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Die ethische Kritik am Kapitalismus seitens der christlichen Kirchen entzündet sich bis heute am persönlichen Egoismus, am individuellen Streben nach Reichtum und Erfolg als Triebfeder kapitalistischer Dynamik. Was praktisch in allen Kulturen und Ethiken zurückgedrängt, eingedämmt, ja verurteilt wurde, die Orientierung zuerst und zuvorderst am eigenen, noch dazu ganz direkt materiell-quantitativ definierten Vorteil, wird im Kapitalismus zum Prinzip und zur Forderung an den Einzelnen, gerinnt schließlich in der Vorstellung vom Menschen als homo oeconomicus.
Es dauerte lange und bedurfte diffiziler Argumentationen und mehrerer Anläufe, um diese neue egoistische Ethik in die bislang gültigen religiösen altruistischen Ethiken einzupassen. Die berühmteste und populärste Strategie bestand schließlich darin, den individuellen Egoismus über seine von ihm unbeabsichtigten, aber erhofften, manchmal auch tatsächlich eintretenden positiven Nebenfolgen für alle („Die Flut hebt alle Boote“; „Trickle-down-Effekt“) oder zumindest für einige („Schaffung von Arbeitsplätzen“) in einem utilitaristischen Kalkül ethisch zu rechtfertigen.
Ein anderer argumentativer Weg balancierte das individuelle berufliche Vorteilsstreben im Ganzen des eigenen Handelns mit demonstrativem individuellen Altruismus aus: Der durch den Egoismus erarbeitete materielle Erfolg sollte dann Basis individueller Wohltätigkeit werden. Man weist dann darauf hin, dass nicht wenige Reiche Teile ihres Vermögens wieder gemeinnützig für wohltätige Zwecke ausgeben: Bill Gates, der reichste Mann der Welt, ist das berühmteste Exempel hierfür, angeblich hat er bereits 35 Milliarden Dollar gespendet. Dieser individuellen protestantischen Wohltätigkeitsethik steht auf katholischer Seite eine mehr der Institution als der Person vertrauende Variante gegenüber, etwa der „rheinische Kapitalismus“, der einen stattlichen Teil des Einkommens der Erfolgreichen über Steuern, Sozialabgaben und andere Mechanismen an als „bedürftig“ Definierte umverteilt.
Die radikalste Variante einer Einpassung der Egoismusorientierung des Kapitalismus in die bestehenden altruistischen religiösen Ethiken besteht schließlich dann darin, letztere radikal zu drehen und den beruflichen und finanziellen Erfolg als direkten Ausweis göttlicher Erwählung und Gnade zu definieren und damit zu legitimieren. Dieses Konzept hat sich im Katholizismus nie wirklich durchgesetzt, auch nicht im deutschen lutherischen Protestantismus, wohl aber in gewissen süd- und nordamerikanischen Freikirchen.18 Vielleicht mit Ausnahme dieses radikalen „Wohlstandsevangeliums“ steckt in all diesen Einpassungsversuchen des neuen kapitalistischen Egoismus in die alte altruistische religiöse Ethik aber immer der Stachel der Rechtfertigung: Man spürt den Gegensatz von kapitalistischem Gewinnstreben und christlicher Ethik und erkennt an, dass man sich für das kapitalistische Streben nach Gewinn, Reichtum und Vorteilen rechtfertigen muss.
Bleibt noch eine dritte Kritikschiene, der Verweis auf die manifesten Ungerechtigkeits- und Verelendungseffekte, die der Kapitalismus in seiner Geschichte immer wieder produziert hat und bis heute produziert. Spätestens als die beginnende Industrialisierung Europas im 19. Jahrhundert unübersehbar Massenelend bei gleichzeitigem exorbitantem Reichtumszuwachs einiger weniger schuf, wurde die strukturelle Ungerechtigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise aus christlicher Perspektive verurteilt, ganz besonders durch die katholische Kirche, hier verbunden mit kulturpessimistischer Kritik an der Auflösung alter Ordnungen und der religiösen Säkularisierungstendenz der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaften.
Es entstand eine ganze neue theologische Disziplin, die Christliche Soziallehre, die als ordnungsfixierte, tendenziell anti-liberale Sozialmetaphysik begann und sich nach dem II. Vatikanum zur menschenrechts- und gerechtigkeitsorientierten Sozialethik mit deutlich kapitalismuskritischer Grundtendenz auf regionaler wie globaler Ebene hin entwickelt hat. Es entstanden im europäischen Christentum beider großer Konfessionen zudem soziale Bewegungen, die sich für die Verarmten in konkreter Tat und schließlich auch politischem Engagement einsetzten. Auch forderte man, etwa in der Christdemokratie, die Einhegung des kapitalistischen Egoismus durch rechtliche Vorgaben und Rahmenregelungen seitens des Staates.
Diese drei kirchlichen Kritikstränge am Kapitalismus – an seinen Auflösungseffekten traditioneller Bindungen, seinem inhärenten Egoismusstreben und seinen Verelendungsfolgen – sind einschlägig und sie bleiben höchst relevant. Sie bilden jedoch nicht das zentrale Thema dieses Buches.
5.
Dafür gibt es einen klassischen wissenschaftlichen Grund: Die Ströme dieser Kritik am Kapitalismus fließen mittlerweile wieder breit, ergänzt seit einiger Zeit durch die Analyse seiner lokalen, regionalen und globalen ökologischen Folgen.19
Sie treffen auch reale Phänomene. Doch das ist nicht der Hauptgrund, warum die hier vorgelegten Analysen nicht unmittelbar an die bekannte christliche Kapitalismuskritik anschließen. Dieses Buch leitet vielmehr die Vermutung, dass es mit der herkömmlichen christlichen Kritik am Kapitalismus noch nicht getan ist, und dies vor allem deshalb, weil diese klassischen Kritiklinien zwar gute Argumente und einige empirische Plausibilitäten für sich haben, wahrscheinlich aber einen zentralen Durchbruch des Kapitalismus vernachlässigen.
Zudem schließen theoretische und selbst politische Opposition noch lange nicht faktische Amalgamierung aus. Wenn der kulturell hegemoniale Kapitalismus der neue Souverän unserer Gesellschaft ist, dann schreibt er sich tief auch in die Religionen und Kirchen ein. Er ist dann viel weniger ein Außen, ein Gegenüber, das man als solches analysieren, kritisieren und bekämpfen kann, als es die theoretischen und institutionellen Kontroversen vermuten lassen. Solche Strategien der Distanzierung würden dann eher verdecken, was doch der Fall ist: Der kulturell hegemoniale Kapitalismus operiert in einem selbst. Ein Außen zu ihm ist diskursiv relativ leicht, aber faktisch nur sehr schwer möglich. Gerade die Oppositionsstellung übersieht leicht das Wichtigste: den realen Kapitalismus im Eigenen.
Natürlich liegt es angesichts der beschriebenen Kritiklinien der Kirchen am Kapitalismus nahe, manichäisch zu urteilen und christliche und kapitalistische Existenz („Man kann nicht zugleich Gott dienen und dem Mammon“) strikt zu dichotomisieren. Man verortet sich dann diskursiv jenseits der kapitalistischen Realitäten und Versuchungen, hat in vielem Recht und doch nicht gesehen, was doch offenkundig der Fall ist: Man ist ziemlich unentrinnbar selbst Teil der kapitalistischen Kultur. Da ist dann jene andere Variante der Exterritorialisierung der Probleme christlicher Existenz in kapitalistischer Kultur fast schon ehrlicher, wenn auch in ihren Folgen problematischer, welche diese Differenz schlicht nivelliert, sich also der eigenen kapitalistischen Existenz erfreut und etwa den Kirchen entsprechende Anpassungsstrategien empfiehlt.
Am ehesten noch schließen die vorliegenden Überlegungen an jene christliche Kritiktradition am Kapitalismus an, die dessen kulturelle Konsequenzen problematisiert. Dies soll hier dann freilich jenseits der katholisch lange üblichen, sowohl in einer konservativen wie progressiven Variante existierenden kulturpessimistischen Einfärbung geschehen. Denn die hier vorgelegten Untersuchungen gehen davon aus, dass es aktuell und auf absehbare Zeit kein leicht zu erreichendes Jenseits, keinen „Ort außerhalb“ des Kapitalismus und seiner spezifischen Kultur gibt. Das war noch vor kurzem, etwa vor 1989, anders, als linke, staatskommunistische Alternativmodelle mit freilich sehr begrenzter und zum Schluss rapide sinkender Attraktivität existierten, und es war vor 1933 anders, als rechte, kulturkonservative Konzepte bis hin zu Entwürfen einer „Konservativen Revolution“20 durch die europäischen Faschismen noch nicht desavouiert worden waren.
Wir erleben zwar nicht das „Ende der Geschichte“, wohl aber auf absehbare Zeit die alternativlose Vorherrschaft des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Ernsthaften Widerstand organisieren gegenwärtig nur noch Fundamentalismen in allen Religionen, speziell aber im Islam. Religiöse Fundamentalismen sind Widerstandsnester vor allem gegen die kulturelle Hegemonie des Kapitalismus, und viele religiöse Fundamentalismen verstehen sich auch ausdrücklich so. Ihr Widerstand gilt den Auflösungs- und Emanzipationseffekten alter ständischer Ordnungen, speziell im Bereich der Geschlechterbeziehungen, bisweilen zielen sie aber auch auf die Ungerechtigkeitseffekte und die Egoismusorientierung des Kapitalismus. Dass, so etwa im Islamismus, Selbstmordattentate die bevorzugten Mittel dieses Kampfes sind, zeigt, wie aussichtslos er ist, ganz zu schweigen von der abstoßenden Brutalität und Grausamkeit, mit welcher der religiöse Fundamentalismus ihn führt. Der gesellschaftliche Rückweg in vormoderne religiöse Bindungskulturen führt, nachdem die kapitalistischen Freiheiten gekostet wurden, notwendig in brutalste Unterdrückungsregime.
Es hilft nicht wirklich weiter, die Existenzprobleme des Christentums im Kapitalismus diskursiv zu exterritorialisieren und so zu tun, als ob er die anderen, aber nicht einen selber beträfe. Es wäre nicht nur eine bemerkenswert unsolidarische Strategie gegenüber allen jenen, die vom Kapitalismus affiziert sind; die Herrschaft des Kapitalismus ist vor allem zu alternativlos und zu invasiv, als dass dies möglich wäre. Es führt übrigens auch nicht viel weiter, den Kapitalismus und seine kulturellen Effekte zu totalisieren und zu dämonisieren. Dann wäre es nicht nur nutzlos und jedenfalls folgenlos, sich die Mühe zu machen und ein Buch über diese Konstellation zu schreiben, man müsste auch davon ausgehen, dass die kapitalistische Kultur selbst das noch in sich aufnehmen und für sich nutzen würde.
Nun ist es ohne Zweifel eine der herausragenden Eigenschaften des Kapitalismus, tatsächlich auch seine Gegner für sich einzusetzen: eher wenig subtil, indem er sie kauft, subtiler, indem er deren Widerstandsenergie umleitet und zur eigenen Optimierung und Innovation nutzt. Aber: Schon rein theologisch betrachtet, ist der Kapitalismus immer noch ein irdisch’ Ding, auch wenn er sich zunehmend mit religiöser Aura umgibt und in religiösen Codes formatiert und wenn er auch tatsächlich immer tiefer eindringt ins Konstitutionssystem menschlicher Existenz. Er ist dennoch nicht Gott, mag er sich noch so sehr viele der ehemals von Religionen ausgefüllten Funktionen aneignen. Wenn er aber nicht Gott ist, dann mag er dominant und mächtig sein, allmächtig aber ist er nicht. Die Allmachtsbehauptung und jene Alternativlosigkeit ist schon eine seiner Macht- und Verführungsstrategien, so etwa, wenn er den Menschen als homo oeconomicus des permanent kalkulierenden Eigeninteresses definiert.
Spezifische Befreiungswirkungen des Kapitalismus sollen auch nicht übersehen werden. Was die Kirchen lange verurteilten und später beklagten, die Befreiung aus den vormodernen ständischen Schalen des Geschlechts, der Religion, der Geburt, das stellt sich unter der Perspektive von Menschenrechten und Menschenwürde als Fortschritt dar. Die Lage ist mithin ambivalent. Die Emanzipation der Frauen von männlicher Dominanz etwa, also die Auflösung der Zwangskopplung von Frauenbiographien an Männerbiographien, sie wäre ohne die vom kapitalistischen Modernisierungsprozess getriebene Integration der Frauen in den Arbeits- wie den Konsummarkt ein reichlich wirkungsloses idealistisches Postulat geblieben. Immerhin bildete das Konzept „Natürliche Gleichheit aller Menschen und natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ so etwas wie den „paradoxe(n) Kanon des 19. Jahrhunderts“, der „bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch selbstverständlich bleibt“21. Diese Selbstwidersprüchlichkeit wurde weder vom Menschenrechtspathos der Aufklärung noch gar von der christlichen Nächstenliebe angetastet; es war die kapitalistische Marktintegration ehemals marktferner gesellschaftlicher Gruppen, neben den Frauen gilt dies etwa auch für die Landbevölkerung und ältere Menschen, die deren traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse lockerte. Diese Gruppen waren es freilich auch, die, gerade im katholischen Bereich, am längsten noch kirchliche Partizipation pflegten.22
6.
Wenn man sich als christlicher Theologe weder auf orthodoxkommunistische noch auf konservativ-reaktionäre alternative Gesellschaftsmodelle zurückziehen will, noch das Problem des Kapitalismus durch Exterritorialisierung verdrängt, so als ob man selber von ihm nicht betroffen wäre, aber auch nicht einfach ein Dokument der Kapitulation produzieren möchte, das durch Totalisierung und Dämonisierung des kulturell hegemonialen Kapitalismus vor ihm in die Knie geht, und zudem als praktischer Theologe auch nicht einfach nur die christliche Tradition in irgendeiner Weise verstehbar und plausibel halten will in kapitalistischer Zeit, wie es die Aufgabe der Systematischen Theologie ist und begnadeter Prediger und Predigerinnen: Was ist dann noch möglich?
Es bleibt, was sich eröffnet, wenn man die Frage nach dem Christentum im kulturell hegemonialen Kapitalismus stellt und dabei nicht meint, die Kritik des Kapitalismus wäre schon eine hinreichende Antwort. Es bleibt der schmale Grat zwischen Distanzierung und Affirmation, zwischen Entsolidarisierung und Sich-Einpassen ins kapitalistische Dispositiv, zwischen Kritikgewissheit und gleichzeitiger Übernahme kapitalistischer Prinzipien und Muster.
Sollen diese Gefahren vermieden werden, braucht es einige Analysen. Diese betreffen den kulturell hegemonialen Kapitalismus selbst, seine Strukturen und Wirkungsweisen. Sie betreffen die Formatierung der religiösen Landschaft im Kräftefeld des Kapitalismus und die Reaktionsmuster der wissenschaftlichen Theologie in diesem Kräftefeld. Dann aber kann Ausschau gehalten werden nach Konzepten, mit dem so beschriebenen Problemfeld von Christentum und Kapitalismus umzugehen. Solche Konzepte finden sich, nicht zuletzt in im engeren Sinne nicht-theologischen Diskursen postmoderner Neo-Marxisten. Doch auch das Archiv der christlichen Praktiken und Diskurse wird exemplarisch befragt werden und eröffnet praktischtheologische Überlegungen eines vielleicht weiterführenden Umgangs mit dem kulturell hegemonialen Kapitalismus.
Eine Voraussetzung ist dabei freilich nicht zu umgehen: Die bisherigen Konstellationen des Christentums sind an ein wirkliches Ende gekommen. Die radikale Dekonstruktion des Christentums im kulturell hegemonialen Kapitalismus muss ohne Wenn und Aber realisiert und akzeptiert werden und auch die Hilflosigkeit, die sich daraus ergibt. Weder bloße „optimierte“ Weiterverwaltung, das geläufige Konzept der Kirchen, noch die Resignation vor der Möglichkeit, dass die christliche Tradition auch in der Gegenwart noch eine Differenz setzt, die einen wirklichen Unterschied ausmacht, sind theologisch mögliche Strategien.
Dass die Ausführungen dieses Buches vorwiegend jene Region im Blick haben, in der und für die sie geschrieben sind, mit der aber auch alles begann, wurde bereits im Vorwort angemerkt und auch, dass sie von einem katholischen Theologen geschrieben wurden. Der vergleichende Blick wird freilich bisweilen über Europa und die katholische Kirche hinausgehen. Denn der globale Kapitalismus umstellt, umgibt und durchdringt alles. Aus seiner Perspektive, aus der Perspektive des nun herrschenden Souveräns, sind die internen Differenzierungen seines Vor-Vorgängers relativ nachrangig, wie übrigens auch dessen legitimatorischen Diskurse. Beides trifft nicht ganz zufällig übrigens auch für die meisten Christinnen und Christen23 zu: ein unübersehbarer Beleg, wer regiert.
II.
Die aktuelle Logik der Welt
1.
Wie werden wir regiert? Wie funktioniert die „Regierung der Lebenden“?1 Diese Frage stellte Michel Foucault in seiner Vorlesung am Collège de France im Frühjahr 1980. Es ging dabei nicht um Fragen von Regierungsformen und Regierungstechniken im Sinne institutionalisierter politischer Herrschaft, sondern grundlegender um die Frage, wie das Verhalten von Individuen und Kollektiven in der entwickelten Moderne gesteuert wird.
Bei der Beantwortung dieser Frage nimmt das antike Christentum bei Foucault einen entscheidenden, weil extrem folgenreichen und wirkmächtigen Platz ein. Denn das Christentum brachte, so Foucault, nicht nur eine völlig neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte, sondern auch eine völlig neue Form religiöser Organisation auf der Basis einer ganz eigenen Form der Machtausübung und der Steuerung des Einzelnen. Das Christentum, so Foucault, sei die „einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat. Als solche vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige Individuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt seien, anderen zu dienen, und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher usw., sondern als Pastoren. Dieses Wort bezeichnet jedenfalls eine ganz eigentümliche Form von Macht.“2 Foucault nennt sie denn auch „Pastoralmacht“3.
Die christliche Pastoralmacht hat einige Eigenschaften, die sie von den bis dahin bekannten Machtformen unterscheidet. Sie ist selbstlos im Unterschied zur souveränen Königsmacht, die andere für sich sterben lässt. Sie ist individualisierend im Kontrast zur juridischen Macht, die an Fällen, nicht am Einzelnen interessiert ist, und sie ist totalisierend im Unterschied zur antiken Machtausübung, die sich nur für spezifischen, nicht für umfassenden Gehorsam bis in Intimstes interessiert. Die neue christliche Pastoralmacht bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das gesamte Leben.
Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben einzusetzen für die Schafe, ein Hirte, der jedes einzelne Schaf im Auge haben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem seiner Schafe interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht mindestens so wichtig wie der Altar. Das Wissen des Hirten über jedes seiner Schafe lässt seine Macht groß, invasiv und folgenreich werden, potentiell wirksam in jedem Augenblick. Der Hirte behütet die Einzelnen nicht nur, er kann sie auch – und muss es kraft seines Amtes und Auftrages auch – mittels seines Wissens disziplinieren. Damit hat der Hirte für jedes einzelne Mitglied seiner Herde eine doppelt individualisierte Verantwortung.
Überwachen und Bewachen, Kontrolle und Schutz gehen in der Pastoralmacht eine ganz eigene und unlösbare Symbiose ein. Die Aspekte von Versorgung und Behütung einerseits sowie Disziplinierung und Bewachung andererseits finden zuerst im Bekenntnis bei der Taufe, schließlich in Struktur und Praxis der nach und nach eingeführten individuellen Beichte ihren zentralen Ort. Das Wahrsprechen des eigenen Lebens in Bekenntnis und Beichte ist eine Form des Austausches zwischen Hirt und Herde, die in besonderer Weise von den beiden Polen des Strafens und Belohnens geprägt ist und um einen Diskurs des Geständnisses und des Wissens kreist.
Im Geständnis des Pastorierten zur Wahrheit seines Lebens gegenüber der Gemeinde, später gegenüber dem Pastor, geht es um alles: um das richtige Leben hier und das ewige Heil dort. Es geht buchstäblich um Leben und Tod. „Wir müssen“, so Foucault, „unablässig belegen, was wir sind. Wir müssen uns selbst überwachen, in uns die Wahrheit hervorholen und denjenigen darbieten, die uns beobachten, die uns überwachen, die uns beurteilen und die uns führen, wir müssen den Hirten also die Wahrheit dessen, was wir sind, offenbaren.“4 Das ist die Voraussetzung der Abtötung („Mortifikation“) des alten Ichs, des Ringens mit dem „Anderen in sich“. „Uns mortifizieren und mit dem Anderen ringen“: Mit der „Einführung dieser beiden Komponenten“ durch das Christentum, „die der antiken Kultur völlig fremd“ gewesen seien, bewege sich „das Problem der Subjektivität, das Thema der Subjektivität und [der Verbindung] Subjektivität – Wahrheit [von] der antiken Kultur vollständig weg“5.
Die Pastoralmacht muss möglichst viel, eigentlich alles vom Leben der Pastorierten wissen, der Pastorierte daher tendenziell alles von seinem Leben selbst erkunden, ausleuchten, diskursivieren und gestehen. „Das Christentum gewährleistet das Heil eines jeden, indem es bestätigt, dass er tatsächlich ganz anders geworden ist. Die Beziehung Regierung der Menschen/Manifestation der Wahrheit ist vollkommen neu organisiert. (…) Tatsächlich regiert das Christentum, indem es die Frage der Wahrheit in Bezug auf das Anderswerden eines jeden stellt.“6
Für Foucault schlägt in dieser Selbstthematisierung, im Geständnis der Wahrheit über sich, die Geburtsstunde des modernen Subjekts. Zweierlei macht es aus: die Dopplung von Unterwerfung (sujet) und Selbstbewusstwerdung des Eigenen als starke „Subjektivität“ sowie der dauernde Zwang zu Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung zum Zwecke der Austreibung des „Anderen in sich“, also zur – im Christentum: moralischen – Selbstoptimierung. Die neue Machtform des Pastorats koppelt Wissen, Macht und Subjektivität in einer ganz spezifischen Weise. Das ist es, was Foucault an ihr interessiert, denn diese Kopplung hat nicht nur einen christlichen Ursprung und ihre spezifische Geschichte im Christentum, sondern eine Folgewirksamkeit weit über das verfasste Christentum hinaus.
Denn die Pastoralmacht, vom Christentum und seiner „Kirche“ (besser: seinen „Kirchen“) entwickelt und eingesetzt, wandert, so Foucault, in der Neuzeit nach und nach aus dem Christentum aus, diffundiert in vielfältige andere Institutionen, vor allem zum nun entstehenden modernen Staat. Er lernt vom Christentum, wie man Menschen regiert. Foucault analysiert diese Prozesse in seinem Spätwerk unter dem von ihm geprägten Begriff der Gouvernementalität.
Foucault versteht darunter „dreierlei“: zum einen „die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“7. Dann fällt darunter die „Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat“8. Drittens aber versteht Foucault „unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs …, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘ hat“9.
Der Staat übernimmt nach und nach Überwachen und Bewachen, Sorge und Kontrolle: Die vom Christentum entwickelten Regierungstechniken „säkularisieren“ sich. Die neuzeitliche Gouvernementalität hat mithin, so Foucault, ein „archaische(s) Vorbild“: das „christliche( ) Pastorat( )“.10 Dieses christliche Pastorat verbindet sich im modernen Staat mit anderen, vom Staat selbst entwickelten Regierungstechniken: „Das Pastorat, die neue diplomatisch-militärische Technik und schließlich die Policey sind meines Erachtens die drei großen Elemente gewesen, von denen ausgehend dieses fundamentale Phänomen in der Geschichte des Abendlandes zustande kommen konnte, das die Gouvernementalisierung des Staates gewesen ist.“11 Der Staat selbst ist denn auch „nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“12, so Foucault. Klaus Lemke hält fest: „Foucaults Regierungsanalyse liegt die historische Annahme zugrunde, daß die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen hervorbrachten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauten.“13
Freilich bleibt ein Unterschied. Die „Regierung von Menschen“ fordert im Unterschied zur christlichen „Regierung der Seelen“ eine eigene, neue Reflexion auf ihre Voraussetzungen, Gegenstände und Ziele. Das ist die Geburtsstunde der „politischen Vernunft“ als eines Begründung- und Orientierungskonzepts jenseits theologischer Prinzipien oder auch individueller Interessen eines Fürsten. Die Säkularisierung der Pastoralmacht betrifft also nicht nur ihre Trägerinstitution, sondern auch ihre Ziele und die Diskurse ihrer Legitimation und Konzeption. Die zentralen Begriffe kirchlicher Pastoralmacht – etwa Heil, Glück, Erlösung – werden dabei nicht ausgetauscht, vielmehr grundlegend neu interpretiert.