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„Die chassidische Legende ist geradezu gesättigt mit kultischem und auch mythischem Gehalt. In ihm liegt ihre eigentümliche Kraft, wie auch beim Urchristentum die Frage nach seiner Kraft die wesentliche ist. Der Zaddik, der aus der Menge der Chassidim herausragt, ist der besondere Liebling des Himmels; durch ihn schenkt Gott der Welt seine Gnadengaben. Ihn zu lieben und zu hören ist die Pflicht jedes Chassid. Der Zaddik ist also der Mittler zwischen Gott und den Menschen.“23
Alles kommt an auf die Verbindung zwischen Zaddik und Gemeinde, wie sie sich kundtut im gemeinsamen Beten. Und wenn auch der Zaddik in einem abgesonderten Raum betet, kann er doch mit seiner Gemeinde verbunden sein. Solche Verbindung geht über die einzelnen Örtlichkeiten hinaus: Es schließt sich ein Ring. In einer jüdischen Schilderung24 heißt es: ‚An Sabbaten und Feiertagen nehmen die Chassidim die ‚heilige Mahlzeit‘ am Tische des Zaddik ein. Während des Essens herrscht Schweigen. Zuweilen ‚sagt‘ der Zaddik ‚Tora‘; d. h. er erklärt Bibelstellen, die dem Tage entsprechen. Der Zaddik kostet wenig von jedem Gange. Die ‚Scherajim‘ (Reste) werden unter die Gäste verteilt. Den Tisch des Zaddik nennen die Chassidim ‚Altar Gottes‘, das Mahl ‚Opfer Gottes‘. Indem der Zaddik von den Speisen genießt, ist er der Hohepriester, der Gott das Opfer darbringt. Nach dem Mahle versammeln sich die Chassidim und verweilen in Gesprächen über ihren Zaddik. Sie wägen jedes Wort, deuten jeden Wink, jeden Augenaufschlag, den sie bemerkten, und suchen den ganzen geheimnisvollen Inhalt ihrer Beobachtungen zu ergründen. Während dieser Aussprache sitzen alle dicht beieinander; einer spricht, die andern lauschen. Jeder Unterschied zwischen Groß und Klein, Arm und Reich ist ausgelöscht. Das gesprochene Wort ist dabei von Seiten des Zaddik gar nicht das Wesentliche; dieser achtet gar nicht auf die schöne, die absichtsvolle Menschenrede. Vielmehr wird im chassidischen Schrifttum immer wieder verlangt, man solle ‚von allen Gliedern des Zaddiks lernen.‘ Man achte auf den Eindruck, den der Zaddik auf seinen Kreis macht. Er ist eine kultische Persönlichkeit schon zu seinen Lebzeiten.25
Schmidt verwies dazu auf R. Otto, der vom „numionse(n) Eindruck Jesu auf seine Schüler“26 und davon sprach, Jesus sei entsprechend analogen Phänomenen der religiösen Gruppenbildung „… ein Heros bei Lebzeit …“27 gewesen. Schmidt fasst zusammen: „Wie der Zaddik seiner Gemeinde, seinen Jüngern, so ist auch Jesus zu seinen Lebzeiten, aber auch als der Erhöhte, der pneumatische, das πνεῦμα seiner Gemeinde, seinen Jüngern gegenwärtig gewesen.“28
Konsequenterweise spricht Schmidt von Jesus als dem Kultstifter des Urchristentums.29 Diese bestechende These, die die dem Kultus eigene Mittlerschaft zum Himmel auf den irdischen Jesus zurückführen will, hat in der Forschung kaum Anklang gefunden: Sie ist zu strukturalistisch und zu sehr allgemein religionsphänomenologisch gehalten – um den romantischen Beigeschmack nicht zu betonen – und arbeitet weder religions- noch traditionsgeschichtlich. Der Sprung von der formgeschichtlichen Gattungsbestimmung ‚Kultlegende‘ in das dafür vorausgesetzte Milieu der Tradenten bleibt ein Postulat, das durch die Analogisierung mit dem Chasidismus des 18. Jahrhunderts keine ausreichende Basis erhält.
Dennoch enthält Schmidts Arbeit Hinweise, wie religions- und traditionsgeschichtlich weitergearbeitet werden könnte: Die kultischen Denkformen mit ihren mythischen, über die innerweltliche Geschichte hinausweisenden himmlischen Komponenten sind ja offenbar noch im späten Chasidismus in Analogie zum kultischen Ritual des Jerusalemer Tempels verstanden worden. Dies führt zur Frage nach einer möglichen traditionsgeschichtlichen Rückbindung der chasidischen Kultrezeption an die frühjüdische Zeit. Die Qumran-Texte haben grundsätzlich auf das Recht dieser Fragestellung hingewiesen: Die Ideologie des Kultes ist schon in vor-neutestamentlicher Zeit umgesetzt worden in eine nicht mehr am Tempel hängende, pneumatische Gemeindelehre.
Damit entsteht die den Ansatz von Schmidt traditionsgeschichtlich tragende Frage, ob Jesu Eschatologie und seine Beziehung zum Himmel in eine Tradition der Rezeption und Umsetzung des schöpfungsordnenden Anspruchs des Jerusalemer Kultes gehören.
In Fortsetzung seiner Untersuchung zum traditionsgeschichtlichen Zusammenhang neutestamentlicher und frühkirchlicher Kultmotive mit der Tempelideologie des Judentums hat J. Jeremias in seinem Beitrag ‚Jesus als Weltvollender‘, 1930, diese kultgeschichtlichen Zusammenhänge auf die Frage nach den theologischen Leitmotiven Jesu zugespitzt.30 Jeremias kontrastiert, ganz im Sinne der ‚Kultgeschichtler‘, den abendländischen Rationalismus und seinen auf Entwicklung bedachten Geschichtsbegriff mit dem zyklischen des Alten Orients und der Bibel: Geschichte beruhe auf dem Wissen um eine Schöpfungsordnung und den zyklischen Versuchen, durch kultische Vermittlung zu ihr zurückzukommen.31 Jesu Auftreten stehe so unter dem Anspruch, die eschatologische Rückkehr zum Urstand der reinen, himmlisch-irdisch verbundenen, einen Schöpfung einzuleiten.32
Jeremias orientiert sich zunächst am Rahmengerüst des triplex munus, wobei er eine Steigerung mit Kulmination im königlichen Amt sieht.33 Auffällig und interessant ist freilich, dass Jeremias den Anspruch Jesu auf Weltvollendung stark als quasi hochpriesterliches Wirken zeichnet. Er nehme die vielfältigen, kultisch tradierten Kosmos-Symbole auf; er beziehe sein Auftreten auf das Bild vom Mantel des Hohenpriesters mitsamt seiner kosmischen Symbolik,34 er sei Baumeister des himmlisch-eschatologischen Heiligtums;35 er beziehe auf sich die Kultmotive, die kosmische Ernährung und Versorgung anzeigen;36 er dränge, stärker als dies je der Tempel konnte, Sünde, Tod und Teufel zurück;37 ja sein Vollmachtsanspruch münde in seinem jenseits allen Davidismus liegenden Menschensohn-Amt. Als dieser sei er Herr der himmlischen, eschatologischen Kultordnung.38
Der Anspruch auf Weltvollendung, die Jesus einleitet, äußert sich nach Jeremias also in einer Übernahme orientalischer und jüdischer Kultsymbolik. Der königliche, auf die ganze Schöpfung zielende Herrschaftsanspruch Jesu ziehe deshalb eine hochpriesterliche Vollmacht auf sich, weil er die kultisch verwaltete und erschlossene Schöpfungsordnung, am Tempel Jerusalems vorbei, in den eschatologischen Urzustand der gereinigten Einheit von Himmel und Erde bringen wolle.
Jeremias verzichtet auf ein Auszeichnen kultgeschichtlicher Zusammenhänge, sondern verbleibt stärker auf der motivgeschichtlichen Ebene. Zusammenhänge bestehen vor allem mit dem unten zu referierenden Buch Lohmeyers über ‚Kultus und Evangelium‘. Die bei Jeremias und Lohmeyer – durch eine Betonung der gemeinsamen, Jesus und Urgemeinde, Bibel und Alten Orient verbindenden Motive – mögliche Betrachtung auch der Jesus-Tradition im einheitlich – kultgeschichtlichen Sinne hat in der weiteren Forschungsgeschichte dennoch immer wieder dem mit der Kultgeschichte in ihrer hellenistischen Anfangsphase verbundenen Ausweichen auf einen doppelten Ansatz Platz machen müssen. Von diesem Trend sind auch spätere Arbeiten geprägt, die die Kultfrömmigkeit der Qumran-Gemeinde in Hinsicht auf das Neue Testament untersuchen.
Beckers forschungsgeschichtlich bedeutsame Arbeit zur Soteriologie der Qumrantexte39 nennt als religionsgeschichtlich mit dem NT und der Jesus-Tradition vergleichbare Struktur das hebräische Sphärendenken, in dem sich Gottesherrschaft und Satansherrschaft gegenüberstünden und aus dem heraus es dem qumranitischen Kultdenken möglich sei, zu einer Qualifizierung der Gegenwart unter dem himmlischen und eschatologischen Aspekt der Gottesherrschaft zu kommen. Diese religionsgeschichtlich in den Grundzügen wohl unumstrittenen Strukturen versucht Becker auch beim irdischen Jesus als wirksam zu erweisen. Er nimmt also, wenn man so will, den Impetus der ‚einheitlichen Linie‘ der Kultgeschichtler auf, kultisch getragenes religiöses Weltempfinden bei Jesus wiederzufinden. Es ist ja überhaupt deutlich, dass mit der Entdeckung der Qumrantexte die Position der ‚einheitlichen‘ kultgeschichtlichen Betrachtung gestärkt wurde, da auch hier sich priesterlich-prophetisches Reform-Charisma einzelner Lehrer mit einem neuen Kultverständnis der Gemeinde verband.
Wie sieht nun aber das Jesusbild aus, das Becker auf dieser Grundlage entwirft? „War Michael in M das entscheidende Haupt, das für Gott den Kampf ausfocht, so ist es bei den Synoptikern keine Gestalt aus der damaligen Vorstellung der Himmelswelt, sondern ein konkreter Mensch. Genauer gesagt: Jesus selbst weiß sich als der an Stelle Gottes Kämpfende.“40 Jesus habe einen einmaligen Auftrag, eine einzigartige Vollmacht, sein Tun und Reden seien einmalig; seine christologische Vollmacht sei in ihrer Einmaligkeit irgendwie latent vorhanden, noch nicht in das religionsgeschichtlich Vergleichbare hinein expliziert.41 „Jesus versteht sich als Gottes eschatologisches Wort und als sein entscheidendes letztes Handeln für die Menschen.“42 Letztlich ist es ein „unausweisbare(r) Vollmachtsanspruch“ und eine „unmittelbare Autorität“43; in all dem geschieht das „Sichereignen der Gottesherrschaft hier auf Erden …“44
Es ist deutlich, dass Becker hier jeden religionsgeschichtlichen Vergleich abbricht: Ist das Kultdenken der Qumranleute auf himmlische Fürsprecher angewiesen, so steht im Neuen Testament an deren Stelle ein ‚konkreter Mensch‘; zu dieser ungeschichtlichen, modernen Kategorie des ‚konkreten Menschen‘, der offenbar außerhalb eines himmlische ‚Merkwürdigkeiten‘ implizierenden Weltbildes in schlichter Gottunmittelbarkeit steht, treten dogmatische, die zudem durch eine bestimmte Kerygmatheologie geprägt sind. Brachte bei Weiss und anderen Jesu Sittlichkeit die kultische Verehrung durch die Gemeinde zustande, so ist es hier das unausweisbare Wort Gottes, das seinen Träger zum Urheber des Zur-Herrschaft-Kommens Gottes macht. ‚Konkreter Mensch‘ und ‚unausweisbarer Vollmachtsanspruch‘ hängen am ebenso richtigen wie fatalen hermeneutischen Grundsatz, wonach gilt: ‚individuum est ineffabile‘. Zum Erweis des Rechtes dieses Satzes muss aber unseres Erachtens der religionsgeschichtliche Vergleich soweit wie möglich getrieben werden; diesen aber von vornherein abzubrechen, bleibt Folgerung aus einem unbewiesenen Postulat. Becker unterstellt sich einem höchst zeitbedingten dogmatischen Programm, das er gegen seine eigene religionsgeschichtliche Arbeit ausspielt.
Immerhin liefert Becker mit seiner Analyse des ‚Sphärendenkens‘, der Wirksamkeit damaliger ‚Vorstellungen‘ von der himmlischen Welt und der Möglichkeit, kultisch an ihr zu partizipieren, einen weiteren Hinweis auf das Selbstverständnis Jesu. Im Rahmen dieses Denkens wird Jesu christologisches Selbstverständnis beschreibbar: Es muss versucht werden, Jesu Verhältnis zur himmlischen Welt, seine Möglichkeit, in dieses Sphärendenken einzugreifen, traditions- und motivgeschichtlich zu bestimmen.
Auch H.-W. Kuhn45 kommt zu einer ähnlichen ‚Verbindung‘ von eschatologisch-räumlichem Denken in der Qumrangemeinde und in der Jesustradition. Das Sphärendenken, welches das eschatologische Heil in Qumran und in der Jesustradition aus seiner ausschließlichen Zukunftsbezogenheit löse, stelle grundsätzlich eine gemeinsame religionsgeschichtliche Voraussetzung dar, realisiere sich aber in Qumran aufgrund der Tempelsymbolik,46 bei Jesus jedoch in seinem Anspruch, „dass in seinem Wirken Gottes Herrsein aufgerichtet wird.“47 Im Gegensatz zum Tempeldenken der Qumrangemeinde habe Jesus „… die Gegenwart der Gottesherrschaft ‚nur in seiner Person und in seinem Wirken gesehen‘“.48 Erst die christliche Gemeinde nähere sich in ihrem präsentisch-eschatologischen Selbstverständnis der Tempelsymbolik. Sie sei von der Qumrangemeinde aber dadurch geschieden – „… etwas völlig anderes …“49 dass „sich schon letzte Geschichte im Christusgeschehen ereignet hat …“50 Auch bei Kuhn führen philosophische Voraussetzungen (‚Person Jesu‘) und die unvermittelte Rede vom ‚Christusgeschehen als eschatologisches Ereignis‘ dazu, dass letztlich die Urgemeinde und Jesus traditionsgeschichtlich isoliert dastehen.
Es kommen wohl in der Tat in den zuletzt genannten Arbeiten von Becker und Kuhn zwei unterschiedliche Ansätze zusammen, einmal die kultgeschichtliche Betrachtung mit ihrer Tendenz zur Christologisierung und Mythisierung der Jesustradition und andererseits die religionsgeschichtlich sich bindungslos gebende Kerygma-Theologie, die nun dazu eingesetzt wird, den von dieser kultgeschichtlichen Methode nicht gewagten Sprung zur Jesustradition zu vollziehen.
Ein weiterer Beitrag zur Frage nach dem historischen Jesus von einem Ansatz aus, der mit der Fragestellung der ‚Kultgeschichtler‘ Berührung hat, stammt von U.B. Müller.51 Das hebräischem Denken52 entstammende, sphärenhafte Weltbild, wonach Gottes- und Satansherrschaft nach dem Menschen greifen und die Gegenwart bestimmen wollen, sei bei Jesus zur Ansage des Hereinreichens der eschatologischen Heilssphäre Gottes in seine irdische Wirksamkeit verdichtet.53 Müller wendet sich gegen die sonst übliche Kategorie der Unmittelbarkeit und Unableitbarkeit der Vollmacht Jesu,54 widerspricht hier also u. a. Becker und Kuhn, deren Qumran-Analysen er sich ansonsten angeschlossen hat.55 Vielmehr sei vor diesem Hintergrund des sphärischen Weltbildes auch die Frage nach Jesu Vollmacht und ihrer Begründung grundsätzlich dem religionsgeschichtlichen Vergleich offen, der auf die Bedeutung der Kategorie ‚Vision‘ hindeutet.
Ähnlich K.L. Schmidt56 verweist Müller auf Lk 10,18, den Visionsbericht, welcher Jesus Kenntnis himmlischer Zusammenhänge zuweist. Die Vision enthält die Voraussetzungen für seine irdische Mission.57 Die Vision Lk 10,18 sei dabei noch ganz auf Gott bezogen, was für ihre Ursprünglichkeit spreche: „Gottes Kampf gegen den Satan im Himmel und die irdische Auseinandersetzung Jesu mit den Dämonen entsprechen einander.“58 Dabei sei Lk 10,18 von anderen apokalyptischen Visionen unterschieden, da diese ein zukünftiges Ereignis als himmlisch bereits eingetreten verkündigten59 und damit – so meint es wohl Müller – sich doch rein an der Zukunft und dem apokalyptischen Grundempfinden der heilsleeren Gegenwart festmachten.60 Für Lk 10,18 und die βασιλεία-Verkündigung Jesu liege eine gegenwärtig vorgegebene himmlische Veränderung offen, die sich himmlisch und irdisch schon jetzt realisiere.61
Wenn wir Müller recht verstehen, versucht er zwischen einer apokalyptischen Kategorie der visionären Prolepse, welche in der Zukunft festgemacht ist, und einer solchen zu unterscheiden, die sich nur in Qumran62 und bei Jesus finde, nämlich der Kategorie der Entsprechung und Korrelation, welche im himmlischen Geschehen des Handelns Gottes gegen Satan festgemacht sei. Daraus ergebe sich ein Gefälle von der Vision, die himmlisches Geschehen enthülle, zur Botschaft des Visionärs, die sein irdisches Auftreten in Korrelation zum Geschauten bringe. Da religionsgeschichtlich nicht die apokalyptischen Visionen als Vergleich heranzuziehen seien – zumal diese kaum noch auf echtem Erleben beruhten63 –, blieben nur die klassischen biblischen Propheten, bei denen ebenso die prophetische Schau aufdecke, „was in der Sphäre Gottes als Willenswirklichkeit gesetzt ist und sich zum Durchbruch in die Welt rüstet.“64 „Es scheint eine Eigenart prophetischer Offenbarungsgewissheit zu sein, dass der Prophet gerade aufgrund seiner Vision zur entscheidenden Grundüberzeugung gelangen kann, dass nämlich Gott Endgültiges schon in der Gegenwart bewirken will, ja bewirkt hat.“65 Die Elemente Vision und Botschaft, ‚Schau des Wissens‘ und Engelsgemeinschaft der Gemeinde, allgemein eine Verbindung von Sehen und Verkündigen, lasse sich für das gesamte nachbiblische Judentum nachweisen;66 jedoch sieht Müller die hauptsächliche Entsprechung bei den alttestamentlichen Propheten.67 Der Vergleich der Eschatologie Jesu mit der des Täufers mache zudem deutlich, dass dieser das Ende zwar als nahe erwarte, da die Vorbereitungen dafür im Himmel abgeschlossen sind, während Jesus mit der Vision des Satanssturzes ein himmlisches Ereignis, welches eschatologische Bedeutung habe, als abgeschlossen schaue.68 Während der Täufer anscheinend noch dem apokalyptischen Empfinden der heilsleeren Gegenwart unterstehe, habe Jesus mit seiner neuen Eschatologie einen ihm eigenen Vorsprung.69
Wie schon erwähnt, habe die Vision Lk 10,18 bei allem ursprünglich nicht christologische Bedeutung, da der Schauende in den himmlischen Vorgang nicht hineingenommen werde. Die Vision sei eine Wissensmitteilung, die eine neue Botschaft ermögliche, jedoch nicht Berufungsvision.70 Die Vision sei im Gegensatz zu der der Apokalyptiker keine Legitimationsform, vielmehr bleibe Jesus wie die klassischen Propheten der auf Glauben hin Redende.71 Auch die ethische Botschaft Jesu bedeute eine gegen jede Tradition72 sich richtende Radikalität und hänge an der ihm geschenkten Erkenntnis von der Entmachtung der Satansherrschaft durch Gott. „Die Herrschaft des Satan bestand für Jesus nicht nur in der Macht über die von Dämonen besessenen Kranken, so dass die Durchsetzung der Herrschaft Gottes sich gerade in den Dämonenaustreibungen manifestierte (Lk 11,20). Seine Bedeutung zeigte sich auch in seiner Möglichkeit, zur Sünde zu verführen. Deshalb ist die Bitte Lk 11,4 notwendig. Doch ist die Macht des Satans eine inzwischen angegriffene Macht (Lk 10,18), so dass die Zuversicht des Jüngers berechtigt ist, im Kontakt mit dem Sünder und dem Unreinen der Sünde und Unreinheit als metaphysischer Größe nicht zu erliegen. Von daher wird das Gebot der Feindesliebe zur realen Möglichkeit.“73
Die nicht zuletzt in diesem Zitat aufleuchtende Perspektive eines einheitlichen Verständnisses von Jesu Botschaft und Handeln auf dem Fundament visionär vermittelten, himmlischen Wissens, der Versuch, Jesu ἐξουσία religionsgeschichtlich verständlicher zu machen, lassen es lohnend erscheinen, Müllers entscheidende Voraussetzungen zu beleuchten, um so seine Fragestellung weiter aufnehmen zu können.
Das in Anschluss an Becker und Kuhn bemühte ‚Sphärendenken‘74 umschreibt an sich kein spezifisch hebräisches Weltempfinden; dies hat die religionssoziologisch arbeitende Studie von Aune75 deutlich gemacht. Das Sphären-Denken entsteht überall dort, wo ein Menschenbild akzeptiert ist, nach dem der Mensch ein durch Außenbedrohung angegriffenes, von Mächten umkämpftes Wesen ist. Vornehmlich steht er zwischen den Sphären des ‚Reinen‘ und ‚Unreinen‘, des ‚Profanen‘ und des ‚Heiligen‘, des schädigenden Zaubers und des schützenden, apotropäischen Kultes. Damit scheint gegeben, dass das Sphärendenken immer schon in einem spezifischen, traditionsgeschichtlich besonderen Deuteverbund steht. Dieser ist im Judentum z. Zt. Jesu durch die kultische Weltdeutung des Tempels bestimmt: Mit Sünde, Tod und Teufel greifen nach dem Menschen negative, anti-kultische und auf Störung der ursprünglichen Schöpfungsordnung ausgerichtete Kräfte. Der Kult tritt ihnen durch Entsühnung und Symbolisierung der Schöpfungsordnung entgegen. Der Kultus hängt mit der himmlischen Schöpfungshälfte zusammen,76 so dass auch die Bekämpfung des Satans als kultischer Vorgang zugleich ein himmlischer ist. Der von Müller untersuchte Zusammenhang von himmlischem Satanssturz und irdischem Exorzismus wird also schwerlich durch den Rückgriff auf die prophetische Struktur von Vision und Botschaft hinreichend geklärt. Vielmehr ist bei der Beobachtung einzusetzen, dass der Inhalt der Botschaft Jesu – Gottesherrschaft als Befreiung von Sünde, Tod und Teufel – Thema des Kultus und seiner mehr oder weniger zum Bereich der πρᾶξις gehörenden Derivate ist.
Kultus weist aber nie auf eine nur theologische Form der Bindung des Satans, sofern zum Ritus ausführende Menschen gehören. Auch die sich vom Kultus lösende Form der ‚Bindung‘, die exorzistische ἐξουσία des Charismatikers, ist nicht als in rein theologischer Begründung ruhende zu denken. Wie zwischen göttlichem und menschlichem Handeln im Kultus eine unauflösliche Korrelation besteht, so ist das Handeln des charismatischen Exorzisten auf die Bereitschaft des Himmels zur ermöglichenden Mitwirkung angewiesen. Im Tun des Exorzisten wirkt der Finger Gottes, er ist so mit dem Geist verbunden, dass Lästerung seines Geistes Lästerung Gottes ist. Hier müssen also christologisch kräftigere Verbindungen eingesetzt werden als nur die von der Vision zur Botschaft. Der Exorzist ist nicht nur Wortträger, sondern λόγος und πρᾶξις sind aufeinander bezogen. Lk 10,18 ist kaum ein rein theologischer Spruch, da gerade die die Visionen Schauenden in eine unmittelbare Beziehung zum Geschauten gebracht werden. Das rationalistische Modell, dass das, was dem Propheten wichtig ist, seinen Ursprung bei Gott hat,77 stellt zwar seinerseits eine ungeschützte Eintragung dar, gibt aber dem Empfinden Ausdruck, dass Vision nicht bloß Mitteilung über fremdes Geschehen ist. Müllers Betonung des Entsprechungsgedankens muss also christologisch stärker aufgenommen werden.
Besonders fragwürdig ist die Unterscheidung zwischen apokalyptischer Vision, die von der heilsleeren Gegenwart ausgehe und der Vision Jesu, die auf Eschatologisches als in die Gegenwart Hineinragendes schon zurückblicke. Der Rückgriff auf Himmlisches bringt immer eine eigene zeitliche Qualität des Himmlischen mit der irdischen Geschichte zusammen. Schöpfung und Eschaton sind zunächst im Himmlischen beginnende Prozesse, solche, in denen das Abrücken der irdischen Geschichte vom himmlischen Gang gleichsam zurückgenommen ist. Zugang zum Himmlischen betont also Zugang zum Geheimnis von Schöpfung und Erlösung. Der Himmel ist aber nicht das Reich der Ideen, sondern auch der Himmel hat seine Geschichte, deren Prae darin besteht, dass hier Anfang und Ende überschaubar sind, weil der Himmel an den Bereich der Transzendenz angrenzt. Der Ausdruck der ‚Willenswirklichkeit‘ für das Prae der himmlischen Prozesse vor ihrer irdischen Realisierung ist zu subjektiv, da es um eine gegliederte Wirklichkeit geht, in der Himmel und Erde in ihrer kosmischen Entsprechung auch geschichtlich aufeinander bezogen sind. Auch Gott ist darin wohl nicht isoliertes Individuum, das einsam seinen Willen durchsetzt, sondern Haupt einer himmlischen Kultgemeinde, zu der die irdische Gemeinde hinzustoßen kann. Die Unterscheidung zwischen ‚Nahe-Bevorstehen‘ ‚Schon Da-Sein‘, ‚heilsleere Gegenwart‘ ‚Anbruch der Erlösung in der Gegenwart‘ dürfte kaum durchzuführen sein. Der Täufer kündet ja auch nicht nur den Zorn als vor der Tür stehend, die Vorbereitungen zum Gericht als himmlisch abgeschlossen an, sondern er hat, als Beerber des Kultbetriebs, den apotropäischen Kultakt der Taufe bereit, der Vergebung der Sünden und Reue bewirkt, also eine Heilsgabe in die Gegenwart stellt.
Zu fragen wäre allenfalls, ob es einen begründbaren Unterschied gibt zwischen der Vision des Exorzisten und der des ‚bloßen‘ Offenbarungsmittlers: Bei diesem läge das Schwergewicht in der legitimierenden Verbindung von Vision und Botschaft, während bei jenem das besondere exorzistische Wissen, oder gar die Gewinnung einer himmlischen Gestalt, mit dem Himmlischen zu tun hätte. Vermutlich ist auch diese Unterscheidung zu eng gefasst: Die ‚theoretische‘ Mystik des Judentums hat neben sich immer die ‚praktische‘ Theurgie gehabt. Jedenfalls ist Müllers alleiniger Rückgriff auf die klassischen Propheten einseitig.
Religionsgeschichtlich weist Müller darauf hin, dass Jesu Kontakt zur himmlischen Welt Grundlage zu sein scheint für seine präsentisch-eschatologische Verkündigung und sein antidämonisches Wirken.
Im Hinblick auf die bei Müller nur schwach angedeuteten christologischen Konsequenzen ist nochmals auf Lohmeyers Programmschrift „Kultus und Evangelium“ einzugehen. Wie die βασιλεία-Verkündigung Jesu ganz den kultischen Gedanken der Theokratie in seiner eschatologischen Vollendung sehe, so stehe Jesus als Kämpfer gegen Sünde, Tod und Teufel in der Aufgabe, die im Kultus betont der Priester, zumal der Hohepriester, wahrnehme.78 Christologisch liege die eschatologische Überbietung des kultischen Kampfes gegen Sünde, Tod und Teufel deshalb in Jesu ἐξουσία, weil in ihm der himmlische ‚Menschensohn‘ wirke.79 „Er ist darum der eschatologische Herr dieses Tempels, ist es als König und Hoherpriester zugleich, wie ihn schon die Vision des Daniel in solcher doppelten Würde zeigt.“80 Jesus als himmlischer Menschensohn ist daher nach Lohmeyer eine Art himmlischer Hoherpriester: Im Tun des Menschensohnes auf Erden liege die himmlische Sphäre eingebunden.81 Der Menschensohn als ‚Heiliger Gottes‘ und eschatologischer Hoherpriester sei Neustifter der eschatologischen Heiligkeit und der eschatologischen Gemeinde Gottes.82 Als solcher wirke er auch gegen die Dämonen, die mit Krankheit und Sünde behaften.83 „Er befreit nicht nur von Sünde und Unreinheit, sondern bannt seinem Anspruch nach Krankheit und Not, Bedrückung und Tod, die dem Charakter der Heiligkeit widerstreben, aus dem ihm anvertrauten Volke und Lande.“84 In Jesu Wirksamkeit verbinde sich so das irdische Tun des Exorzisten mit dem himmlischen des Menschensohns. Jesu Beziehung zum eschatologischen Menschensohn gebe seinem Wirken eine zweifache Bedeutung: eine geschichtlich-irdische und eine himmlisch-eschatologische.85 „Um aber den Kultus zu vernichten und zu überwinden, bedarf es eines anderen Standortes und einer anderen als der überkommenen Heiligkeit. Der Ort, auf dem der Vollender steht, der zugleich der Zerstörer ist, liegt außerhalb der Geschichte …“86 So sei die Menschensohn-Christologie der Ansatz der Jesustradition, Jesus mit dem Prozess der Himmel und Erde umfassenden eschatologischen Vollendung zu verbinden. Dabei ist bei Lohmeyer nicht ganz klar, wie und ob der irdische Jesus sich auf den himmlischen Menschensohn bezogen habe. Letztlich steht hinter dieser als Thesenreihe klaren Position auch beim späten Lohmeyer noch das liberale Jesusbild des von den Tora-Regeln zur sittlichen Freiheit entbundenen Handelns der Liebe.87







