil es wohl so aussieht, als wolle man sich die Gunst der Grafen erkaufen. Merkte er sich, Trinkgeld geben ist nicht vornehm. Man soll den Grafen auch gar nicht erst ein Trinkgeld anbieten, sie könnten sich beleidigt fühlen.
Wieder ein Fernbahnhof. Umsteigeplatz. Die Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe schleppten sich von Gleis vier nach Gleis neun. Leichtfüßige Mädchen, hochgehackt, hochtoupiert. Junge Männer, röhrenhosig, cäsarenköpfig. Alte Ehepaare, reisewütig. Arbeiter, Angestellte, eilend, hastend. Heilsarmisten, singend, sammelnd. Bahnbeamte, wichtig tuend, von Fahrplänen und Fahrzeiten, Ankünften und Abfahrten redend. Am neonbewehrten Imbissstand aß Meiler eine Wurst, lauwarm, teuer.
Der nächste Zug, ein Eilzug, ratterte ihn der Küste näher. Warm gedeckte Bauernhäuser. Weiß gedeckte Wiesen. Lichternde Lichter. Weißbesprenkelte Hänge. Kleinstadtbahnhöfe. Dorfstationen. Wiesen und Knicks. Es waren nur vier ganze peoples und Meiler, die um Mitternacht am Endbahnhof aus dem Zuge krabbelten. Der Ost hatte auch hier an der Küste seine Messer geschliffen. Im Wartesaal war es warm und leer. Hier wartete Meiler auf ein Taxi. Der Bierhahn stammte aus dem vorigen Jahrhundert. Eine Biersäule blitzte blank und schnörkelte in grün-weißem Porzellan. War nur eine Attrappe, denn es gab Flaschenbier. Der Wirt sparte mit Licht und sah aus wie ein Hobbyist, Briefmarkensammler, Taubenzüchter oder so. Das Taxi kam. Der Fahrer roch nach Schnaps, er wurde durch Meiler in einer Geburtstagsfeier gestört. Die kleine Stadt schläft. Es schläft auch das Licht. Die Bürger liegen mit ihren Frauen in warmen Betten. Durch die Gassen schneidet der Ost. Da und dort ein Fensterlicht, blank oder hinter Gardinen. Ein krankes Kind? Ein Sterbender? Eine Liebesstunde? Wer weiß!
An der Bunkerstation lag das Schiff. Eine Eisburg. Decklast: Holz. Begossen und emailliert. Glasur des Winters. Eine gefährliche Glasur. Todesschlitten. Auf- und Niedergänge, Relinge, Verschanzungen trugen Eisbärte. Wanten, Antennen, Stagen, Drähte, Tampen, Reeps und Festmacher waren in Eis gepackt, als hätte man sie durch Zuckerguss gezogen. Gleißende, brennende Augen der Bogenlampen. Unheimlich glitzernde, funkelnde Eisburg Schiff. Von der Bunkerstation zum Schiff windet sich durch die Schneewatte eine tiefschwarze Schlauchschlange, eben atmend. Die Eisburg säuft das kalte Blut der Schlange. Vermummte Männer an Deck, fast in Lumpen, über Eisglasspiegel balancierend. Flüche, Geschimpfe. Arschloch. Idiot. Blödmann. Albernes Gelächter. Eine vereiste Leiter sprosst sich an Deck. Die Koffer schaffen es und sind jetzt in einer angemessen Umgebung, passen nun wie ein Maßanzug. Das Schiff frisst Meiler. Der Bierhahn war nur eine Attrappe. Das ganze Leben ist eine Attrappe. Das Schiff, das Holz, das Eis, alles ist nur Attrappe. Alles ist morgen tot, ist morgen nicht mehr. Alles stirbt, ist immer am Sterben. Alles Geborene, Gewordene, Bestehende stirbt schon bei seiner Entstehung... ist Attrappe. Nur die Menschen meinen, sie seien keine Attrappen, keine Schaupackungen. In der Winternacht verschwand das rote Schlusslicht des Taxis, und ihn fraß ein Schiff mit Koffern, mit seinem ganzen Besitz. Meiler wurde von Augenpaaren scharf und hart und schnell gemustert, von Vermummten in Pelz und Pudelmützen, von Gestalten in Lumpen und Latschen. Leise und dünn fragte Meiler, wo wohl der Kapitän anzutreffen sei. Im Salon, wurde ihm geantwortet. Stets schüchtern fragen, niemals aufdringlich, arrogant, anfeindend. Sich selbst ein bisschen schwächlich machen, verkleinern, verleitet den anderen dazu, zu fühlen oder als bereitwilliger Helfer aufzutreten, wenn nicht sogar Mitleid zu empfinden. Im Salon gern etwas forscher auftreten, damit reiht man sich selbst gleich ein. Oh, auf Schiffen kannte Meiler sich aus, da machte ihm niemand etwas vor, das ist anders als an Land oder im Fernzug, ganz bestimmt. Die Tür vom Salon stand auf. In einem Stuhl hing lederjackig und breitschulterig ein Wasserschutzpolizist. Wichtig schrieb der Maklerclerk in seinen Papieren, und der dritte, das war der Kapitän. Meiler klopfte an die offene Tür und trat gleich ein. „Mein Name ist Meiler, Meiler Melchior, ich bin der neue Dritte Ingenieur.“ Der Kapitän stand auf und gab Meiler schnell und hastig die Hand, sagte lispelnd und leise seinen Namen, Rischer oder so ähnlich. Mein Gott, dachte Meiler, ist das eine nervöse Nudel, der Alte. Seine Augen flatterten und flogen wie Kolibriflügel. Die Hände zitterten, wie die eines Berufsonanisten, als der Alte Meilers Seefahrtsbuch entgegennahm. Die üblichen Fragen lispelnd, belanglose Bemerkungen machend: Funker schläft schon! Funker schläft viel! Sprungfederhaft hopste ein Kanarienvogel in seinem Käfig auf und ab. Der Lispeler wandte sich von Meiler ab. Holzauf, holzab hopste der Vogel und piepste. „Ja, mein Murki, jaja... ßoviel Aufregung für dich... gehst gleich ßlafen, nicht? Nicht, mein Murki? Sind ßuviele Menschen hier, nicht, mein Murki? Ja, ja!“ Meiler kam es vor, als bedaure der Alte sich selbst. „Schönes Tier!“ sagte der Polizist und spekulierte auf den nächsten Schnaps. „Ja, ein schöner Vogel“, meinte der Clerk, „singt er auch?“ Der Clerk musste ja auch was sagen. „Und wie!“ sagte der Alte. „Nicht, mein Murki, nicht, du ßingst doch ßön, nicht?“ Scheiß auf deinen Murki, dachte Meiler, sag mir lieber, wie das nun weitergeht. Von Murki zu Meiler. „Melden Szie ßich beim Ersten Ingenieur, er wohnt ein Deck tiefer.“ Erster Ingenieur, wie sich das anhört. Wer schimpft sich bei der Seefahrt nicht alles Ingenieur? Oberhalb der Kammertür sind wohl kleine Schildchen angebracht, beschriftet: I. Ing., II. Ing., III. und IV. Ing. Das steht da wohl, aber sind es auch Ingenieure, die in diesen Kammern wohnen? Selten genug, meistens sind es Seemaschinisten. Das hat der Reeder geschickt gemacht und dabei gut spekuliert, denn welcher Schlossergeselle mit ein oder zwei Semestern Technikumausbildung lässt sich nicht gern als Ingenieur bezeichnen? Gib den Menschen einen Titel und dafür weniger Gehalt.