Hein Bruns: In Bilgen, Bars und Betten

- -
- 100%
- +
So, immer dem Geräusch und dem Geruch der Maschine nach, arbeitete sich Meiler mit einem Koffer den steilen Niedergang zum nächsten Deck hinunter. Dort lagen die Ingenieurskammern. Weiß Gott, möglichst kurze Wegstrecke von der Kammer zur Arbeitsstätte, zum Maschinenraum. Das ist auch ein Prinzip. Am liebsten würden die Reeder ja doch sehen, dass das Maschinen-Personal seine Kojen im Maschinenraum aufschlagen würde. Es ist ja auch jammerschade um den vergeudeten Raum für Wohnzwecke, wie gut könnte man noch den Laderaum vergrößern und somit mehr Ladung mitnehmen. Wie würde sich doch der Profit steigern. Motorengeräusche. Dumpfe Wärme. Stickige, verbrauchte Luft kroch durch den Betriebsgang, den Meiler ging, um zur Kammer des „Ersten“ zu gelangen. Die Wände waren verdreckt wie öffentliche Bedürfnisanstalten. Licht, so müde wie Kinderaugen. Meiler meldete sich beim Ersten Ingenieur, an Bord Chief genannt. Vor ihm stand ein kleines mickeriges Männchen, Meiler überragte es um einen Kopf. Hängeschultrig, hornbebrillt. Seine starken Augenbrauen tanzten über den dicken Brillengläsern einen Boogie, und die Hände spielten fingerig mit einem verschmierten Putzlappen. Meiler stand groß und breit in der Tür. „Ihre Kammer ist drüben auf der Backbordseite. Ziehen sie sich man gleich um, Sie müssen gleich auf Wache, der Zweite Ingenieur ist besoffen!“ Er sagte tatsächlich Zweiter Ingenieur. Nette Aussichten für Meiler, gleich Wache zu gehen, also mit dem Schlafen schon Scheiße. Ja, klein war der Chief, so klein. Klein geworden durch den Maschinenlärm. Kleingemacht durch die Aufregungen und die Arbeit. Kleingehalten durch die vitaminarme Kost. Konserven. Konserven... Futterkartoffeln abzugeben, an Mästereien und Reedereien. Für Schiffsgebrauch noch gut genug. Kleingehalten durch den Kapitän: ...dann muss ich das der Reederei berichten… Kleingehalten durch die Reedereischreiben: ...uns ist es unverständlich, dass Sie... und so weiter. Besonders klein gehalten durch die Drohungen der Handlanger des Reeders: ... und wenn es Ihr Gesundheitszustand nicht zulässt, dann tut es uns leid, dann müssen Sie… und so weiter. Klein wird er immer bleiben, der Chief. Und nach seiner Pensionierung noch kleiner werden, soweit ihm die Reederei einen kleinen Zuschuss zu seiner Rente gibt. So wird er weiter kriechen bis zu seinem Ende vor dem Reeder und seinen Handlangern. Weiterkriechen, bis er ganz klein in seiner Holzkiste liegt. Ein Beileidsschreiben an die Witwe, und der Zuschuss hört auf. Nach seiner Pensionierung werden ihm die Angst und der Respekt vor dem Reeder und seinen Handlangern bis an sein Lebensende in den Knochen liegen. Er wird immer vor den Handlangern und von den Handlangern in devoter Unterwürfigkeit sprechen. Er weiß auch, dass der Stift, der Lehrling im Reedereikontor, einen längeren Arm hat als er. Was hat der Chief von seinem Leben, insbesondere von seiner Familie eigentlich gehabt? Nichts. Aber er hat des Reeders Besitz vermehrt… und dass der Reeder mehr Schiffe bauen konnte. Er hat auf sein Familienleben verzichten müssen, er sah seine Kinder kaum, denn in einem Hafen, wo die Maschinenreparaturen anfallen, Besprechungen mit den Inspektoren nötig sind, hat er Bestellungen von Gasöl und Schmieröl, von Ersatzteilen, Werkzeugen, Farben, Pinseln und was so eine Maschinenanlage alles an Kleinkram für eine Reise benötigt, aufzugeben und in Empfang zu nehmen. Zumindest aber dafür verantwortlich zu zeichnen. Denn er soll damit fahren, er soll damit arbeiten, und ihn fasst man ans Maul, wenn draußen auf See oder in einem überseeischen Hafen etwas fehlt oder vergessen wurde und teuer eingekauft werden muss... uns ist es unverständlich... Und seine Frau sitzt in der Kammer und sieht ihren Mann nur zu den Mahlzeiten, manchmal auch dann nicht mal. Und sie liest und handarbeitet und macht sich Sorgen um die Kinder, die vielleicht bei einer Nachbarin untergebracht sind. Sie liest und handarbeitet, und das macht sie unter anderem zu Hause auch. Aber hier hat sie doch ihren Mann: Hat sie ihn? Ja, sie hat ihn, er ist gar nicht so weit von ihr entfernt, ach was, so weit wirklich nicht... nur unten in der Maschine kraucht er herum, verschmiert und verschwitzt und verärgert. Und setzt er sich einmal ein paar Minuten zu ihr, dann wird auch sie ihre Sorgen nicht los, denn er hört gar nicht zu. Kann sich einfach nicht in ihre Gedankengänge hineinfinden, tritt nicht in ihren Kreis. Hat nur seinen Kreis, das Schiff und die Maschinenanlage. Hat seine Besprechungen mit Werftingenieuren und Bunkerfritzen, mit Inspektoren oder sonstigen Heinis... und die Frau sitzt dabei und liest oder handarbeitet und wünscht jeden Türenklopfer und Besprecher zum Teufel. Und kommt der Abend... Herrgott, ist das ein Abend... wunderschöner Abend. Nun sollte ja eigentlich das Eheleben beginnen, so ist es doch wohl, nicht? Aber wie kläglich sieht das aus, wie traurig. Dann raffen sie sich zu einem hysterischen Geschlechtsakt auf, ohne Freude, ohne seelische und manchmal sogar ohne besondere körperliche Vorbereitung. Müde und abgespannt fällt er dann in die Kissen zurück und schläft, und die Frau liegt wach. Hellwach. Ach ja, das wollte ich ihm auch noch sagen, mit dem Ältesten, das geht nicht mehr, der wird so frech, und die Zensuren in der Schule lassen nach. Da müsste doch was unternommen werden. Aber was unternehmen, was? Und das wollte die Frau auch noch sagen, dass es mit der Kleinen gesundheitlich gar nicht mehr geht, dass sie sich fortwährend erbricht und über Schmerzen im Rücken klagt und dass kein Arzt weiß, was es ist, aber sie beobachten oder sie zur weiteren Beobachtung in eine Kinderklinik überweisen will. Dass es Oma auch nicht gut geht und dass sie wohl nicht mehr lange mitmacht und dass die Frau sie pflegen muss. All das wollte die Frau noch sagen. Ach, das kann ich ihm auch morgen sagen und fällt dann in einen unruhigen Schlaf. Wird wieder aufgescheucht durch Gegröle und Gesinge und Weiberkreischen, und durch die Gänge geht eine wilde Jagd, werden schweinische Witze gerissen. Die Mannschaft oder sonst wer kommt von Land zurück und hat sich Dockschwalben und Schluckeulen und Pissnelken auf die Hörner geladen... vielleicht auch in drei Tagen einen Tripper. Ja, das kann ich ihm alles morgen sagen, morgen ist es dann wohl etwas ruhiger. Denkste. Morgen ist es genauso. Morgen ist es nicht ein Tüttelchen anders. Gewiss, da unten in der Maschine läuft das jetzt, die Hilfsdiesel und die Arbeit, aber dann kommt was anderes. Kommt ein Ingenieurassistent und möchte einen freien Tag. Kaum ist der aus der Tür, will ein anderer abmustern. Bei dem oder dem Reiniger stimmen die Überstunden nicht, der andere will zum Arzt. So ist das ein Klopfen und Kommen und Gehen und Klopfen. Was wollte die Frau nicht noch alles sagen? Vieles, vieles wollte sie sagen. Aber was sagt sie denn? Nichts! Nichts sagt sie, jedenfalls nichts zu Ende. Ja, Meiler weiß das alles, kennt den Laden und auch die Leute. Aber scheißegal, hier ist es wenigstens warm, und hier ist es nicht vornehm, hier kann man auch getrost mit einer Zeitung rascheln. Hier gibt es keine Bügelfalten und keine schweinsledernen Koffer. Hier müssen die Sinne wach und die Nerven gespannt sein. Hier kommt man nicht zum Denken, vorläufig jedenfalls nicht, über das einsame Mädchen auf dem Bahnsteig. Los, los, ran, und stell dich nicht so an, du kennst den Laden doch, bist doch kein Seekalb. Tu doch nicht so, als wäre es auf anderen Schiffen anders. Ein Kanarienvogelkapitän, ein gnomiger, kleingemachter und klein gehaltener Chief können dich noch lange nicht aus den Latschen kippen. Hoh, hoh. Ja, ja... aber wenn das Mädchen auf dem Bahnsteig nicht wäre. Ach, geht auch vorbei, legt sich alles, lass nur erst einige Tage vergehen, gewöhne dich man erst mal ein, sollst sehen... wird alles seinen Gang gehen. Kannst dich nur nicht vom süßen Leben an Land trennen, von warmen Betten und weichen Brüsten. Legt sich alles, verlass dich drauf. In der Matrosenmesse, an der er vorbei musste, stand das Lied vom Mädchen fürs Geld genauso fest wie der Rauch und der Schnapsdunst. Des Reeders Leibeigene feiern. Und sie dürfen feiern und sie können es auch. Der Schnaps ist billig, und Schnaps bekommen sie, Schnaps betäubt und trübt die Sinne. Denn der Seemann darf nicht denken, sonst könnte er vielleicht den hellen Gedanken haben, doch lieber an Land zu bleiben. Bis zu seiner Kammer nahm Melchior Meiler noch eine Hürde.
Backbordgang standen drei lederjackige Wasserschutzpolizisten vor der verschlossenen Kammertür des Kochs und forderten, der Koch solle die Tür öffnen. Spitz und grell schrie ein Kind. Zeterte eine Frau. Fluchte ein Mann. Zersplitterte die Füllung einer Tür... Polizeistiefel sind benagelt. Bierflaschen rollten, liefen schäumend leer. Schlachtermesser scheppern an Deck. Faustschläge. Schreie. Der Koch wurde verhaftet. Schreie, Faustschläge. Das Kind in der Koje. Die Frau mit offenen Haaren und Bluse. Eine junge Frau. Du Schwein. Du Hund. Knips machte die stählerne „Acht“, einfach knips, hässlich knips und ab. Jetzt brauchte der Koch für sich und seine Familie vorerst nicht zu sorgen. Er schrie nach seiner Frau, nach seinem Kind. Trat, schimpfte, fluchte, spuckte. Die Frau gebärdete sich wie eine Furie. Die Frau lag eine Stunde später mit einem Matrosen im Bett und machte eine Nummer. Das Kind spielte auf dem Sofa. Es war mal wieder ganz nett bei der christlichen Seefahrt. Die nächste Hürde. So schnell frisst ein Schiff nun auch nicht. III. Ingenieur. Das kleine weiße Kunststoffschild oberhalb der nächsten Kammertür, das mit den schwarzen Buchstaben III. Ingenieur, bat Meiler, doch hier einzutreten. Deckenlampe. Weißes Licht. Ein Tisch und auf durchgefettetem Zeitungspapier ein zerfetzter Bückling. Kopf halbiert, die Kiemen wie verrostete Zahnräder. Boulevardzeitungsruf: Kugel im Kopf und nichts gemerkt. Sofa, in die Ecke gehauen, gelbinselig gefleckt. Zwei Bullaugen. Blind. Grünspan. Matratzen auf der Koje boten Seegras feil. Waschbecken vollgekotzt. Bücklingsreste, einmal runter, einmal rauf und raus. Zwei Wasserhähne, für Kalt- und Warmwasser, ausgerichtet wie zwei preußische Grenadiere. Welcher Komfort. Unter dem Tisch ein Mann. Hose und Träger. Perlonhemd. Der Mann schlief und war besoffen. Und draußen, außerhalb des Raumes, oberhalb der Tür ein kleines Kunststoffschild mit schwarzen Buchstaben: III. Ingenieur. Die Matrosen sangen: „Denn es kann ja nichts Schöneres geben, als in Hamburg ein Mädchen fürs Geld.“ Eine „Kugel“ rollte sich in die Kammer, eine „Kugel“ in einem verdreckten Overall, sie wurde von Meilers Koffer gestoppt. „Wer sind Sie denn? ... Ach so... Sie... Sie sind der neue Dritte, nich? ... Ich... sehen Sie mich an, ... ich bin der Zweite Ingenieur hier... oder haben Sie was dagegen?“ „Nö“, sagte Meiler, „aber es kommt drauf an und kann noch kommen.“ „So?... Das sehen wir dann schon... aber erst sehn Sie man zu, dass Sie den da hochkriegen... der muss von Bord… kann ja nix vertragen… das Arschloch. Ach, lass man, mach ich!“ Fußtritte halfen, dass das Bündel sich an Tischkante und Zeitung hochhantelte. Das Bündel lehnte sich an die Kugel und den Tisch, sie rissen die Zeitung mit dem Bückling zu Boden, sie küssten sich, sie zertraten und zerstampften den Bückling. Nun war Melchior Meiler vom Schiff verschlungen.
Draußen knisterte eine Winternacht. Fuhr ein Taxi zurück. Schlief eine Stadt. Glänzte, schimmerte wohl noch ein Licht. Zuckten Sterne am Winterhimmel. Trugen Fernzüge die Nacht in den Morgen. Weit, weit über zwei Fernbahnhöfe hinaus auf langen stählernen, eisigen Schienen entlang, lebt ein Mädchen - sein Mädchen.
Kapitel 3
Monsieur Vignaud war beliebt oder besser gesagt, er wurde beliebt, oder noch besser gesagt, er machte sich beliebt. Denn … Monsieur Vignaud trug in das kleine Dorf Walkenrode seine ihm angeborene französische Liebenswürdigkeit. Außerdem konnte Monsieur Vignaud sich benehmen, was man von den Bauern und Tagelöhnern des Dorfes beileibe nicht behaupten kann. Jawohl, Monsieur Vignaud konnte sich benehmen und konnte auch mit den Bauern und manchmal auch mit den Tagelöhnern saufen. Saufen konnte er... und sein Junge war dunkelhäutig, dunkelhaarig und dunkeläugig. Im Dorf nur das Franzosenkind genannt. Der Bauer Josef Würdemann, der seiner Tochter Grete den Schritt, den Fehlschritt nicht verzieh, bis zu seinem Tode nicht, liebte aber den Franzosenbankert, nur, dass er es in der Öffentlichkeit nicht zeigte. Und auf seinem Totenbette (Monsieur Vignaud war längst zu seines Königs Fahnen geeilt), setzte der alte Würdemann den Franzosenbankert Ferdinand Vignaud als Erben ein. So kamen die Vignauds zu einem Hof, zu Acker, zu Wiesen und Wald. Die LPG, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, hatte später ihre helle Freude daran. Aber soweit ist das noch nicht. Im Fuchsloch stand der Hochwald, tannig und hoch, und vor ihm wellte sich ein Kirschgarten, alles Besitz des Bauern Josef Würdemann. Unter den blühenden Kirschbäumen wurde das zweite Kind gezeugt, das aber bei der Geburt starb. Mit Leidenschaft ergriff Monsieur von Grete Würdemann Besitz, und Monsieur Vignaud war leidenschaftlich und riss das Weib mit. Nie mehr hat Madame Vignaud, geborene Würdemann, nachdem Monsieur Vignaud wieder zu seines Königs Fahnen geeilt war, einen Mann ins Bett genommen. Nie mehr! Denn die Liebe und Leidenschaft des Monsieurs Vignaud konnte im Dorf keiner aufbringen. Madame Vignaud, geborene Grete Würdemann, hat nie darüber gesprochen, wie Monsieur Vignaud liebte, aber das hat sie gesagt, dass Monsieur Vignaud sie vor jedem Beischlaf erst mit Worten betörte, sie mit heißen Liebesworten bereitmachte, ihr Komplimente ins Ohr flüsterte. Auch hat sie erzählt, und das durfte sie ja auch, dass er roten Mohn und Feldblumen ins Schlafzimmer stellte, oder Apfelzweige, Kastanien oder zur Winterzeit Tannengrün. Und das hat sie auch noch gesagt, dass im Schlafzimmer stets eine Kerze brannte, wenn sie sich liebten… und Monsieur Vignaud liebte oft und liebte gut. Monsieur Vignaud liebte auch nie im Bett, sondern auf dem Bett. Und Grete Vignaud lächelte, wenn sie so erzählte, aber wie er geliebt hat, das hat sie nie verraten. Später, viel später, gut einhundertfünfzig Jahre später; die Ururenkelin Mira Vignaud war freier, offener und nicht nur in den Gesprächen.
Der Ostwind pfiff über die Hänge und Hügel des Südharzes, trieb den Schnee über die Wipfel und Tannen und drückte ihn auch gegen und in die braune Rinde der Bäume. Verhedderte ihn im knorrigen Unterholz. Waldwege, von Menschen ausgetreten, von Waldarbeitern und Bauern, Holzfällern und Kirchgängern, waren jetzt verschneit und eingeebnet. Der Ost heulte und krakeelte in den Lüften und den Baumkronen. Die kahlästigen Kirschbäume, die jeder Frühling zu jungen Mädchen macht und dem Fuchsloch den jungfräulichen Duft gibt, spreizten ihre kahlen Zweige wie die Arme und Beine alter Weiber. Das Dorf Walkenrode schlief im kalten Schneebett. In den Stuben und Ställen und Scheunen brütete die Wärme. In den Stuben brannten die Öfen. In den Ställen heizte das Vieh. Und in den Scheunen tat es die gespeicherte Wärme des Sommers in Heu und Stroh. Es war zur Futterzeit. Der Abend glitzerte im Sternen- wie auch im Schneegefunkel. Eine zerlumpte und zerfledderte Gestalt schleppte und schlurfte sich mühsam und keuchend durch Wald, Schnee und Kälte dem Dorfe Walkenrode zu. Lichter im Dorf flackerten, und in den Ställen huschten, haschten und zuckten Lichter. Es war zur Futterzeit. Auch von den Ställen zu den Scheunen und auch von den Scheunen zu den Ställen huschten Lichter. Das Vieh brüllte. Ein Hund heulte, und ein paar Krähen zogen krächzend und mit hartem Flügelschlag über das verschneite Land. Näher kam der Mann dem Dorfe. Im Mondlicht sah man große schwarze Augen und die kümmerlichen Reste einer Montur. Im Pulverschnee hinterließen die mit Lumpen bewickelten Füße Schleifspuren, die aber der Ost sofort wieder verwischte. Jetzt erreichte der Mann die kleine Brücke, die sich über den starren eingefrorenen Bach spannte, und er stützte sich, Luft holend, aufs Brückengeländer. Alte verhutzelte Weiden standen veteranenhaft am Bach, wie Wachsoldaten, junge Apfelbäume bildeten den Vortrupp. An der Brücke, direkt am ersten Holzpfeiler, stand alt und knorrig, allein und einsam ein Weidenbaum. Das ist wohl der älteste Dorfsoldat, dachte Monsieur Vignaud. Monsieur Vignaud, ein Offizier der geschlagenen napoleonischen Armee, dachte nur in soldatischen und militärischen Begriffen. Wie konnte er auch anders denken? Er war dem Korsen auf all seinen Feldzügen gefolgt, in die Gluthitze der Wüste, stand mit ihm am Ebro, am Tejo, an der Maas und Elbe und erlebte an der Beresina in arktischer Kälte den Zusammenbruch der Großen Armee. Sah und erlebte Aufstieg, Siege, Triumphe des großen Kaisers sowie auch seinen Fall und seine Niederlage in der Eiswüste Russlands. Das waren Jahre des blutigen Handwerks. Nun aber war Napoleon geschlagen und auf der Flucht. So war auch Monsieur Vignaud geschlagen und auf der Flucht, passierte jetzt, zerlumpt, verhungert, verdreckt und fast verloren die Brücke über den Bach, passierte den alten Weidewachsoldaten, der vor diesem Strolch und Vagabunden keine Ehrenbezeigung machte, und schlurfte auf das Licht des Stalles zu. Grete Würdemann erschrak fast bis zu Tode, als in der Tür ein Mann stand, der sich mühsam aufrecht hielt. Grete Würdemann sah, dass der Mann am Ende seiner Kräfte war und Hilfe brauchte. Sie zog ihn herein und gab ihm kuhwarme Milch, bettete ihn ins Heu und deckte ihn zu, deckte ihn zu mit Heu und Stroh. Hielt ihn versteckt, und das war gut. Später deckte er sie zu, und das war auch gut und ergab ein Kind. Und der Korse saß auf der Insel Elba. Die Dorfbewohner mochten den drahtigen und liebenswürdigen und arbeitsamen Franzosen und rieten ihm, doch die Grete Würdemann zu ehelichen, da dieses wohl auch dazu beitragen würde, um den alten Würdemann zu versöhnen und um dem kleinen Ferdinand einen ehrlichen Namen zu geben. Monsieur Vignaud tat das. Und der Kaiser saß immer noch auf der Insel Elba. Der Kaiser saß bis zum zweiten Kind, der Totgeburt, auf der Insel Elba. Die Kunde kam: Napoleon entflohen. Napoleon gelandet! Napoleon sammelt seine Armee! Napoleon kämpft! Monsieur Vignaud entfloh bei Nacht aus Walkenrode, gesund, kräftig und eingekleidet. Monsieur Vignaud kämpft wieder unter den Fahnen seines Kaisers. Monsieur Vignaud ist wieder Offizier der glorreichen französischen Armee. Madame Vignaud, geborene Würdemann und den Sohn Ferdinand ließ er zurück, und niemals mehr haben beide wieder von ihm gehört.
Kapitel 4
Alle Straßen führen zum Westen, alle Straßen, die aus dem Osten kommen. Aber alle Straßen, die aus dem Osten kommen, enden im Osten, enden am Schlagbaum der Demarkationslinie in der DDR. Vom Schlagbaum westlich führend sind die Straßen grün, solange sie durchs Niemandsland führen und bis sie wieder auf einen Schlagbaum treffen. Unkrautig verwuchert. Grün wie ein Rasen, ein ungepflegter. Wem dieser „Rasen“ wohl gehört? Alle Straßen, die vom zweiten Schlagbaum aus weiterführen, enden im Westen, irgendwo im Westen, oder an der Atlantikküste. Der Blutstrom der Straße ist aber unterbrochen durch den Rasen, durch das Niemandsland, und darum sind die Straßen krank, die im Osten und auch die im Westen. Die Straßen im Osten sind holperig und verdrückt und gedrückt. Die Straßen im Westen aber sind glatt, aalig, sauber, flüssig und gängig... und trotzdem sind die Straßen krank. Sie hockten zusammen im Schwesternzimmer eines Krankenhauses in der DDR. Lauthämmern eines Radios. Kein Westsender. DDR-Sender und laut, sollte ja auch gehört werden, dass man eben nebenan nichts hört, nebenan in der nächsten „Zelle“. Sie hocken zusammen, Mira Vignaud, ein netter junger Mann und zwei Jungärzte. F 6 rauchten sie, eine DDR-Filterzigarette, die einzige überhaupt, na ja, immerhin, es war doch eine Filterzigarette. Rauchten und steckten die Köpfe zusammen und sprachen miteinander und gingen dann auseinander. Gaben sich die Hand und versprachen sich, nächstens wieder so einen netten Abend zu verleben. Denn der Abend war nett, man hatte sich doch gut und angeregt unterhalten, F 6 geraucht und auch ein Gläschen Wein getrunken.
Durch die Nacht rollte und ratterte auf volkseigenem Pflaster ein Lkw, ein schwerer Lkw mit einem zweiachsigen Hänger. Rollte über die holperige Straße und rollte und rollte. „Verflucht!“ sagte der Fahrer, ein netter junger Mann, „wir haben uns verfahren!“ Der Beifahrer sagte nichts. „Wir müssen irgendwo wenden, verdammte Scheiße!“ Nun wende mal, kein Platz, nur lange, leere, dunkle Straße. Also weiter, müssen weiter, bis sich eine Gelegenheit und Platz findet. Und weiter, an blühenden Obstbäumen vorüber, über holperige Straßen und unter einem sternenlosen Himmel rollte der Lkw mit einem zweiachsigen Hänger, einem fluchenden Fahrer und einem schweigsamen Beifahrer. Und die Straße rollte ihnen entgegen. Die gelben Fächer der Lichtwerfer rissen die Nacht nur kurz auf, dann war es wieder die Dunkelheit, die ihre Herrschaft behauptete. Der Beifahrer sagte nichts. „Verdammt noch mal, wir müssen irgendwo wenden!“ Vorne sahen sie Licht! „Da!“ sagte der Fahrer, „da vorne, siehst du das?“ Der Beifahrer nickte nur.
An der Straße rechts stand eine kleine Holzbaracke, und der Vorhof lag im hellen Licht. Wichtig und stiefelig näherte sich ein Vopo der Straße und dem anrollenden und ausrollenden Lkw. Auch die Straße lag im hellen Licht und auch der Schlagbaum. Aus dem Fenster der Baracke quäkte Tanzmusik. Man sah den Unteroffizier am Schreibtisch sitzen. Der Schlagbaum, rotweiß geringelt, vergewaltigte die Straße. Schlagbäume haben es in sich und an sich, sie sind unsichtbare Mauern. Schlagbäume halten wohl keine Streitmacht auf, aber Schlagbäume halten einzelne auf und auch Leute ohne einwandfreie Papiere, ohne Pässe oder Ausweise. Das können Schlagbäume gut, solche Leute aufhalten. Schlagbäume haben die gleichen Gewohnheiten wie Schranken. Schlagbäume kann man zerschlagen, zersägen, verbrennen, wegfegen oder mit einem Lkw durchbrechen. Aber das können eben nur eine Masse Menschen, ein einzelner kann das nicht, er spielt mit seinem Leben. Und ein einzelner Lkw kann das auch nicht, Fahrer und Beifahrer spielen auch mit ihrem Leben. Und mit dem Leben soll man nicht spielen. So ist das nun mal mit Schlagbäumen! Aus dem Fenster des Lkws lehnte sich der Fahrer und ruft dem Vopo, dem Grenzsoldaten zu, dass er sich verfahren hätte und ob er hier wohl wenden könne. Verflucht noch mal, er wolle doch und müsse doch auch weiter, er habe verderbliche Ware auf dem Wagen und müsse morgen früh in Leipzig sein, bei der HO müsse er sein. Und ob er ihm nicht helfen könne, er und der Unteroffizier, den Hänger abzukoppeln, und dann könne er ja selbst mit dem Motorfahrzeug wenden. Der Unteroffizier lehnte aus dem Barackenfenster und lachte. Unteroffiziere lachen immer, wenn sie keine Untergebenen vor sich haben, das ist in allen Armeen der Welt so, nicht nur in der DDR... und Unteroffiziere sind auch Menschen. Aber arbeiten tun Unteroffiziere nicht gern, sonst wären sie keine Unteroffiziere geworden, das ist auch in allen Armeen der Welt so. Arbeiten tun sie nicht, auch in der DDR nicht, das war bei den alten Preußen schon so. Unteroffiziere aber wissen sich zu helfen, und dieser Vopounteroffizier wusste es auch und rief dem Posten zu: „Mach doch mal eben den Schlagbaum auf, da vorne ist doch Platz genug, da kommt gleich eine Wiese und da hat die Straße auch keine Bäume. Da kannste gut wenden. Kostet aber ‘ne Kleinigkeit. Was haste denn geladen, Genosse?“ „Frischgemüse und auch Schnaps. Kannst nachher ‘ne Flasche kriegen!“ „Na, denn fahr man los!“ Der Schlagbaum wies in den Nachthimmel. Schlagbäume sind gefügig, wenn ein Unteroffizier Order gibt. Schlagbäume sind keine Widerständler, wenn ein Unteroffizier Order gibt. Schlagbäume sind gute, treue Untergebene, aber ein Unteroffizier muss die Order geben. Nur verwunderte es den Posten, dass die Schlusslichter des Lkws nicht brannten. Muss ich ihm nachher sagen. Die Nacht war blütenduftig und still und dunkel. Zwei Lichtaugen näherten sich dem Wachhaus, zwei Lichtaugen, aus dem Osten brennend, in den Westen starrend. Ein Wartburg. Zwei Männer. Gestapogesichter. Staatssicherheitsdienst. „Ist hier eben ein Lkw durchgefahren?“ so fragte eine schneidende Stimme. „Ja, eben, der kommt gleich zurück, der wendet nur!“ „Quatsch, der wendet nicht... der wendet der DDR den Rücken... so, meine Herren, sieht das aus. Aber darüber sprechen wir gleich!“ Der Lkw ist noch einzuholen, der Schlagbaum stand noch auf, und der Wartburg preschte davon. Komisch, und auch dessen Schlusslichter brannten nicht. Es brannten überhaupt keine Schlusslichter mehr. Schluss mit Schlusslichtern. In der Sommernacht verwehte und verstäubte Motorengeräusch und Räderrollen. Für den Lkw mit zweiachsigem Hänger und für einen Wartburg mit Männern, die Gestapogesichter haben, führte die Straße aus dem Osten in den Westen. Und der Beifahrer konnte wieder sprechen, und unter seiner Mütze quollen lange, nachtschwarze Haare hervor, und ein Lachen warf sich in die Nacht, ein freies Lachen. Frei! Frei! So kam Mira Vignaud in den Westen.