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Das Ergebnis ist eine Machtformation, die eine in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften bislang unerreichte und ungemein erfolgreiche Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren realisiert, und das innerhalb ein und derselben politischen Struktur. Der moderne abendländische Staat integriert die alte christliche Machttechnik der Pastoralmacht in eine neue, effektive politische Form. Die aktuellen, staatlichen wie kommerziellen Überwachungskonglomerate, so wird man Foucault weiterführen können, treiben diese Doppelbewegung von Individualisierung und Totalisierung auf eine neue Spitze.14 Was ist der Beichtstuhl gegen die NSA oder Facebook und Google? „In gewisser Hinsicht kann man den modernen Staat als eine Individualisierungs-Matrix oder eine neue Form der Pastoralmacht ansehen.“15
Die Dopplung von unterworfenem sujet und selbstbewusstem Subjekt verschiebt sich unter der Dominanz der aktuell herrschenden (neo-)liberalen Konzepte immer mehr in Richtung des Pathos eines „freien“ Subjekts. „Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes, neu erfindendes Projekt sind“, so Byung-Chul Hans an Foucault anknüpfende Analyse. Sie beschreibt, was neuerdings passiert. „Dieser Übergang vom Subjekt zum Projekt wird vom Gefühl der Freiheit begleitet. Nun erweist sich dieses Projekt selbst als eine Zwangsfigur, sogar als effizientere Form der Subjektivierung und Unterwerfung.“16
Denn der aktuell dominierende (Neo-)Liberalismus verwischt die Differenz von Hirten und Schaf, das nun zum „Hirten seiner selbst“ wird oder mindestens werden soll. Das Subjekt wird immer stärker sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig, wird verantwortlich dafür gemacht, seine selbst gesteckten Ziele und darin Zufriedenheit zu erreichen. Inwieweit das Subjekt dennoch weiterhin auch Objekt des Regierens bleibt, obwohl oder gerade weil und indem es sich selbst zum Gegenstand und Mittel der Regierungspraktiken macht, wird noch zu betrachten sein.
2.
Wie werden wir regiert? Einerseits sind da die fürsorgliche Pastoralmacht des Staates, sein Recht und seine Überwachungskapazitäten, seine Fürsorge und seine Sanktionsmacht, andererseits aber wirkt da in und hinter all dem die subtile Steuerungstechnik des Kapitalismus. Der aber steuert nicht primär über Gehorsam, auch nicht zuerst über das Pastoralmachtdoppel von Bewachen und Überwachen, sondern über die Steuerung von Sehnsüchten.
Bislang wurde der Kapitalismusbegriff in diesen Überlegungen mit Nancy als „ökonomische Verwaltung der Welt“ definiert und eingeführt. Als ökonomisches System basiert der Kapitalismus auf drei, eigentlich recht einfachen Prinzipien: „Erstens beruht der Kapitalismus auf individuellen Eigentumsrechten und dezentralen Entscheidungen“, die zu „Resultaten“ führen, „sowohl Gewinnen als auch Verlusten, die Individuen zugeschrieben werden“17. „Zweitens findet im Kapitalismus die Koordinierung der verschiedenen wirtschaftlichen Akteure vor allem über Märkte und Preise, durch Wettbewerb und Zusammenarbeit, über Nachfrage und Angebot, durch Verkauf und Kauf von Waren statt. Das ‚zur Ware werden‘, die Kommodifizierung von Ressourcen, Produkten, Funktionen und Chancen ist zentral.“18 Drittens aber „ist Kapital grundlegend für diese Art des Wirtschaftens. Das impliziert Investition und Reinvestition von Ersparnissen und Erträgen in der Gegenwart im Streben nach Vorteilen in der Zukunft.“19 Den Kapitalismus zeichnet, so Jürgen Kocka in seiner Geschichte des Kapitalismus, individuelles Gewinnstreben, Marktkoordination und Zukunftsorientierung aus.
Das bricht mit einigen bis dorthin ziemlich ungeteilt geltenden Logiken. Der Kapitalismus wechselt von der altruistischen Ansprache an die Menschen zum Appell an seinen Egoismus, er ersetzt die konkrete Benennung und Markierung von Herrschaft (Gott/Obrigkeit/Vater) durch eine anonyme (der „Markt“ und die Wirkungen seiner „unsichtbaren Hand“), und er tauscht die klassische legitimatorische Ursprungsorientierung traditionaler Gesellschaften mit einer gegenwartsbasierten Zukunftsorientierung aus: Man muss sich heute anstrengen, damit es einem morgen besser geht – und dieses Morgen kann schnell kommen. Der Kapitalismus befreit damit vom moralischen Zwang zum Altruismus, von herkömmlichen Herrschaftsträgern und von Traditionsorientierung. Er entwickelt darin eine ungeheure Faszination und eine beispiellose Dynamik.
Lange wollte man gerade diesseits des Marxismus glauben, dass dieser fundamentale Bruch mit bisherigen gesellschaftlichen Prinzipien nicht auf das Selbst des Individuums zurückschlägt, sondern durch spezifische Techniken von ihm ferngehalten werden könne. Die Fiktion konnte aufrechterhalten werden, weil die alten Mächte, die religiösen vor allem, aber auch die alten Ethiken im Kontext des Kapitalismus nicht verschwanden, sondern in spezifischen Diskursen und vielfältigen, etwa kirchlichen, pädagogischen und auch militärischen Dispositiven überlebten, ja, wie etwa die katholische Kirche während der Pianischen Epoche, in reaktiver Verhärtung zumindest intern ganz besonders wirkmächtig wurden.
Nimmt man nun aber in strukturalistischer Tradition an, dass das Subjekt nicht das letztlich unberührte und unschuldige Gegenüber der Macht sei, sondern selbst ein Produkt von Machtprozessen, ja, dass das Konzept „Subjekt“ selbst erst in den modernen (Human-)Wissenschaften entsteht und sich zeitgleich mit dem modernen Kapitalismus durchsetzt, dann stellt sich die Lage gänzlich anders dar. Das Subjekt jedenfalls, so Foucault, ist nicht das ganz Andere zur Macht, ist nicht der Ort der reinen Authentizität und Identität, sondern eben etwas, das in spezifischen Machtstrukturen auftaucht und überhaupt erst wird.
Für Foucault sind die Idee eines autonomen Subjekts oder das Ideal einer Gemeinschaft von autonomen Subjekten illusionär. Die Konstituierung von Subjektivität ist Produkt eines schöpferischen Aktes, der je nach Machtkonstellationen aus jeweils anderen Quellen schöpft. Foucault spricht von einer „Serie unterschiedlicher Subjektivitäten“20, die wir sind, die wir jeweils in unseren Machtrelationen aktuell realisieren und deren Summe uns ausmacht. „Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals an ein Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch‘ wäre.“21
In Foucaults Tradition bestimmt Ulrich Bröckling „Subjektivierung als einen Formungsprozess, bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung in eins gehen“22. Zwar gilt: „Die Genealogie der Subjektivierung lässt die Unterscheidung von Innen und Außen nicht fallen“. Aber „statt Höhlenforschung oder Innenarchitektur der Seele zu betreiben, fragt sie danach, welche Wissensdispositive und Verfahren Menschen veranlassen konnten und können, ihr Selbstverständnis in dieser Weise topografisch zu bestimmen. Sie untersucht, wie ein Innen sich konstituiert, ohne es immer schon vorauszusetzen.“ Denn das „Innere ist nichts anderes als ein auf sich selbst zurückgewendetes Äußeres – und umgekehrt“23. Das Subjekt ist in dieser Perspektive eine „Entität, die sich performativ erzeugt, deren Performanzen jedoch eingebunden sind in Ordnungen des Wissens, in Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse“24. Das Subjekt gibt es „im Gerundivum – nicht vorfindbar, sondern hervorzubringend“25.
Die konkreten „Ordnungen des Wissens“, die realen „Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse“ sind nun aber in unseren Breiten und Gegenden derart vom Kapitalismus geprägt, dass das Selbst, so Bröckling, als „unternehmerisches Selbst“ beschreiben werden kann und muss. Das unternehmerische Selbst steht dabei „für ein Bündel aus Deutungsschemata, mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen“. Es besteht „aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, an denen sie ihr Tun und Lassen orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen“26.
Das unternehmerische Selbst ist ein Subjektivierungsprogramm, dessen „Anrufungen“, so Bröckling, nichts weniger als „totalitär“ sind. „Nichts soll dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung, deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte.“ Bröckling weist dabei auf ein Spezifikum des Kapitalismus hin, das einen der Garanten seines Erfolgs darstellt: „Selbst der Einspruch, die Verweigerung, die Regelverletzung lassen sich in Programme gießen, die Wettbewerbsvorteile versprechen.“27
Spezifische Schlüsselkonzepte sind notwendig, um das Ziel der permanenten Selbstverbesserung zu erreichen. „Kreativität“ und „Innovation“ gehören dazu, „das Erkennen und Ergreifen von Gewinnchancen und die schöpferische Zerstörung, die Platz macht für Neues“28. Hinzu kommen „Empowerment“ als Vertrauen in die eigene Kraft und eine Qualitätsorientierung, die als „Kundenorientierung“ agiert, denn das „unternehmerische Selbst“ muss „sein Humankapital so … vermarkten, dass es Abnehmer für die feilgebotenen Fähigkeiten und Produkte findet. (…) Qualität steht für Kundenorientierung“29.
Das aber bedeutet: Das Leben wird zum Projekt, genauer: zu einer unabgeschlossenen und unabschließbaren Folge von Projekten. Diese höchst tiefgreifende und folgenreiche „Sequenzialisierung der Arbeit (und letztlich des gesamten Lebens) in zeitlich befristete Vorhaben“, diese fundamentale Projektorientierung verlangt „dem unternehmerischen Selbst ein Höchstmaß an Flexibilität“ ab, inklusive eines spezifischen „Modus der Kooperation“ in „Projektteams“30. Das reicht weit und schreibt sich tief ein.
In Projekten zu denken beendet traditionelles, rollengesteuertes Handeln, gibt dem Handeln einen befristeten Zeithorizont und stellt es unter den Anspruch der (eigenen) Planung und Gestaltung. Die klassischen Projekt-Phasen „Projektdefinition“, „Projektplanung“, „Projektdurchführung“ und „Projektabschluss“ sind nichts anderes als die konzeptionelle Operationalisierung der typisch modernen Annahme, dass die Zukunft das Ergebnis des eigenen Handelns sein wird. Andererseits markieren Projekte aber auch die ausgesprochen anstrengende Verpflichtung, die Zukunft zum Problem zu machen, in ihr ein Ziel zu definieren und das eigene Handeln an den Schritten der Zielerreichung auszurichten.
Das Denken in Projekten setzt voraus, das eigene Wollen als entscheidend für Zukünftiges zu bestimmen. Genau das hatte etwa vormodernes religiöses Denken nicht getan. Denn das Zukünftige wurde in ihm bestenfalls als die modifizierte Fortsetzung des immer schon Gültigen und auch ewig Bleibenden gedacht, war Verlängerung einer ursprungslegitimierten Vergangenheit, nicht Gegenstand zukunftsorientierten strategischen Handelns des Menschen. Die Zukunft stand unter der Herrschaft der Vergangenheit und ihres Ursprungs in Gott, zu dem sie zurückkehren würde. Die klassische Moderne kehrte dies um: Sie stellte die Gegenwart unter die Herrschaft der Zukunft, einer utopischen, besseren Zukunft. Sie wurde modellierbar und gestaltbar, wurde zur Aufgabe, zum Entwurf – zum Projekt. Alles wird zum Projekt: Es ist die Form, „die Wirklichkeit zu organisieren – ein Rationalitätsschema, ein Bündel von Technologien, schließlich ein Modus des Verhältnisses zu sich selbst“31. Das aber bedeutet: „Die Form ‚Projekt‘ ist ein historisches Apriori unseres Selbstverständnisses, eine Folie, auf die wir uns – im Guten wie im Schlechten – selbst begreifen und modellieren.“32
Doch um die diversen Projekte des privaten (Partnerschaft, Kind, Urlaub) wie des beruflichen Lebens zu meistern, um also das Leben als Projekt zu gestalten, braucht es spezifische Schlüsselqualifikationen, zuallererst Kreativität und Empowerment. Während Genialität im romantischen Ideal noch wenigen vorbehalten war, ist Kreativität eine „Jedermannsressource“33: „Das Attribut ‚kreativ‘ adelt noch die banalsten Tätigkeiten.“34 Vor allem aber: Kreativität ist marktbezogen. „Kreativ ist das Neue, das sich durchsetzt.“35 Empowerment wiederum ist „gleichermaßen Ziel, Mittel, Prozess und Ergebnis persönlicher wie sozialer Veränderungen“36. Ziel ist es, durch Handeln die Selbstbestimmung und Mündigkeit der Adressaten sowie des Handelnden zu vergrößern. „Es gibt in dieser Perspektive keine Schwächen, sondern nur in die Latenz abgedrängte Stärken.“37 Das „positive Denken“ diverser Coaches vermarktet solches Empowerment zu Höchstpreisen.
Und es gibt immer etwas zu verbessern. Es geht darum, in einem „panoptische(n) System wechselseitiger Beobachtung und Beurteilung“ eine „Dynamik permanenter Selbstoptimierung in Gang“38 zu setzen. Qualität kann stets verbessert werden: die Geburtsstunde des „Total Quality Management“ und des „360°-Feedback“. Bereits getroffene Entscheidungen müssen konsequent überdacht und wenn nötig revidiert werden. Das „unternehmerische Selbst“ hält, wie jeder Unternehmer, stets Ausschau nach neuen Möglichkeiten, eine zentrale Eigenschaft des Unternehmers ist die Findigkeit. Da jede Handlung eine Auswahl zwischen mehr oder minder attraktiven Optionen darstellt, ist das Nutzen von Gewinnchancen aber natürlich immer spekulativ und mit Risiken verbunden, da sich solches Kalkül auf eine Zukunft bezieht, die zwar abgeschätzt, aber nicht restlos erkannt werden kann.
Das unternehmerische Selbst kann sich mithin nur sehr bedingt auf vorliegende Pläne stützen, es muss sich bewähren gerade in dem, was noch nicht erprobt ist. Wie jeder Unternehmer trägt es enorme Risiken. „Nur weil viele den Ausgang ungewisser Handlungen oder Ereignisse falsch einschätzen, können jene, die dabei eine glücklichere Hand haben, Gewinne realisieren.“39 Auch der Konsum muss dabei übrigens als unternehmerische Tätigkeit verstanden werden, als Einsatz der knappen Ressourcen Zeit und Geld mit dem Ziel optimaler Befriedigung. Der Mensch steht unter ständigem Entscheidungszwang. Genau das aber macht ihn regierbar: „Wenn der Einzelne seinen Nutzen zu maximieren sucht, kann man seine Handlungen steuern, indem man deren Kosten senkt oder steigert und so das Kalkül verändert.“40
Die dunkle Seite des unternehmerischen Selbst wird deutlich: „die Unabschließbarkeit der Optimierungszwänge, die unerbittliche Auslese des Wettbewerbs, die nicht zu bannende Angst vor dem Scheitern“41. Wenn dann gar „Marktmechanismen gegenstrebige Impulse entweder absorbieren oder marginalisieren und das unternehmerische Selbst“ schließlich gar „mit der Norm konfrontieren, nicht konformistisch zu sein“42, wird es nur scheinbar tragikomisch, es treibt die Optimierungsspirale nur eine Windung höher. Depressive Erschöpfung, Ironisierung und passive Resistenz stellen nach Bröckling gängige Reaktionen darauf dar.
Das unternehmerische Selbst kann die Ansprüche, gerade jene, die es an sich selbst stellt, nie einlösen, es lebt im ständigen Vergleich mit anderen und in der Gefahr, ausgesondert zu werden. „Das Gefühl der Unzulänglichkeit … ist chronisch, die einschlägigen Therapien versprechen nicht Heilung, sondern Krisenabfederung durch gute Wartung.“43 „Im pharmakologischen Befindlichkeitstuning“ schließlich „hält der Selbstoptimierungsimperativ noch jene in seinem Bann, die an ihm verzweifeln.“44 Wer ironisch auf die Situation reagiert, enttarnt ihre Absurdität, spitzt die Widersprüchlichkeiten zu „und zieht so ins Lächerliche, was er nicht ändern kann“45. Aber selbst der Müßiggang ist mittlerweile „marktgängig geworden“46: Auch für die Abkehr von Erfolg und Reichtum gibt es Ratgeber.
3.
Die Regierungstechnik des kulturell hegemonial gewordenen Kapitalismus appelliert nun aber nicht nur an das unternehmerische Kalkül im Selbst, so sehr es dem Individuum auch vorspiegelt, auf dieser Ebene souverän zu agieren, und seinen sujet-Status verschleiert. Die kapitalistische Regierungstechnik arbeitet noch auf einer verborgeneren und schwerer zu erhellenden Ebene: jener der Gefühle und Sehnsüchte der Regierten. Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint also nicht nur, dass sich die Logik und die Mechanismen des Marktes in immer mehr gesellschaftliche Teilsysteme ausbreiten und deren Eigenlogiken unterwandern und überformen, was natürlich offenkundig der Fall ist und wofür die Universität mit ihrem akademischen Kapitalismus,47 die öffentliche Verwaltung mit dem new public management48 und der Spitzensport paradigmatisch stehen.
Es geht vielmehr auch darum, „wie die Marktperspektive unsere Gefühlswelt beeinflusst“49. Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hatte bereits 1983 mit The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling als eine der ersten eine empirisch basierte Studie dazu vorgelegt. Ihr Fazit: „Wir übertragen die Regeln und Muster unserer Gefühlsarbeit aus dem Leben auf dem Markt auf unsere nicht-marktförmigen Lebensbereiche. Wir leben unser nicht-marktförmiges Leben so, als ob wir einkaufen, Waren erwerben oder wegwerfen.“50
Russell Hochschild unterschied dabei noch „gespielte Gefühle“ von „realen Gefühlen“, das „wahre Selbst“ vom „falschen Selbst“51. Sighard Neckel weist in seiner Einleitung zur deutschen Neuauflage ebenso vornehm wie zu Recht darauf hin, dass diese Unterscheidung einige „kompliziertere Probleme“ aufwerfe. Denn auch „authentische Emotionen“ seien „soziale Konstrukte“, die von „gesellschaftlich erlernten Bewertungsmustern und Ausdrucksregeln schon mitgeprägt worden sind.“ Emotionen werden, so Neckel, „daher von feeling rules nicht erst nachträglich überformt“, sondern diese feeling rules „gehen bereits in die Konstitution unserer Gefühlswelt ein“52. Der „emotionale Kapitalismus unserer Zeit“, so Neckel, „steht ganz im Zeichen einer Optimierung der Gefühle zugunsten persönlicher Durchsetzungskraft und des Erfolgs im Marktwettbewerb. Aus der emotionalen Selbstfindung, die einst die postmaterialistische Phase der kulturellen Liberalisierung propagierte, wurde das emotionale Selbstmanagement, dem nichts wichtiger ist, als mentale Ressourcen für die Erlangung sozialer Vorteile zu nutzen.“53
Eva Illouz hat in ihren Studien zum „emotionalen Kapitalismus“54 diese Forschungslinie aufgegriffen und weitergetrieben. „Der emotionale Kapitalismus“, so dann Illouz, „ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen.“55 Diese gleichstufige Wechselseitigkeit zu betonen ist wichtig. Denn sie bringt jene „breite Bewegung (hervor), die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben … der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft“56. Liebe in Zeiten des Kapitalismus ist eben Liebe in Zeiten des Kapitalismus – und nicht einfach Liebe.
Was für die Liebe, dieses scheinbar Innerste des spätmodernen Menschen, in Zeiten des Kapitalismus gilt, das gilt nun aber auch für die Religion und den Glauben in Zeiten des Kapitalismus: Sie werden von jenem geprägt, zutiefst und zuinnerst. Denn die Priorität, die Macht, die Dominanz liegen beim Kapitalismus. „Der heutige Hyperkapitalismus löst die menschliche Existenz gänzlich in ein Netz kommerzieller Beziehungen auf. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, der sich der kommerziellen Verwertung entzöge. Der Hyperkapitalismus macht alle menschlichen Beziehungen zu kommerziellen Beziehungen.“57
Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ist souverän, nicht zuerst, weil er sich, wie der Staat, des äußeren Machtapparates bemächtigt, sondern weil er sich der Menschen auf einer viel wirksameren Ebene bemächtigt, jener, die sie zu dem macht, was sie sind: Er bemächtigt sich ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen, ihrer Ängste und Nöte. Er formt bereits Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute und dann befriedigt er sie, er gibt all dem Sprachen, Bilder und – Erfüllung: und das konkret und fassbar.
Der kulturell hegemoniale Kapitalismus arbeitet im Übrigen exakt dort, wohin sich auch die Kirchen gerettet hatten, als der moderne Staat ihnen als Souverän die äußere Macht nach und nach nahm: auf jener Sehnsuchts- und Gefühlsebene, die man christlich Frömmigkeit nennt. Der Protestantismus schrieb sie tief in die Person und ihr Gewissen ein, der Katholizismus in seine nachreformatorisch medial immer subtiler aufgerüsteten Räume und Sozialformen, über die er dann deren Bewohner und Bewohnerinnen regierte.
Der Kapitalismus freilich ist so klug, sich weder ans protestantische Gewissen noch an kirchenanaloge Sozialformen zu heften, so sehr er bekanntlich mit den Formen, Diskursen, Techniken und Medien der Religionen spielt und diese nutzt. Aber festlegen lässt er sich nicht, dazu ist er zu anti-essentialistisch. Die Strategien der Wunschproduktion, Sehnsuchtserfüllung und Kontingenzbewältigung des kulturell hegemonialen Kapitalismus sind effizienter, flexibler, anschaulicher, adressatenorientierter, liquider als jene der Kirchen. Sie sind auch nicht traditionsbehindert.
Der Kapitalismus ist, wie sein zentrales Medium, das Geld, die anti-essentialistische Formation überhaupt. Schon Georg Simmel hatte in seiner Philosophie des Geldes 1900 zur Rolle des Geldes im Kapitalismus festgehalten: „Indem sein Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so hoch, daß es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewußtsein an ihm definitiv haltmacht. Die innere Polarität im Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zu einem Sinnbild, in dem die großen Regulative des praktischen Lebens gleichsam erstarrt sind.“58 Für Simmel folgen aus diesem anti-essentialistischen Radikalrelativismus Entgrenzung, Quantifizierung, Entsubstantialisierung und Rationalisierung.
Auf der Basis dieser Überlegungen kann der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus präzisiert werden. Der Begriff kulturelle Hegemonie wurde bekanntlich von Antonio Gramsci geprägt. Bei ihm besitzt dieser Begriff in marxistischer Tradition eine stark normative, anti-kapitalistische Stoßrichtung. Er bezeichnet bei Gramsci jenen vorherrschenden gesellschaftlichen Konsens, den die kapitalistische Klasse über diverse zivilgesellschaftliche Institutionen wie das Bildungssystem, die Künste, die Kirchen, die Medien, auch das Erziehungssystem herstellt, um seine Herrschaft als legitime, ja als einzig wirklich mögliche zu plausibilisieren. Ernest Laclau und Chantal Mouffe kritisieren daran zu Recht spezifische „essentialistische Elemente“59, so das Festhalten am Klassenbegriff als Identifikation der hegemonialen (und anti-hegemonialen) Akteure und auch die damit unmittelbar verbundene Annahme, dass „jede Gesellschaftsformation sich um ein einfaches hegemoniales Zentrum herum strukturiert“60. Ihre poststrukturalistische Überarbeitung und Radikalisierung von Gramscis Hegemonietheorie lösen diesen Essentialismus auf und bestehen darauf, dass „das Soziale … ein unendlicher Raum ist, der auf kein ihm zugrundeliegendes einheitliches Prinzip reduziert werden kann“61. Laclau/Mouffe bestehen zudem darauf, dass eine „hegemoniale Formation … auch das (umfasst), was sich ihr entgegensetzt, insofern die entgegengesetzte Kraft das System der grundlegenden Artikulation dieser Formation als das von ihr Negierte akzeptiert, der Ort der Negation jedoch durch die inneren Parameter der Formation selbst definiert ist“62.
Auf der Basis dieses anti-essentialistischen Hegemonie-Begriffs soll der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus über das bisher Gesagte hinaus entwickelt werden. Er meint nicht die kulturellen Strategien, mit denen der Kapitalismus seine Alternativlosigkeit in der Zivilgesellschaft platziert, er meint auch nicht, dass nur eine, nämlich die kapitalistische Lebens- und Denkweise existiert, und schon gar nicht, dass diese im Klassenkampf überwunden werden kann, insofern Klassen die exklusiven Träger kultureller Hegemonialität und ihrer Überwindung wären.
Der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus meint vielmehr jenen gesellschaftlichen Zustand, in dem kapitalistische Prinzipien wie die Simmelsche Entgrenzung, Quantifizierung, Entsubstantialisierung und Rationalisierung, anders gesagt: Wettbewerb, Verdinglichung,63 Kommodifizierung, Monetarisierung, extrinsische Motivationsanreize, dichte Rückkopplungsnetze und, damit verbunden, jenes berühmte Verdampfen „alles Ständische(n) und Stehende(n)“64, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, wo all diese ungeheuer erfolgreichen Dynamisierungsprozesse, die ja auch Befreiungsprozesse aus den ständischen Schalen des Geschlechts, der Nation, der Religion, der Geburtsfamilie sind, wo all diese große Versprechen des Formalen und Effektiven und Dynamischen, die der Kapitalismus gibt, sozial so dominant geworden sind, dass sie sich tief ins Selbst einschreiben, dass sie dieses Selbst wenn nicht umfassend determinieren, so doch dominieren und seine grundlegende Ordnung bestimmen. Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint nicht, zumindest nicht zuerst und nicht nur, wie bei Gramsci, die Hegemonie der kapitalistischen Klasse und ihrer Interessen in den Feldern der Kultur, sondern die Konsequenzen dieser Art von Hegemonie für die Subjektbildungsprozesse des Einzelnen.