Hein Bruns: In Bilgen, Bars und Betten

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Kapitel 5
Und Meilers Gedanken gingen zurück, liefen zu Mira, in ihren „Käfig“. Ihren freiwilligen „Käfig“. Als sie damals ins Zimmer trat, schön und schlank und selbstsicher, wurde er schon erregt. Meiler wurde stets erregt, wenn er sie sah und auch, so er an sie dachte. Aber ist das etwas Verwerfliches? Sie legte es doch wirklich nicht darauf an, ihn zu reizen, jedenfalls körperlich nicht. Sie trat auf, wie jede Frau heute auftritt, sich bewegt, sich gibt. Ihre Bewegungen unterschieden sich nicht von den Bewegungen anderer Frauen. Sie stand und ging und setzte sich wie andere Frauen auch. Aber warum war Meiler bei anderen Frauen nicht so erregt? Und als sie lachend und im Gespräch mit ihm in ihre langen schwarzen Haare griff, sie mit der Innenfläche ihrer Hand ordnete, oder ob es eine Verlegenheitsgeste oder eine Reflexbewegung war, stieg seine Erregung. Sie stieg vielleicht auch dadurch, dass er für Augenblicke die dunkle Haarfülle unter ihrem Arm sah. Meiler musste sich Zwang anlegen, um ihr nicht die Kleider vom Leibe zu reißen. Miras große dunkle Augen funkelten ihn an, so sie in einem Streitgespräch nicht gleicher Meinung waren, ihm aber kam es auf die Meinung, ob seiner oder Miras, gar nicht so drauf an, er wollte sie besitzen, ganz besitzen. Er wollte sie nackt sehen, er wollte sie weich sehen, er wollte ihre Hingebung sehen, er wollte sie schwach sehen. Verdammt noch mal, dann ist doch das Weib erst Weib, wenn es schwach ist, wenn es sich gibt und ergibt. Trottel sind doch die Männer, die nur ihre Lust befriedigen wollen, ihre Lust. Sie sind zu vergleichen mit Männern, die einen Handwagen ziehen, bergan, und genießen die Lust, dass sie es mit dem Handwagen geschafft haben. Die anderen aber, die fahren in einem Himmelswagen, der dahingleitet und ausgleitet wie ein Schlitten. Das ist der Unterschied. Wie oft war er bei ihr und sie bei ihm, nie ist es soweit gekommen, wie er es wollte oder sie. Ob sie in ihrem Zimmer des Schwesternhauses zu ihrem Schutz die Schwesterntracht trug, weißer Kittel und weißes Häubchen, das war schlecht zu sagen. Jedenfalls aber war es für Melchior Meiler ein Hindernis. Hielt ihn zurück, sie einfach hinzulegen oder umzulegen. Auch wohl eine verrückte und überholte und anerzogene Hemmung. Denn auch in einer Krankenschwesterntracht steckt das Weib, und auch im grauen oder schwarzen Umhang der Nonne steckt das Weib. Unter der weißen, grauen oder schwarzen Tracht oder Kutte lebt das Weib, schaukelt ein Busen, sitzt zwischen den Beinen die Scham mit ihren Haaren. Nein, Meiler kam Mira Vignaud einfach nicht näher, die Küsse, die sie wechselten, waren mehr freundschaftlich (so meinte er), obwohl sie es von seiner Seite eigentlich nicht waren. Gut, richtige Bruder-und-Schwester-Küsse. Heute aber, heute, am Tage oder in der Nacht, sollte es sein, das hatte er sich geschworen. Mira saß auf einem Cocktailsessel vor ihm, ihr enger Rock spannte sich fest um ihre Schenkel. Meiler sah ihre schönen ebenmäßigen Knie und auch viel von den SchenkeIn. Nur gut, dass er eine straff sitzende Unterhose trug, sonst könnte sie sehen, wie erregt er war, und das sollte sie nicht. Sich vorzustellen, dass ihre langen, weißen Hände sein Wollen umfassen und es streicheln, könnte es bald mit seiner Fassung vorbei sein. Und wenn er sich weiter vorstellt, dass er in sie eindringt, und sie ihre nackten Beine um seine Lenden schlägt… nein… nein, nicht mehr weiter denken. Meiler stand auf, trat an ihren Sessel und küsste sie, verlangend, fordernd. Kein Bruder-oder-Schwester-Kuss! Und Meiler fühlte eine Erwiderung. Eine Erwiderung, wie er sie in den Wochen ihrer Bekanntschaft noch nicht erlebt hatte. Ihre Zunge suchte auch die seine und wanderte auf seinen Lippen hin und her und zirkelte auch in seinem Mund. Sein Wollen presste sich gegen ihren Arm, hart und fest, sie musste ihn fühlen, und jetzt sollte sie ihn fühlen. Jetzt sollte sie wissen, wie es um ihn stand. Mira griff in Meilers Nackenhaare und drückte seinen Kopf fest zu sich und biss sich an seinen Lippen fest. Meiler hatte seine Hände frei, griff in ihren Blusenausschnitt und streichelte die linke Brust. Ihre starke, harte Brustwarze konnte er zwischen seinen Fingerkuppen fühlen Plötzlich ließ sie ihn los, ihre Arme hingen schlaff herab, die Augen waren geschlossen, und sie atmete schwer und tief. „Mel... ach, geliebter Mann.., du!“ Das konnte er verstehen. Nun war die Frucht reif. Vollreif. Die Frucht war jetzt bis zur Süße gereift. Die Frucht, die er von der Knospe und Blüte an sah und erlebte, blühen, und reifen sah. Von der Knospe zur Blüte, und von der Blüte zur Frucht, zur jungen und jetzt reifen Frucht. Und diese Frucht war für ihn, er brauchte sie nur zu pflücken, zögerte er noch, würde die Frucht überreif werden und abfallen, und das wollte er nicht. So trug er sie auf die Couch. Langgestreckt lag sie da, die Augen geschlossen. Das Tageslicht des Winters fiel durch die Blattgewächse des Zimmers. Wie Meeresrauschen der Straßenverkehr, gedämpft, dunkel. Mira bewegte sich nicht, als er ihr die Bluse auszog, den Büstenhalter abnahm. Sie bewegte sich nicht, nur ihre Augenlider flatterten ein wenig. Früchte, reife, vollreife. Nun beugte Meiler sich über ihre Brust und streichelte sie, fuhr mit sachten und leisen Händen darüber hin. Küsste den fieberheißen Mund, der nicht mehr küsste, sondern nur noch sog und seinen Speichel trank. Nie vorher hatte er eine Frau gekannt, und er konnte sich über Mangel an Frauenbekanntschaften nicht beklagen, die so küsste wie Mira Vignaud. Und wie eine Frau, so liebt sie auch, denn der Kuss ist der Vorhof der Leidenschaft. Der Kuss ist der Weg, der in die Parkanlagen führt! Und er warf sich stöhnend auf sie, so wie er war, angezogen. Er warf sich stöhnend auf sie, so wie er war, halb angezogen oder halb ausgezogen. Und Meiler drückte sein Geschlecht auf ihr Geschlecht, sein Wollen auf ihr Wollen. Dazwischen waren Unterhose und Hose, dazwischen waren Rock und Seidenhöschen. Weit ab von einem Gewaltakt, weit ab! Es ist doch seltsam, wie weit haben uns doch die Zivilisation und die Religion und das Elternhaus und die Erziehung von der Natur entfernt, wie weit. Was muss man doch alles überbrücken und niederreißen, aufknöpfen, ausziehen, aushaken, aufziehen, bis man so ist, wie man natürlich sein muss oder will - nämlich nackt. Scham? Ist die Scham eigentlich natürlich? Tiere kennen doch auch keine Scham. Ist die Scham anerzogen? Sie müsste doch wohl natürlich sein, denn Meiler dachte an Baströckchen und Lendenschurz und Feigenblatt. Ja, ans Feigenblatt dachte er auch, besonders ans Feigenblatt. Natürlich dachte er ans Feigenblatt, denn wo das saß, darunter, dahin, dahinein wollte er, das war jetzt das Bestreben seines Wollen, seiner Begierde und seiner Sehnsucht. Getan werden musste etwas, aber es war doch schwer für ihn. Schattete noch die Krankenschwester über ihn, sah er doch ihre reine, weiße Tracht und ihre weiße Haube. Hemmte ihn die Erinnerung an ihre Hände, die ihn pflegten, ihn verbanden, ihm die Ente anlegten oder das Sitzbecken unterschoben? Sah er wieder die liebende pflegende Mutter? Deubel noch mal! jetzt hatte sie doch keine weiße Tracht an und trug auch kein weißes Häubchen. Jetzt pflegte sie doch auch nicht, verband ihn nicht, legte ihm keine Ente an und schob kein Sitzbecken unter. Jetzt lag sie doch halbnackt vor ihm, und nur noch der Rock und nur noch das Höschen, dann war der Weg doch frei, frei, um einzudringen in ihr Geschlecht. Dann war es doch soweit! War es dann soweit? Nein, das war auch noch nicht alles, und das war es auch nicht, denn er musste sich auch noch entkleiden. Und das war schlimm und schwer, das war überhaupt das schwerste. Aber sie hat doch die Augen geschlossen und blinzelt auch nicht. Widerstandslos ließ Mira sich den Rock ausziehen, und, das schwarze Seidenhöschen war die letzte Hülle. Er aber zog sich nicht aus, er tat es doch nicht und noch nicht, entledigte sich nur seiner Jacke, knöpfle seine Hose auf, und sein Geschlecht, bis zum äußersten gespannt, suchte sich mühelos seinen Weg und wurde aufgehalten. Melchior Meiler kannte die Krankenschwester Mira Vignaud nicht wieder, sie verleugnete ihr französisches Blut nicht. Mit fast wilder Gier griff sie nach seinem Geschlecht, drückte es schmerzhaft und führte es ein. Warm und nass drang es ein! Miras Augen waren weit geöffnet, und sie stieß kurze abgehackte Schreie aus. Meiler erschien es, als seien ihre Augen noch dunkler, dunkler noch als ein Bergsee, auf den die Schatten des Abends und der großen Tannen lagen. Und als die Erfüllung kam, und sie kam zuerst bei ihr und kurz darauf bei Meiler, stand ein Schrei im Zimmer, ein Schrei, als ob ein Mensch in Todesangst schrie. Mira schlang ihre Beine um die Lenden Meilers, und ihr Körper zuckte wie eine Katze, die man erschlagen hatte. Ihre Nägel gruben sich in sein Rückenfleisch. Diese Nacht blieb sie bei ihm. Sie badeten und liebten sich und badeten und liebten sich wieder. Lagen dann ermattet nebeneinander, und ihre Körper berührten sich, so eng lagen sie nebeneinander.
Sind die Menschen leer und körperlich ausgebrannt, dann huscht die Seele hervor und die Sprache und die schonungslose Offenheit. Sie sagte, dass sie ohne das nicht leben könne, dass sie krank sei, wenn sie das nicht hätte und dass ihr Körper das verlange. Sie müsste einen Mann haben, täglich, nächtlich. Aber warum sie denn bei ihm so lange gewartet hätte, das, alles könnte doch schon vorher gewesen sein. Ja, sein Verlangen wäre wohl nicht so stark gewesen, und es sollte auch nicht ohne Sympathie sein. So wäre es ja nun auch nicht, dass sie mit jedem x-beliebigen Mann ins Bett gehen würde, so nun auch nicht. Sympathie und Zuneigung müssten schon da sein, und so lange könne sie auch warten. Außerdem wolle sie den Mann nicht gleich erschrecken, erschrecken und schockieren mit ihrem Trieb. Das sagte sie auch noch, dass, so er wieder auf See sei, sie auch mit einem anderen Mann schlafen ginge. Er könne aber auch getrost irgendwo in einem ausländischen Hafen mit einer Frau schlafen gehen, das würde sie ihm nicht verübeln. Gleiches Recht für alle, für Mann und Frau. Sollte sein Schiff wieder im Heimathafen liegen, wolle sie für ihn da sein, nur für ihn, und er müsse für sie da sein, nur für sie. „Liebst du mich, Mira?“ „Du, ich weiß wirklich nicht, was Liebe ist, und ob es sie überhaupt gibt, das weiß ich auch nicht. Du bist mir sympathisch, und du erfülltest mich, und das beim ersten Male. Du bist, glaube ich, kein Egoist!“
Kapitel 6
Die Nacht war lang. Die Nacht wurde ruhig. „Das Mädchen fürs Geld“ ging lallend ein. Sie waren am Ende. Zum Teil lagen sie in ihren Arbeitsklamotten auf den Kojen, zum Teil hockten sie, vom Alkohol k. o. geschlagen, in der Matrosenmesse zwischen leeren Flaschen und vollen Aschenbechern. Aber was macht’s? Nichts macht es. Sie können feiern und saufen und singen. Die Schiffsleitung drückt alle Augen zu. Was sollte wohl werden, wenn die gesamte Crew hier das Schiff verlässt, denn im Suff sind sie sich leicht einig. Wo sollte wohl der Reeder so rasch Leute hernehmen? Das Schiff muss fahren, muss fahren. Das Holz muss nach England, nicht damit die Engländer Häuser bauen können, nein, damit die Schillinge für die Fracht in die Säckel der Reeder rollen. Und es muss schnell gehen mit dem Fahren, je eher rollen die Schillinge und je mehr Reisen macht das Schiff. Wenn auch die Crew besoffen ist. Wenn auch der Alte nervös ist und einen Vogel hat. Wenn auch die Augenbrauen vom Chief einen Boogie tanzen - das Schiff muss fahren. Und es fährt. Warum holen eigentlich die Engländer ihr Holz nicht selbst? Fahren wir billiger? Sind unsere Heuern niedriger? Die zeternde Frau, mit der zum Abschied ein Matrose noch rasch eine Nummer gemacht hat, und das Kind sitzen nun wohl im warmen Wartesaal mit der Bierhahnattrappe und warten auf den Morgenzug. Ob die Frau sich wohl die Bluse zugeknöpft hat? Der Koch schlief auf harter Pritsche in einer Polizeizelle und weiß nichts davon. So dicht liegen Freiheit und Zellenheit beieinander. Das Bündel saß in einer Kneipe, und das Schankmädchen entfernte das Bücklingsfett aus dem Perlonhemd. Der Murki hatte seinen Kopf hinter einem Flügel versteckt und der Lispeler sein Gebiss in ein Glas versenkt. Die Augenbrauen des Chiefs tanzten nun einen Schlafwalzer. Die Nacht war ruhig. Auch die Kugel war in die Koje gerollt. Ein Schiff, Motorschiff MISTRAL, schläft. Nur die schwarze Schlange atmet. Nur der Hafendiesel, benötigt für Licht, Heizung und Wasser, tötet tuckernd die Zeit. Weiter streicht die Winternacht mit ihrem frostigen Glasur-Pinsel über die Eisburg Schiff. Im Kontor der Bunkerstation brannte warmes Licht, und das Scheißhaus war eingefroren. Meiler war vom Schiff gefressen, und nun begann die Verdauung. Die Nacht war ruhig.
Die Nacht war ruhig und Meiler allein! Allein war auch der „Assi“ unten im Maschinenraum, allein mit dem tuckernden Diesel, den laufenden Pumpen, dem Ölheizungskessel und mit der gelbfarbigen Hauptmaschine. Meiler war allein mit einem Koffer, einer Matratze, einem Sofa, einer fettigen Zeitung, dem breitgetretenen Bücklingsrest und... mit seinen Gedanken. Alles ordnete er erst einmal. Warf allen Dreck und Mist aus dem Bullauge, wischte mit einem vergessenen, noch nach Arbeit stinkenden Twistlappen, in Unterstützung mit klarem Wasser aus der Leitung, das Fischfett vom Boden auf. Packte seinen Koffer aus (der andere stand ja noch an Deck), legte eine Tischdecke auf. Ein helles freundliches Muster hatte die. Ordnete soweit alles, nur seine Gedanken, die konnte er noch nicht ordnen... Gedanken kann man sowieso im Hafen nicht ordnen, geschweige, so man eben eingestiegen ist. Gedanken ordnet man auf See. Auf langen Seetrips, da kann man seine Gedanken ordnen, sie ausrichten und voreinanderstellen, verschieben, neu verpacken… und dann ist alles gut, so lange gut, bis man wieder in einem Hafen ist oder Post hat. Meiler hob den Kopf. Oben an Deck tapste es, oder im Gang oder in der Kammer über ihm. Nun trappelte es den Niedergang herab, und jetzt trabte es im Gang, Richtung Meilers Kammer. Zögerndes Klopfen. „Herein!“ Eine bemützte „Uniform“ stand in der Tür. „Ich bin der wachhabende Offizier, Linke ist mein Name. Sie sind wohl der neue Dritte von der Maschine, ja?“ Seine etwas grünlichen Augen schielten hin und her, die Mütze hielt er nun in der Hand, und mit der anderen strich er verlegen, fast zärtlich über seine rötlichen Haare, schob eine Locke zurecht, und dann erst gab er Meiler die Hand, die weich, weibisch und schlaff und ohne Druck sich präsentierte. Wie Schleim, dachte Meiler, neugierig darauf, was nun wohl kam. Die „Uniform“ war an sich ein heller Fleck auf diesem Schiff, dem Schiff mit Besoffenen und Grölenden, mit Kanarienvogelkapitän und Augenbrauen-Boogie tanzendem Chief, küssender Kugel und Bücklingsresten. Ja, der Mann schien eine Insel der Hoffnung zu sein. Menschen können überhaupt Hoffnungsinseln und Ankerplätze sein, oder Kaimauern und Duckdalben, ja, das können sie. Und wenn man seine Gedanken noch nicht geordnet hat, mag man wohl so eine helle Insel. Linke war korrekt, für Meilers Begriffe fast zu korrekt gekleidet. Blaue, gut sitzende Litewka mit goldenen Knöpfen, Schulterstücken mit goldenen Litzen. Blaue Hose mit Bügelfalte, fast so wie Meilers Gegenüber im Fernzug. Jedenfalls beste Figur für ein Propagandaplakat, binnenlands aufzuhängen: WERDE SEEMANN, UND DU BIST IMMER GUT ANGEZOGEN! Es fehlte nur noch das „Schwert an seiner Linken“! Der Schleim tropfte noch von Meilers Rechten. Frage: „Haben Sie schon Kojenzeug?“ Melchior verneinte und zeigte auf die kahle Seegrasmatratze. „Ich werde sofort den Steward wecken lassen, der gibt Ihnen Kojenzeug und auch Handtücher!“ Menschenskind, nobel, obernobel, stinknobel, dreimal stinknobel . Oha, lässt den Steward wecken, weckt nicht mal selbst, verdammt. Die etwas grünen Augen der Uniform wurden fester. Ja, wenn der verdammte Schleim nicht wäre. Meiler beurteilte Menschen nach Blick und Händedruck und auch nach Religion und Gewerkschaftszugehörigkeit. Die Uniform gefiel ihm gerade nicht besonders. Er selbst konnte nicht mal einen blanken Eisenbahnerknopf sehen. Aber was willst du eigentlich, der Mann ist doch korrekt, höflich, hilfsbereit und kameradschaftlich. Sieh mal, der sorgt für Bettwäsche und Handtücher und lässt sogar den Steward wecken. Dir kann man es aber auch gar nicht recht machen. „Nehmen Sie doch Platz!“ — „Nein, danke... und außerdem bin ich im Dienst. Ich bin der Zweite Offizier hier an Bord!“ — „So, der Zweite, soso, na ja, aber wo waren Sie denn vorhin, als der Rabatz und der Trubel hier im Gang war?“ fragte Melchior Meiler hinterlistig. „Oh, da darf man sich nicht sehen lassen... davon hat man nur Unannehmlichkeiten. Außerdem hatte ich im Kartenhaus zu tun!“ Aha, im Kartenhaus zu tun, denn man zu. Ja, immer hübsch vorsichtig. Könnte der Karriere schaden. So einer bist du, ja, ja, nur nicht anecken, oben wie unten nicht, kommst immer zurecht. Linke, der Name ist gar nicht mal so schlecht getroffen. Linke. Linke. Mensch, ist das ‘ne Modepuppe. Eine Haarfrisur. Eine Rasur. Ein weißes Hemd und schwarze Krawatte. Ebenholzgewichste Schuhe. Junge, Junge, Meiler, davon kannst du dir aber eine Scheibe abschneiden. Und das morgens um drei Uhr. Aber immerhin doch ‘ne Insel. „Ist das Ihr Koffer, der da oben an Deck steht?“ — „Ja!“ — „Ich lasse ihn gleich nach unten bringen!“ Eine Behandlung hier, wie in einem Erste-Klasse-Hotel. Das tut gut, das ist noch ein Ton. So ist die Seefahrt richtig. Es gibt doch noch prima Kerle. Was willst du eigentlich, Meiler? Wenn... wenn... ja, wenn der backsige Schleim nicht wäre. „Ach, Sie lesen auch?“ fragte Linke und zeigte auf Meilers ausgepackte Bücher. Auch? Was heißt hier auch? Auch heißt doch sicher, dass er auch liest, oder nicht? Meiler konnte es sich nicht verkneifen zu antworten: „O ja, Erbsen, Kammerschilder und Filzläuse!“ Der Schleim wurde zu einer festen Masse, die Augen irrten. Die weiße Mädchenhand legte sich wieder wie Hilfe suchend an die korrekte Haarfrisur, wo wirklich nichts in Ordnung zu bringen war. Verlegen entblößten Lippen Pferdezähne. „Haha... haha!“ — „Hahaha!“ auch Meiler. Die Uniform schob sich rückwärts aus der Tür. Zurück blieb Schleim und ein aufdringlicher Geruch nach Haarpomade.
Lange dauerte es nicht, da klopfte es. Der Steward. Verschlafen, brummig: „Ihre Wäsche!“ Stewards neigen in der Regel nur dazu, den leitenden Angestellten an Bord so etwas wie Respekt entgegenzubringen. Die „anderen“, die sie leider dulden müssen, sind für Stewards nur eine „Belastung“, wären die „anderen“ nicht, gäbe es für sie weniger Arbeit. Zu Fahrgästen, ja, zu denen sind sie natürlich besonders höflich. Auf jeden Fall aber dann, so sie einen Blick in die Reisepässe geworfen haben und nun wissen, welches Geldes Kind Sie vor sich haben. Dann überschlagen sie sich förmlich, flitzen durch die Gänge, dass sich das Linoleum hinter ihnen aufrollt, und setzen ihr so bekanntes Trinkgeldalmosenempfängergesicht auf. Wie sagt man doch bei der christlichen Seefahrt? „Er war Seemann übelster Art, er war Steward, hatte gelbe Finger, stahl Obst und wichste.“
Meiler packte weiter seinen Koffer aus und räumte ein. Bezog seine Koje. Bei den leitenden Angestellten macht das der Steward, müsste er hier auch. Tut er nicht, hat er nicht mehr nötig. Ist „Knapp“ und Schützling des Kapitäns! Es klopft wieder. Ein zerknittertes, altes Matrosengesicht: „Ich bin der ‚Alte Fritz‘ hier, ich bringe Ihren Koffer!“ — „Schön, Alter Fritz, lass dir vom Steward ‘ne Flasche Bier geben, er ist ja noch auf, denke ich.“ — „Danke, Meister, und gute Wache!“
Kapitel 7
So, nun war alles soweit, und eingeordnet, eingeräumt, an seinen Platz gelegt, dort, wohin es gehörte. Wäsche in die Schublade unter der Koje. Anzüge auf Bügel im Spind und Schuhe darunter. Arbeitszeug unterm Sofa verstaut, in der einen Lade. Und in der anderen verschwand das Khakizeug - Hosen, kurz und lang, und Hemden mit langen und kurzen Armem. Khakizeug ist wichtig und ist auch das Zeug, welches man in der verdammten Hitze, dort irgendwo in Afrika, Asien oder Südamerika, tragen kann. Tischdecke lag auch schon aufgelegt, macht sich gut. Miras Bild ist aufgehängt. Ach Mira! Bilder können doch Einfluss haben. Bilder wirken aber nur, so der Kontakt mit Herz und Seele noch nicht abgerissen ist. So man noch den Körper spürt, den Atem fühlt, die Worte hört. Bilder, Fotos verblassen so schnell, sieht man nach Wochen gar nicht mehr. Nur Erinnern bleibt! Ja, Erinnern bleibt... und vielleicht auch Hoffnung auf neue Freuden und neues Glück. Und wenn einen die Begierde wieder anspringt und das Erinnern an Bett, Beine und Brüste. An Küsse! Na ja! Nur eine Reise! Eine Reise! Wie lang die Reise wohl wird? Klein ist sie ja, die Kammer, verdammt klein, aber für Meiler genügte sie. Er war doch soweit objektiv, dass er sich sagte, bei einem so alten Schiff kann man nichts Besseres verlangen. Außerdem wollte er hier ja nur eine Reise machen (so hatte man ihm doch gesagt), und die würde er schon rumkriegen, so oder so.
Meiler zog sich einen Kesselanzug an und stieg in den Maschinenraum hinunter. Wie ein gewaltiger, ruhig und behäbig liegender vierkantiger Felsblock nahm der Hauptmotor den größten Platz ein. Seine Kraft, jetzt ruhend und auch schlafend, betrug mehrere Tausend Pferdestärken. Blankblitzende Treppengeländer! Weißlackierte Maschinenraumschotten glänzten im Lack und im Licht von hochkerzigen Lampen. Wohlige Wärme. Dieselölgeruch! Zum Trocknen aufgehängtes Arbeitszeug! Das Wummern und Tumben des Hafendiesels!
Auf knallrot gemalten Podesten stehen übermannshohe Reservekolben und Laufbuchsen. Und es präsentieren sich Maschinenschuhe, aus Leder, aus Plastik, aus Perlon. Ölgetränkt die aus Leder, schiefhackig.

Niedergelatschte und ausgetretene. Bunt gewürfelt. Ehemalige Salonschleicher sind auch dabei und auch Sportschuhe. Hier erleben sie ihren Niedergang nach dem Motto: Der Mohr kann gehen. Schuhe, hier auf der Altersbank, ausrangierte Sonntags- und Gebrauchsschuhe erzählen Geschichten. Schuhe von zwölf Mann Maschinenpersonal! Meiler stieg die Treppe, dreiunddreißig Stufen zählte er, hinunter. Das Wummern und Tumben des Hilfsdiesels wurde stärker und lauter. Den wachhabenden Ingenieursassistenten, auf allen deutschen Schiffen kurz der Assi genannt, fand er besoffen und schlafend vor. Wie ein zusammengeknüllter Scheuerlappen hockte er neben der Schalttafel. Meiler stieß ihn an, rüttelte ihn, all das half nichts. Ganz schön besoffen... und wohl auch übermüdet. Meiler hielt ihm jetzt die Nase zu. Der Assi japste einige Male, holte rasselnd durch den Mund Luft und wurde wach. Verglaste, verständnislose Augen sahen, stierten Meiler an. Dann kam Leben in die Augen, wie sie einen Fremden vor sich sahen. „Nun stehen Sie man erst mal auf, ja?“ Der Assi stand tatsächlich auf, damit hatte Meiler nicht einmal gerechnet. „So ist’s schön, so ist’s recht, Freund der Nacht. Ich bin der neue Dritte hier“, sagte Meiler und hielt dem Assi die Hand hin. „Meiler heiße ich!“ — „Assistent Hansen!“ Ein kurzer Händedruck! Wie er denn auf Wache schlafen könne. „Na“, nuschelte der hoffnungsvolle Nachwuchs der Maschinenlaufbahn, „wenn der Diesel das Bein rausstreckt, dann tut er es auch, wenn ich wach bin, oder nicht?“ Ein stichhaltiges Argument, weiß Gott! Meiler fixierte den Assi, einen bulligen Kerl mit Stiernacken und wirren struppigen Haaren, eine Zeitlang und sagte dann: „Ja, aber es wird doch Gasöl gebunkert, da müssen Sie doch auch aufpassen, nicht wahr?“ „Nee, das macht der wachhabende Ingenieur hier... damit habe ich als Assi nichts zu tun!“ — „Das wäre dann also ich, nicht wahr?“ fragte Meiler. „Das kann wohl sein, wenn Sie der neue Dritte sind!“ Ach so, der wachhabende Ingenieur, ja, das stimmt ja auch wieder. Das bist du doch, Meiler, stimmt, trifft genau zu. Man muss tatsächlich sagen, der Assi hat Recht und versteht seinen Laden. Denn man zu. Ob er sich wohl wieder zum Schlafen hinsetzt? Meiler fragte sich das noch, als er sich wieder treppauf hantelte; fragte sich auch, wieso und warum der Assi 700 DM im Monat verdient, und das bei freier Verpflegung und Unterkunft. Wohl nur für Anwesenheit? Wahrscheinlich. Wohl nur für Essen und Trinken und Schlafen an Bord, für zollfreie Zigaretten und zollfreien Schnaps? Oder der Schiffsbesetzungsordnung wegen? Sollte die Anwesenheit des Ingenieurassistenten Hansen nicht doch ein wenig mit der Arbeit zu tun haben? Möglich wäre das schon. Sicher aber weiß der Assistent Hansen, warum er an Bord ist. Ob der Reeder Balduin Bollage das auch wohl weiß? Doch, der weiß das auch, auf jeden Fall aber wissen es die Inspektoren, die Handlanger und Hilfswilligen des Reeders. Wissen aber wollen sie nicht, dass der Assistent Hansen geschlafen hat, während seiner Wache geschlafen hat. Denn sie sind froh, dass so ein Schiff besetzt ist, so ein alter „Zossen“ (das Wort gebrauchen sie selbst natürlich nicht) laut Schiffsbesatzungsordnung natürlich. Denn nur voll besetzt darf ein Schiff auslaufen, so halten es in der Regel die großen und auch kleinen Reedereien. Bei der Küstenschifffahrt sieht das ganz anders aus. Da sieht es, außer anderen Dingen, bezüglich Schiffsbesetzung verheerend aus. Zum Teil tun sie es auch aus Sparsamkeitsgründen. Und die Inspektoren liegen abends im Bett und beten ein Dankgebet, dass es ihnen gelungen ist, mit Gottes Hilfe den Dampfer X wieder voll zu besetzen. Danken Gott weiter, dass nun der Dampfer X wieder auf See ist. Und draußen, draußen auf See? Was draußen auf See ist, das ist nicht mehr ihre Sache, bis das Schiff zurückkommt, sind wieder einige Monate vergangen. Draußen auf See, die Reibereien und Zerwürfnisse, die müssen sie jetzt selbst lösen. Der Kapitän und seine Mitarbeiter und der Chefingenieur und seine Mitarbeiter. Sie müssen begradigen, ausgleichen, beschwichtigen, klein beigeben. Drohen können sie nicht, mit Entlassung zum Beispiel. Diese Drohungen ziehen nicht, denn Herr Inspektor Seifert würde sagen: „Mein Gott, Herr Kapitän, konnten Sie denn den Mann nicht ein bisschen individuell behandeln?“ Diese Drohungen ziehen sowieso nicht, denn da steht schon der Inspektor Soundso von der Reederei Soundso und buhlt um diesen entlassenen Mann Soundso. Weil er ihn braucht, bitter-bitternötig braucht, damit er ein Schiff besetzen kann, voll besetzen, und damit dieses Schiff auslaufen kann. Das Schiff muss raus, denn das nächste ist schon wieder gemeldet, und auch die Abmusterungsliste, d. h. die Liste, in der verzeichnet ist, wer von der Besatzung abmustern will, von Bord will. Von Ressort Deck gehen 52 Mann, einschließlich II. und III. Offizier. Von Ressort Maschine mustert alles ab, außer Chefingenieur, da gehen der II., der III., der IV., da gehen die Assistenten, die Motorenwärter und Reiniger. Koch, Bäcker, Steward, Messesteward, Messejunge, alle, alle gehen. Sie kommen meistens irgendwie einmal wieder zur Seefahrt zurück. Oftmals ist zuerst das Geld versoffen, verprasst, vertan - und das kann „Hein Seemann“ ganz fix. Oder sie sind von ihren Mädchen satt, und auch die Mädchen sind schnell satt, so der Seemann kein Geld mehr hat. Andere haben mit ihren Eltern Krach gehabt, und es gibt auch welche, die sich mit ihren Ehefrauen erzürnt haben. Sie haben alle irgendwelche Gründe, zur Seefahrt zurückzukehren, genauso, wie sie Gründe hatten, der Seefahrt den Rüchen zu kehren. Sie alle aber werden immer und immer wieder mit lieben Gesichtern, freundlichen Gesichtern aufgenommen. Sie werden gesiezt, und sollten sie auch gerade Schulentlassene sein. Ihnen wird Platz angeboten, wohl auch eine Zigarette, manchmal auch ein Drink. Es soll vorgekommen sein, dass Inspektoren solche „Freundlichkeiten“ aus eigener Tasche bezahlten. Auch so kann man seine Stellung an Land halten, sonst müsste man doch selbst wieder zur See fahren. Jawohl, ein Inspektor muss Einfühlungsvermögen haben, muss etwas von Menschenführung verstehen und muss reden können... auch mit dem so genannten kleinen Mann… und so er das kann, hat er gewonnen. An Bord wird dann gesagt: Der Herr Seifert oder der Herr Wagenfeld, der Herr Wieland, der Herr Onken, das sind feine Kerle, mit denen kann man reden. Jawohl, damit kann man reden und reden, und es wird einem auch mal auf die Schulter gekloppt, so fast kameradschaftlich, das hebt des Seemanns Selbstgefühl und stuft ihn ein in die Klasse der an Land Lebenden. Und Hein Seemann macht noch eine Reise von drei oder vier Monaten, zur Not auch ein bis zwei Jahren - wie es gerade kommt. Ob Hein Seemann das gar nicht merkt, wie er beschissen wird? Was heißt hier beschissen? Er wird ja nicht beschissen, wieso, wer bescheißt ihn denn? Er bekommt seine tarifliche Bezahlung, und wenn er besonders „tüchtig“ ist, wird ihm auch noch Geld über Tarif bezahlt. Nein, so ist der Reeder nun auch nicht, letztlich geht dieses Geld ja von seinem Verdienst ab. Aber heute denkt der Reeder ja sozial. Denkt er sozial?